Zwei Meilensteine in der Wagner-Interpretation

Das his­to­risch in­for­mier­te „Ring“-Projekt der Dresd­ner Mu­sik­fest­spie­le un­ter Kent Na­ga­no mit Con­cer­to Köln nimmt auf­re­gen­de Kon­tu­ren an und auch Matthew Wilds küh­ne „Tannhäuser“-Vergegenwärtigung in Frank­furt ist ein mu­sik­thea­tra­li­scher Glücksfall.

Hier rei­ßen sich die Stu­den­tin­nen noch um ein Au­to­gramm ih­res Schrift­stel­ler-Idols, we­nig spä­ter wer­den sie sei­nen Best­sel­ler zer­rei­ßen. –Foto: © Bar­ba­ra Aumüller

„Der Sän­ger­krieg auf der Wart­burg als Au­ßen­sei­ter-Dra­ma im Ame­ri­ka zu Be­ginn der 60er-Jah­re: Re­gis­seur Matthew Wild zeigt ei­nen schwu­len Künst­ler, der an sei­ner Nei­gung zu­grun­de geht, was kei­nes­wegs aus­schließ­lich die Schuld der Ge­sell­schaft ist. Das ist span­nend, zeit­ge­mäß und mu­si­ka­lisch elek­tri­sie­rend.“ Auf Pe­ter Jung­bluts „Tannhäuser“-Kritik mit dem Ti­tel „Schwu­le Küs­se im Hör­saal“ auf BR-Klas­sik gab es prompt Re­ak­tio­nen. Es lohnt sich, auch die­se Kom­men­ta­re zu le­sen, um ge­wis­ser­ma­ßen schwarz auf weiß zu er­fah­ren, in was für eine Bla­se sich ein Teil der Wag­ne­ria­ner und Opern­gän­ger selbst ein­ge­sperrt und ver­bar­ri­ka­diert hat.

Sze­ne mit (von rechts) Ds­hamil­ja Kai­ser als Ve­nus), Mar­co Jentzsch als Tann­häu­ser und Hen­ri Klein als jun­ger Stu­dent – Foto: © Bar­ba­ra Aumüller

Aus­führ­li­che Be­schrei­bun­gen der Frank­fur­ter Neu­in­sze­nie­rung ha­ben un­ter an­de­rem Joa­chim Lan­ge auf con­cer­ti, Wolf Die­ter Pe­ter in der Neu­en Mu­sik­zei­tung, Chris­tia­ne Fran­ke auf klas​sik​.com, Mi­cha­el De­mel bei Opern­freund und Mar­kus Grün­dig bei ful­tur­freak vor­ge­legt. Ei­ni­ge Be­den­ken (die ich nicht tei­le) äu­ßern dies­mal Ju­dith von Stern­burg in der Frank­fur­ter Rund­schau und Jan Brach­mann in der F.A.Z., dem ich zu­min­dest in ei­nem Punkt auch wi­der­spre­chen muss: Die schwu­len Kli­schees, die er an­pran­gert, sind zeit­ty­pisch für die 60er Jah­re, also schlüs­sig für das vom Re­gie­team ge­wähl­te Set­ting. Hier mein Ein­druck von der drit­ten Auf­füh­rung am 5. Mai:

Wer mit of­fe­nen Au­gen und Oh­ren in die vom Kon­zept her küh­ne, bril­lant durch­dach­te und um­ge­setz­te Neu­in­sze­nie­rung geht, wird ei­nen un­ge­mein le­ben­di­gen und er­grei­fen­den Wag­ner­abend er­le­ben, der kei­ne Wün­sche of­fen lässt. Auch mu­si­ka­lisch nicht. Denn der fein­hö­ri­ge Di­ri­gent Tho­mas Gug­geis und die ohne Pre­mie­ren­fie­ber ganz vor­züg­li­chen So­lis­ten al­len vor­an Mar­co Jentzsch in der Ti­tel­rol­le, Chris­ti­na Nils­son als Eli­sa­beth und An­dre­as Bau­er Ka­na­bas als Land­graf voll­füh­ren eine Wag­ner-Ver­ge­gen­wär­ti­gung, die brand­ak­tu­ell ist und zu Her­zen geht. Er­freu­lich, dass zu den aus­ver­kauf­ten Vor­stel­lun­gen der ers­ten Se­rie am 16. Mai noch eine zu­sätz­li­che Auf­füh­rung rea­li­siert wer­den konn­te, für die es noch Kar­ten gibt. Nichts wie hin! Nach To­bi­as Krat­zers ful­mi­nan­ter Bay­reu­ther In­sze­nie­rung ist das der nächs­te Mei­len­stein in der „Tannhäuser“-Interpretation.

