„Was ich in Bayreuth sah, hörte und begriff“

Un­ser Sti­pen­di­at Kon­rad Busch­hü­ter ver­knüpft in die­sem Bei­trag sei­nen Bay­reuth-Auf­ent­halt un­ter an­de­rem mit dem, wo­nach er für sei­ne Dis­ser­ta­ti­on forscht.

Kon­rad Busch­hü­ter mit Ant­je Fah­rig am 15. Au­gust 2025, ge­spannt auf „Rhein­gold“ war­tend - Foto: Mo­ni­ka Beer

Ich möch­te mit die­sem Be­richt dem Ri­chard-Wag­ner-Ver­band Bam­berg mei­nen tie­fen Dank aus­spre­chen: für die Ge­le­gen­heit, un­ver­gess­li­che Tage in Bay­reuth und im Fest­spiel­haus zu ver­brin­gen, für Un­ter­brin­gung, Ver­pfle­gung, den wun­der­schö­nen Aus­flug ins Grü­ne, für ein aus­ge­zeich­ne­tes Sti­pen­dia­ten­kon­zert, für das herz­li­che Will­kom­men auf dem Ge­län­de des Fest­spiel­hau­ses, die kennt­nis­rei­chen Füh­run­gen und fun­dier­ten Ein­füh­run­gen in die Oper. All dies war nicht nur Pro­gramm, son­dern auch ein so­zia­les Me­di­um im bes­ten Sin­ne: eine Büh­ne der Be­geg­nung. Ich habe neue Freun­din­nen und Freun­de aus über 30 Na­tio­nen ken­nen­ge­lernt (die ge­naue Zahl ent­zog sich ir­gend­wann mei­nem Ge­dächt­nis, es wa­ren je­den­falls vie­le). Bei Tisch­ten­nis, Brat­wurst und Bay­reu­ther Hell – ein Drei­klang der frän­ki­schen Fest­kul­tur – kann das So­zia­le flo­rie­ren, be­son­ders so wie am ers­ten Abend. Schon dort herrsch­te eine ent­spann­te, fast fa­mi­liä­re At­mo­sphä­re; akus­tisch hin­ge­gen ein Turm zu Ba­bel: Ita­lie­nisch ne­ben Ja­pa­nisch, Eng­lisch ne­ben Ser­bisch, und über al­lem ein ge­mein­sa­mes, er­war­tungs­vol­les Rau­nen: die uni­ver­sel­le Spra­che der Vorfreude.

Kom­men wir zum mu­si­ka­lisch-in­halt­li­chen Teil. Mei­ne Ver­bin­dung zu Wag­ner war im Mu­sik­wis­sen­schafts­stu­di­um eher lose. In Mu­sik­ge­schich­te be­geg­ne­te er uns als Re­vo­lu­tio­när der ro­man­ti­schen Mu­sik, als Be­grün­der ei­nes neu­en har­mo­ni­schen Den­kens, Stich­wort: Tris­tan-Ak­kord, als je­mand, der Oper nicht nur re­for­mier­te, son­dern über­stieg. Wir lern­ten dar­über, wie er Kunst und Re­li­gi­on ver­schränkt, über sei­ne be­rühm­te, spä­ter zer­ris­se­ne Freund­schaft mit Nietz­sche, über sei­ne Fest­spiel­idee als uto­pi­schen Raum to­ta­ler Kunst. Die­ser „ka­te­go­ri­al-be­griff­li­che Ap­pa­rat“, den ich mir da­mals an­eig­ne­te, schlum­mer­te seit mei­nem Stu­di­en­ab­schluss wie ein in­tel­lek­tu­el­les Po­ten­zi­al im Hin­ter­grund und harr­te dar­auf, end­lich An­schau­ung, Er­fah­rung und At­mo­sphä­re zu bekommen.

