Der sogenannte „Führer-Skandal“ in Bayreuth ist ausnahmsweise kein Reis-Sack. Sondern illustriert den Machtkampf darum, wer bei den Festspielen künftig das Sagen haben will.
Seitdem es die Bayreuther Festspiele gibt – und das ist bald 150 Jahre her –, fallen dort vor allem vor und unmittelbar nach der Saison gern massenweise Reissäcke um. Es gab Zeiten, da habe ich mich intensiv um fast jeden einzelnen gekümmert. Gott sei Dank bin ich aus dem journalistischen Tagesgeschäft, das sich inzwischen sehr zu seinem Nachteil verändert hat, längst raus und schreibe nur noch, wenn ich es ganz persönlich für geboten halte. Der sogenannte „Führer-Skandal“ ist so ein Fall, der eine genauere, auch medienkritische Betrachtung lohnt.
Losgetreten wurde die Geschichte bereits während der Generalproben durch die Lokalzeitung Nordbayerischer Kurier, wo übrigens vor fast fünfzig Jahren meine Berufslaufbahn begann. Otto Lapp, aktuell dort Chefreporter und stellvertretender Chefredakteur, der mir nicht erst durch seine heikle Berichterstattung zum Fall Gustl Mollath aufgefallen ist, hatte vier Tage vor der Festspieleröffnung zunächst „Sexismus-Vorwürfe“ in die gierige Medienwelt gebracht. Im selben Artikel unter dem Titel „Frauen im Festspielhaus begrapscht“ wusste Lapp außerdem fast ebenso ausführlich über den beleidigend-forschen Umgangston und eine offenbar frauenfeindliche E-Mail von Festspieldirigent Christian Thielemann (63) zu berichten. Letzterer dementierte und dürfte vermutlich Anwälte in Bewegung gesetzt haben, denn die Geschichte schien schnell im Sand zu verlaufen. Und Georg von Waldenfels (77), der Vorsitzende des Verwaltungsrats der Bayreuther Festspiele GmbH, Chef der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth (GdF), Ex-CSU-Politiker, Jurist und erklärter Thielemann-Bewunderer, sprang ihm in der Folge gleich mehrfach bei.
Zunächst sorgten die MeToo-Vorwürfe am Grünen Hügel bundesweit und international für Schlagzeilen – Sex sells, erhöht die Klickzahlen. Und der Kurier-Chefredakteur war womöglich stolz auf seinen Stellvertreter, weil landauf landab die Zeitung als erste Quelle genannt wurde. Festspielleitung und Staatsanwaltschaft kündigten entsprechende Konsequenzen an, Katharina Wagner (44) bestätigte, dass auch sie schon belästigt worden sei, sich aber zu wehren gewusst habe. Am 24. Juli um 22.20 Uhr reichte der Kurier-Chefreporter unter dem Titel „Star-Tenor singt ‚Führer‘-Version im Festspielhaus“ zuerst online den nächsten potenziellen Reißer nach. Ein Besucher der „Lohengrin“-Generalprobe habe sich bei der Zeitung darüber beschwert, dass Klaus Florian Vogt, der Sänger der Titelfigur, die originale Schluss-Version gesungen habe, die da lautet: „Seht da den Herzog von Brabant, – zum Führer sei er euch ernannt.“ Ach, nach MeToo nun auch noch der Führer?
„Wer hat das angeordnet?“, frug scheinheilig der Kurier-Reporter und zählte auf, wer alles in einem solchen Fall angeblich mitreden könne, wer dann eher doch nicht, und informierte, dass es in der deutschen Opernwelt schon länger Usus sei, anstelle des F-Worts „Schützer“ zu singen. Diesen neuerlichen, vom Kurier publik gemachten „Skandal“ griffen andere Medien allerdings kaum auf. Lapp-Artikel strahlten wohl zu wenig Seriosität und Sachkunde aus, zudem fehlte das richtige Timing. Schließlich standen am 25. Juli zur Festspieleröffnung medial eindeutig die Promis auf dem roten Teppich und die „Tristan“-Neuinszenierung im Fokus. Da hatte der Skandal-Reporter, wie der Bayreuth-Experte Alexander Dick in der Badischen Zeitung zutreffend feststellte, eine Sau durchs Festspieldorf getrieben, nach der kaum ein Hahn krähte. Noch nicht, wohlgemerkt.