Sze­ne aus dem 2. Akt „Wal­kü­re“ von links mit Sa­rah We­ge­ner (Sieg­lin­de), Ma­xi­mi­li­an Schmitt (Sieg­mund), Di­ri­gent Kent Na­ga­no und Åsa Jä­ger (Brünn­hil­de) – Foto: Dresd­ner Musikfestspiele/​Oliver Killig

2018 ha­ben Con­cer­to Köln, des­sen Eh­ren­di­ri­gent Kent Na­ga­no so­wie ein­schlä­gi­ge Wis­sen­schaft­ler ein his­to­risch in­for­mier­tes „Ring“-Projekt ins Le­ben ge­ru­fen, das seit 2023 ge­mein­sam mit den Dresd­ner Mu­sik­fest­spie­len durch­ge­führt und maß­geb­lich mit Bun­des­mit­teln ge­för­dert wird. Zu­nächst un­ter dem zu­tref­fen­den Na­men „Wag­ner-Les­ar­ten“, jetzt lei­der nichts­sa­gend um­be­nannt in „The Wag­ner Cy­cles“ läuft die­se halb­kon­zer­tan­te Rea­li­sie­rung der Te­tra­lo­gie in his­to­ri­scher Auf­füh­rungs­pra­xis bis 2026 und bie­tet in Zu­sam­men­ar­beit mit na­tio­na­len und in­ter­na­tio­na­len Part­ner­insti­tu­tio­nen auch ein um­fang­rei­ches Be­gleit­pro­gramm mit Vor­trä­gen, Work­shops und Sym­po­si­en. Im Juni 2023 star­te­te die au­ßer­ge­wöhn­li­che Auf­füh­rungs­werk­statt mit „Rheingold“-Vorstellungen in Dres­den, ge­folgt von Sta­tio­nen in Köln, Ra­vel­lo und Lu­zern. Der Auf­takt zur „Wal­kü­re“ fand im März 2024 in Prag statt, da­nach gas­tier­te die Pro­duk­ti­on in Ams­ter­dam, Köln, Ham­burg und Dres­den; die­se Tour­nee en­det am 21. Au­gust im Lu­zer­ner KKL.

Si­mon Bai­ley als Wo­tan – Foto: Dresd­ner Musikfestspiele/​Oliver Killig

Das Or­ches­ter un­ter Kent Na­ga­no zu­sam­men­ge­setzt aus Con­cer­to Köln und dem durch Ivor Bol­ton eben­falls auf his­to­risch-in­for­mier­te Spiel­pra­xis ge­schul­ten Dresd­ner Fest­spiel­or­ches­ter und die So­lis­ten ver­su­chen un­ter An­lei­tung pra­xis­ori­en­tier­ter Wis­sen­schaft­ler, die Te­tra­lo­gie so auf­zu­füh­ren, wie sie zu Wag­ners Leb­zei­ten ge­klun­gen ha­ben könn­te. Die Streich­in­stru­men­te ha­ben Darm­sai­ten (mit Aus­nah­me der G-Sai­te), die Blas­in­stru­men­te sind viel­fach re­kon­stru­ier­te Nach­bau­ten, das Or­ches­ter ist auf für heu­ti­ge Oh­ren tie­fe 435 Hertz ge­stimmt. Was den un­mit­tel­ba­ren Vor­teil hat, dass das zwar manch­mal rau und schräg, aber ins­ge­samt deut­lich we­ni­ger laut klingt. Die Ge­sangs­so­lis­ten kön­nen des­halb weit­aus dif­fe­ren­zier­ter ge­stal­ten, wo­bei sie eben­falls nur spar­sam mit dem Vi­bra­to um­ge­hen, da­für aber Wag­ners Text be­wuss­ter aus­spre­chen und de­kla­mie­ren sol­len mit ver­blüf­fen­dem Er­geb­nis. Über die Pre­mie­re in Prag be­rich­te­te Mi­cha­el Ernst auf Mu­sik in Dres­den, die Auf­füh­rung in Ams­ter­dam be­such­te Jo­as­hua Ba­ro­ne für die New York Times, das Gast­spiel in Köln be­schreibt in sei­nem Opern­blog auf WDR3 Ri­chard Lor­ber und das „Heim­spiel“ am 9. Mai im Dresd­ner Kul­tur­pa­last Ro­bert Hu­gill auf Pla­net Hu­gill; letz­te­re Auf­füh­rung durf­te auch ich er­le­ben und bin nach wie vor fast rest­los begeistert:

Über ein paar De­tails lie­ße sich zwar beck­mes­sern – wie über die akus­tisch im Saal ver­streu­ten und nicht von der Büh­ne her ein­ge­setz­ten Sprach­roh­re ei­ni­ger Wal­kü­ren, de­ren Wir­kung ver­pufft, oder die un­nö­ti­ge sze­ni­sche An­wei­sung, die die auch in ih­rer Mi­mik und Kör­per­spra­che groß­ar­ti­ge Brünn­hil­de von Åsa Jä­ger am Schluss zu Bo­den zwingt. Und na­tür­lich ist eine se­mikon­zer­tan­te Auf­füh­rung kein Er­satz für eine In­sze­nie­rung, von de­ren his­to­ri­scher Re­kon­struk­ti­on aus gu­ten Grün­den Ab­stand ge­nom­men wur­de. Aber letzt­lich möch­te ich nach die­ser „Wal­kü­re“ nur ei­nen Ein­wand for­mu­lie­ren, der kon­kret das Pro­jekt­ma­nage­ment be­trifft: Die auf­fal­lend wech­seln­de So­lis­ten­be­set­zung lässt ver­mu­ten, dass nicht alle Sän­ge­rin­nen und Sän­ger in der glei­chen In­ten­si­tät in ihre in der Tat un­ge­wöhn­li­che Auf­ga­be ein­ge­wie­sen wer­den konn­ten. Das ist in­so­fern scha­de, als das Er­geb­nis noch über­zeu­gen­der als oh­ne­hin hät­te aus­fal­len kön­nen. Der ent­schei­den­de Un­ter­schied bei den So­lis­ten ist, dass hier alle Stim­men – die klei­ne­ren eben­so wie die ho­hen und grö­ße­ren Frau­en­stim­men – in An­leh­nung an die ge­spro­che­ne Rede eine stu­pen­de Wort­ver­ständ­lich­keit er­rei­chen, die auch in Be­zug auf das je­wei­li­ge Tem­po Wag­ners Vor­stel­lun­gen von ei­ner „ver­ständ­li­chen Ge­sangs­aus­spra­che“ deut­lich nä­her­kommt als das, was seit lan­gem in der Wag­ner­welt prak­ti­ziert wird. Sprich: So ra­di­kal an­ders und rich­ti­ger für mich sei­ner­zeit die sze­ni­sche Bild­spra­che in Pa­tri­ce Ché­re­aus „Ring“-Inszenierung zum Zen­ten­ari­um der Bay­reu­ther Fest­spie­le 1976 er­schien, so ra­di­kal an­ders und rich­ti­ger hört sich für mich jetzt die­se his­to­risch in­for­mier­te Les­art an. Das ist tat­säch­lich kei­ne Oper mehr, son­dern in der von Kent Na­ga­no und al­len Aus­füh­ren­den mu­tig an­ge­gan­ge­nen mu­si­ka­li­schen In­ter­pre­ta­ti­on end­lich „Mu­sik­dra­ma“, wie es di­rek­ter, le­ben­di­ger und be­zwin­gen­der kaum sein kann. Bleibt noch mein Her­zens­wunsch an Ka­tha­ri­na Wag­ner: Dass eine sol­che Um­set­zung auch in Wag­ners ei­ge­nem Thea­ter statt­fin­den möge, idea­ler­wei­se gleich 2026, zum 150-jäh­ri­gen Be­stehen der Bay­reu­ther Festspiele.

Di­ri­gent Kent Na­ga­no mit To­bi­as Keh­rer (Hun­ding) und Ma­xi­mi­li­an Schmitt (Sieg­mund) –Foto: Dresd­ner Musikfestspiele/​Oliver Killig

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