Unser Stipendiat Konrad Buschhüter verknüpft in diesem Beitrag seinen Bayreuth-Aufenthalt unter anderem mit dem, wonach er für seine Dissertation forscht.

Ich möchte mit diesem Bericht dem Richard-Wagner-Verband Bamberg meinen tiefen Dank aussprechen: für die Gelegenheit, unvergessliche Tage in Bayreuth und im Festspielhaus zu verbringen, für Unterbringung, Verpflegung, den wunderschönen Ausflug ins Grüne, für ein ausgezeichnetes Stipendiatenkonzert, für das herzliche Willkommen auf dem Gelände des Festspielhauses, die kenntnisreichen Führungen und fundierten Einführungen in die Oper. All dies war nicht nur Programm, sondern auch ein soziales Medium im besten Sinne: eine Bühne der Begegnung. Ich habe neue Freundinnen und Freunde aus über 30 Nationen kennengelernt (die genaue Zahl entzog sich irgendwann meinem Gedächtnis, es waren jedenfalls viele). Bei Tischtennis, Bratwurst und Bayreuther Hell – ein Dreiklang der fränkischen Festkultur – kann das Soziale florieren, besonders so wie am ersten Abend. Schon dort herrschte eine entspannte, fast familiäre Atmosphäre; akustisch hingegen ein Turm zu Babel: Italienisch neben Japanisch, Englisch neben Serbisch, und über allem ein gemeinsames, erwartungsvolles Raunen: die universelle Sprache der Vorfreude.
Kommen wir zum musikalisch-inhaltlichen Teil. Meine Verbindung zu Wagner war im Musikwissenschaftsstudium eher lose. In Musikgeschichte begegnete er uns als Revolutionär der romantischen Musik, als Begründer eines neuen harmonischen Denkens, Stichwort: Tristan-Akkord, als jemand, der Oper nicht nur reformierte, sondern überstieg. Wir lernten darüber, wie er Kunst und Religion verschränkt, über seine berühmte, später zerrissene Freundschaft mit Nietzsche, über seine Festspielidee als utopischen Raum totaler Kunst. Dieser „kategorial-begriffliche Apparat“, den ich mir damals aneignete, schlummerte seit meinem Studienabschluss wie ein intellektuelles Potenzial im Hintergrund und harrte darauf, endlich Anschauung, Erfahrung und Atmosphäre zu bekommen.
Dann kam Bayreuth im August 2025. Die einmalige Gelegenheit, drei Aufführungen im Festspielhaus zu sehen, war wie eine lebendige Fußnote zu meinem Studium. Plötzlich wurden all die Appelle meiner Professoren wieder präsent: „Wenn Sie irgendwann einmal bei den Festspielen sind, dann …“ – Ja, dann öffnet sich eine Liste von Dingen, die man sonst nur aus der Fachliteratur kennt:
- Sehen Sie in den mystischen Orchestergraben, diesen unsichtbaren Klangraum, halb verschluckt vom Bühnenboden.
- Beobachten Sie, wie Sängerinnen und Sänger scheinbar mühelos gegen ein volles Orchester ansingen.
- Lauschen Sie, wie Chöre von Seitenbühnen her in die akustische Landschaft einblenden, als wäre die Bühne ein gigantisches Mischpult.
- Achten Sie auf die visuelle Illusion: Die Bühne ist nach vorn geneigt, Requisiten und Personen wirken dadurch monumentaler, als es die tatsächliche Distanz zuließe. Der große Minenbohrer im dritten Akt des Parsifal, ein absurdes, riesenhaftes Requisit, hat sich mir unauslöschlich eingeprägt.
Bei einer ausgezeichneten Führung erfuhren wir, dass das gesamte Opernhaus wie eine einzige schwingende Membran konstruiert ist. Das Festspielhaus ist kein neutraler Raum, sondern ein Instrument. Bühne, Orchestergraben und Zuschauerraum sind nicht linear aufgefädelt, sondern ineinander verschachtelt. Die Bühne ragt in den Graben hinein, der Graben liegt wiederum unter den ersten Metern der komplett aus Holz bestehenden Tribüne. Der Klang überträgt sich durch jeden Gegenstand. Man hört keinen isolierten Ton, sondern einen Gesamtklang, eine akustische Einheit, ein gelebtes, atmendes Gesamtkunstwerk.