Dann kam Bay­reuth im Au­gust 2025. Die ein­ma­li­ge Ge­le­gen­heit, drei Auf­füh­run­gen im Fest­spiel­haus zu se­hen, war wie eine le­ben­di­ge Fuß­no­te zu mei­nem Stu­di­um. Plötz­lich wur­den all die Ap­pel­le mei­ner Pro­fes­so­ren wie­der prä­sent: „Wenn Sie ir­gend­wann ein­mal bei den Fest­spie­len sind, dann …“ – Ja, dann öff­net sich eine Lis­te von Din­gen, die man sonst nur aus der Fach­li­te­ra­tur kennt:

  • Se­hen Sie in den mys­ti­schen Or­ches­ter­gra­ben, die­sen un­sicht­ba­ren Klang­raum, halb ver­schluckt vom Bühnenboden.
  • Be­ob­ach­ten Sie, wie Sän­ge­rin­nen und Sän­ger schein­bar mü­he­los ge­gen ein vol­les Or­ches­ter ansingen.
  • Lau­schen Sie, wie Chö­re von Sei­ten­büh­nen her in die akus­ti­sche Land­schaft ein­blen­den, als wäre die Büh­ne ein gi­gan­ti­sches Mischpult.
  • Ach­ten Sie auf die vi­su­el­le Il­lu­si­on: Die Büh­ne ist nach vorn ge­neigt, Re­qui­si­ten und Per­so­nen wir­ken da­durch mo­nu­men­ta­ler, als es die tat­säch­li­che Di­stanz zu­lie­ße. Der gro­ße Mi­nen­boh­rer im drit­ten Akt des Par­si­fal, ein ab­sur­des, rie­sen­haf­tes Re­qui­sit, hat sich mir un­aus­lösch­lich eingeprägt.

Bei ei­ner aus­ge­zeich­ne­ten Füh­rung er­fuh­ren wir, dass das ge­sam­te Opern­haus wie eine ein­zi­ge schwin­gen­de Mem­bran kon­stru­iert ist. Das Fest­spiel­haus ist kein neu­tra­ler Raum, son­dern ein In­stru­ment. Büh­ne, Or­ches­ter­gra­ben und Zu­schau­er­raum sind nicht li­ne­ar auf­ge­fä­delt, son­dern in­ein­an­der ver­schach­telt. Die Büh­ne ragt in den Gra­ben hin­ein, der Gra­ben liegt wie­der­um un­ter den ers­ten Me­tern der kom­plett aus Holz be­stehen­den Tri­bü­ne. Der Klang über­trägt sich durch je­den Ge­gen­stand. Man hört kei­nen iso­lier­ten Ton, son­dern ei­nen Ge­samt­klang, eine akus­ti­sche Ein­heit, ein ge­leb­tes, at­men­des Gesamtkunstwerk.

Die­se Tage be­glei­te­te mich das Buch Ri­chard Wag­ners Mu­sik­dra­men des il­lus­tren Mu­sik­wis­sen­schaft­lers Carl Dah­l­haus, das ich par­al­lel zu all den Ak­ti­vi­tä­ten und be­reits wäh­rend der Zug­fahrt las. Bei der Lek­tü­re fiel mir et­was auf, das Wag­ner mit Jo­hann Gott­lieb Fich­te ver­bin­det, zu dem ich im Rah­men mei­ner Dis­ser­ta­ti­on for­sche. Fich­te und Wag­ner tei­len eine be­mer­kens­wer­te Ei­gen­schaft: ih­ren ra­di­ka­len Be­griffs­an­spruch. Sie tun nicht ein­fach et­was. Sie be­nen­nen ihr Tun neu, weil der be­stehen­de Be­griff nicht aus­reicht. Fich­te etwa führt Be­grif­fe wie Lo­go­lo­gie (Lo­gos vom Lo­gos), Wis­sen­schafts­wis­sen­schaft oder Wis­sen­schafts­leh­re ein, um die Phi­lo­so­phie als pri­ma di­sci­pli­na zu eta­blie­ren: als me­tho­di­sches und in­halt­li­ches Fun­da­ment al­ler Ein­zel­wis­sen­schaf­ten. Der neue Be­griff ist da­bei kein Eti­kett, son­dern ein Pro­gramm. Fich­te schreibt sinn­ge­mäß, er sei aus sach­li­chen Grün­den ge­zwun­gen, die Phi­lo­so­phie um­zu­be­nen­nen, um das wah­re We­sen sei­nes Un­ter­fan­gens sicht­bar zu ma­chen. Wag­ner tut Ähn­li­ches. Auch er ringt um die rich­ti­ge Be­zeich­nung des­sen, was er mit der Oper vor­hat, wagt aber nie den letz­ten de­fi­ni­to­ri­schen Schnitt. Zur De­bat­te stan­den etwa Wort-Ton-Dra­ma, Büh­nen­fest­spiel, Hand­lung, Kunst­werk der Zu­kunft. Alle zie­len auf ei­nen neu­en An­spruch: Oper soll nicht mehr bloß Oper sein. Ich er­lau­be mir, ein­mal zu zi­tie­ren (mit Kom­men­tar Dah­l­haus‘, aus Wag­ners Beethoven):