Diese Tage begleitete mich das Buch Richard Wagners Musikdramen des illustren Musikwissenschaftlers Carl Dahlhaus, das ich parallel zu all den Aktivitäten und bereits während der Zugfahrt las. Bei der Lektüre fiel mir etwas auf, das Wagner mit Johann Gottlieb Fichte verbindet, zu dem ich im Rahmen meiner Dissertation forsche. Fichte und Wagner teilen eine bemerkenswerte Eigenschaft: ihren radikalen Begriffsanspruch. Sie tun nicht einfach etwas. Sie benennen ihr Tun neu, weil der bestehende Begriff nicht ausreicht. Fichte etwa führt Begriffe wie Logologie (Logos vom Logos), Wissenschaftswissenschaft oder Wissenschaftslehre ein, um die Philosophie als prima disciplina zu etablieren: als methodisches und inhaltliches Fundament aller Einzelwissenschaften. Der neue Begriff ist dabei kein Etikett, sondern ein Programm. Fichte schreibt sinngemäß, er sei aus sachlichen Gründen gezwungen, die Philosophie umzubenennen, um das wahre Wesen seines Unterfangens sichtbar zu machen. Wagner tut Ähnliches. Auch er ringt um die richtige Bezeichnung dessen, was er mit der Oper vorhat, wagt aber nie den letzten definitorischen Schnitt. Zur Debatte standen etwa Wort-Ton-Drama, Bühnenfestspiel, Handlung, Kunstwerk der Zukunft. Alle zielen auf einen neuen Anspruch: Oper soll nicht mehr bloß Oper sein. Ich erlaube mir, einmal zu zitieren (mit Kommentar Dahlhaus‘, aus Wagners Beethoven):
„Die Musik, welche nicht die in den Erscheinungen der Welt enthaltenen Ideen darstellt“ – und schon gar nicht die Erscheinungen der Welt – „dagegen selbst eine, und zwar eine umfassende Idee der Welt ist“ – also ein Stück tönende Metaphysik – „schließt das Drama ganz von selbst in sich, da das Drama wiederum selbst die einzige der Musik adäquate Idee der Welt ausdrückt“. Roh verkürzt: Nicht die Musik drückt das Drama aus, sondern das Drama die Musik. Und 1872, in dem Aufsatz Über die Benennung Musikdrama, ist sogar von den Dramen als „ersichtlich gewordenen Taten der Musik“ die Rede.
(Carl Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, München 1988, S. 11.)
Dahlhaus zeigt, dass Wagner damit einen doppelten Musikbegriff entwirft:
- einen empirisch-faktischen (was da schön vor sich hin tönt),
- und einen metaphysischen (Musik als eine Erscheinung des Absoluten, als Idee).
Wagner ist hörbar geprägt von der Philosophie des deutschen Idealismus. Die Parallele zu Fichtes Unterscheidung von Faktischem und Überfaktischem, die wiederum auf Kants Dualität von empirischem und rein rationalem Wissen zurückgeht, ist frappierend. Die reale Brücke zwischen Philosophie und Musik mag wohl Schopenhauer gewesen sein, den Wagner intensiv studierte. Schopenhauer wiederum saß im Wintersemester 1811/12 in Fichtes Vorlesungen und rezipierte ihn, wie überliefert wird, mit eher knapper Geduld und sarkastisch pointierten Randnotizen. Trotzdem reichte dieser flüchtige Übertragungsweg wohl, um Richard Wagner mit einer guten Portion Idealismus zu infizieren.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Wagner selbst den Patronatsgedanken formulierte: die Idee, dass genuin Interessierten die Teilnahme an den Festspielen ermöglicht werden soll. Heute kennen wir mit der Plattform „Patreon“ etwas Ähnliches: Unterstützerinnen und Unterstützer erhalten Einblicke in Werkprozesse, Kompositionen, Hintergründe. Wagner hatte diesen Gedanken bereits gedanklich vorweggenommen. Der Richard-Wagner-Verband International e.V. hat mit seiner Stipendienstiftung diesen Gedanken in die Gegenwart übertragen und mit dem Ziel der Nachwuchsförderung veredelt. Dem Richard-Wagner-Verband Bamberg danke ich von Herzen für die Konkretisierung dieser Möglichkeit, für das Vertrauen und die finanzielle Realisierung meines Aufenthalts in Bayreuth. Wie die Leserinnen und Leser dieses Berichts unschwer erkennen können, war dieses Stipendium für mich ein ästhetischer, sozialer und philosophischer Glücksfall.
Ähnliche Beiträge
- Mein Bayreuth-Sommer 2024 13. Oktober 2024
- Sehen, was schon da war 26. Oktober 2023
- Stipendiat 2006: Frank Schulte 11. März 2006
- Auf nach Bayreuth! 12. August 2019
- Das Konzert als Höhepunkt 18. September 2023