„Die Mu­sik, wel­che nicht die in den Er­schei­nun­gen der Welt ent­hal­te­nen Ideen dar­stellt“ – und schon gar nicht die Er­schei­nun­gen der Welt – „da­ge­gen selbst eine, und zwar eine um­fas­sen­de Idee der Welt ist“ – also ein Stück tö­nen­de Me­ta­phy­sik – „schließt das Dra­ma ganz von selbst in sich, da das Dra­ma wie­der­um selbst die ein­zi­ge der Mu­sik ad­äqua­te Idee der Welt aus­drückt“. Roh ver­kürzt: Nicht die Mu­sik drückt das Dra­ma aus, son­dern das Dra­ma die Mu­sik. Und 1872, in dem Auf­satz Über die Be­nen­nung Mu­sik­dra­ma, ist so­gar von den Dra­men als „er­sicht­lich ge­wor­de­nen Ta­ten der Mu­sik“ die Rede.

(Carl Dah­l­haus, Ri­chard Wag­ners Mu­sik­dra­men, Mün­chen 1988, S. 11.)

Dah­l­haus zeigt, dass Wag­ner da­mit ei­nen dop­pel­ten Mu­sik­be­griff entwirft:

  • ei­nen em­pi­risch-fak­ti­schen (was da schön vor sich hin tönt),
  • und ei­nen me­ta­phy­si­schen (Mu­sik als eine Er­schei­nung des Ab­so­lu­ten, als Idee).

Wag­ner ist hör­bar ge­prägt von der Phi­lo­so­phie des deut­schen Idea­lis­mus. Die Par­al­le­le zu Fich­tes Un­ter­schei­dung von Fak­ti­schem und Über­fak­ti­schem, die wie­der­um auf Kants Dua­li­tät von em­pi­ri­schem und rein ra­tio­na­lem Wis­sen zu­rück­geht, ist frap­pie­rend. Die rea­le Brü­cke zwi­schen Phi­lo­so­phie und Mu­sik mag wohl Scho­pen­hau­er ge­we­sen sein, den Wag­ner in­ten­siv stu­dier­te. Scho­pen­hau­er wie­der­um saß im Win­ter­se­mes­ter 1811/12 in Fich­tes Vor­le­sun­gen und re­zi­pier­te ihn, wie über­lie­fert wird, mit eher knap­per Ge­duld und sar­kas­tisch poin­tier­ten Rand­no­ti­zen. Trotz­dem reich­te die­ser flüch­ti­ge Über­tra­gungs­weg wohl, um Ri­chard Wag­ner mit ei­ner gu­ten Por­ti­on Idea­lis­mus zu infizieren.

Ab­schlie­ßend sei dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Wag­ner selbst den Pa­tro­nats­ge­dan­ken for­mu­lier­te: die Idee, dass ge­nu­in In­ter­es­sier­ten die Teil­nah­me an den Fest­spie­len er­mög­licht wer­den soll. Heu­te ken­nen wir mit der Platt­form „Pa­tre­on“ et­was Ähn­li­ches: Un­ter­stüt­ze­rin­nen und Un­ter­stüt­zer er­hal­ten Ein­bli­cke in Werk­pro­zes­se, Kom­po­si­tio­nen, Hin­ter­grün­de. Wag­ner hat­te die­sen Ge­dan­ken be­reits ge­dank­lich vor­weg­ge­nom­men. Der Ri­chard-Wag­ner-Ver­band In­ter­na­tio­nal e.V. hat mit sei­ner Sti­pen­di­en­stif­tung die­sen Ge­dan­ken in die Ge­gen­wart über­tra­gen und mit dem Ziel der Nach­wuchs­för­de­rung ver­edelt. Dem Ri­chard-Wag­ner-Ver­band Bam­berg dan­ke ich von Her­zen für die Kon­kre­ti­sie­rung die­ser Mög­lich­keit, für das Ver­trau­en und die fi­nan­zi­el­le Rea­li­sie­rung mei­nes Auf­ent­halts in Bay­reuth. Wie die Le­se­rin­nen und Le­ser die­ses Be­richts un­schwer er­ken­nen kön­nen, war die­ses Sti­pen­di­um für mich ein äs­the­ti­scher, so­zia­ler und phi­lo­so­phi­scher Glücksfall.

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