Zum Festspielende erschienen neben den üblichen Abschlussberichten, darunter der mit einem unfeinen Detail titelnde in der Augsburger Allgemeinen, auch Zusammenfassungen von zwei Journalisten, die durch ihre freundschaftliche und auch geschäftliche Nähe zu Katharina Wagner zu den besonders gut informierten gehören: Manuel Brug, der beim jahrelang beim Festspiel-Podcast mitwirkte, und Axel Brüggemann, der zuletzt die Festspielkonzerte moderiert hat. Beide hoben in ihren Beiträgen unter anderem besonders die Äußerungen von Georg von Waldenfels hervor, der sich der dpa gegenüber für eine langfristige Anbindung Christian Thielemanns aussprach und wörtlich sagte, dass es in Bayreuth „eigentlich doch ohnehin viel mehr um die Musik gehe als um die Regie“. Und: „Wie die Musik wahrgenommen wird, ist aus meiner Sicht wichtiger als das, was auf der Bühne passiert.“
Manuel Brug titelte am 5. September in der Welt daraufhin ironisch „Wenn man Freunde hat, braucht man keine Feinde mehr“ und berichtete unter anderem, dass ausgerechnet die GdF offenbar den Kauf der Spezialbrillen für die 3D-„Parsifal“-Neuinszenierung 2023 blockiere und bezeichnete die Äußerungen des Verwaltungsrats- und „Freunde“-Vorsitzenden zur Musik glatt als Unverschämtheit. So weit würde ich nicht gehen. Aber sie illustrieren unübersehbar, dass von Waldenfels, der langjährige Vereinswagnerianer, Mitentscheider und Vorsitzender in der Festspiel-GmbH, erschreckend wenig Ahnung davon hat, was Wagner mit seiner Kunst wollte und was ihm wichtig war. Am selben Tag kommentierte Axel Brüggemann in der Crescendo-KlassikWoche, dass das gegebene Eigentümer-Konstrukt bei der Festspiel-GmbH schwer reformbedürftig sei und informierte die Wagnerwelt zudem exklusiv darüber, dass sich inzwischen drei Choristinnen bei Katharina Wagner gemeldet hätten und der übergriffige Beschuldigte fristlos entlassen wurde.
Erst am 7. September, sechs Wochen nach der lokalen Führer-Skandal-Meldung, folgte die späte öffentliche Reaktion von Christian Thielemann. Und zwar in Form eines Interviews, das er der Tageszeitung Die Welt gab, eine der Publikationen des Springer-Konzerns, der sich bekanntlich als Speerspitze gegen die sogenannte Cancel Culture geriert. Der vormalige Bayreuther Musikdirektor verwahrte sich darin unter anderem vehement gegen die Schützer-Version, die seit der von ihm dirigierten „Lohengrin“-Premiere am 4. August heuer auch wieder im Festspielhaus praktiziert wurde. Wie daraufhin und häufig nachgedruckt die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtete, hatte Katharina Wagner den Solisten Klaus Florian Vogt darum gebeten. Es sei ein gängiges Substitut, bestätigte die Festspielleiterin auf dpa-Nachfrage am 7. September. „Und gerade wir in Bayreuth sollten da besonders sensibel sein, weil wir einen besonderen politischen Hintergrund und damit auch eine besondere Verantwortung haben.“
Während nachvollziehbar wäre, dass Katharina Wagner so kurz nach den Sexismus-Vorwürfen die Festspiele unmittelbar vor der Eröffnung erstmal aus negativen Schlagzeilen raushalten wollte und vielleicht auch deshalb vorbeugend reagierte (was nicht heißen will, dass ich die Schützer-Version für richtig hielte), mutet es merkwürdig an, dass Christian Thielemann seine Empörung nicht etwa spontan nach der „Lohengrin“-Premiere am 4. August, also direkt nach der erfolgten Änderung, ausposaunte, sondern erst einen Monat später. Warum nicht gleich? War das vielleicht auch eine Frage des Timings – und des geeigneten Mediums?
Immerhin ist Thielemann schon lange mit Mathias Döpfner befreundet, dem Chef des Springer-Konzerns. Und der hat, wie der Medienseite der Süddeutschen Zeitung vom 16. September zu entnehmen war, zum Beispiel in einem anderen Zusammenhang seinem damaligen Bild-Chef im Gespräch angetragen, „einen öffentlichen Aufschrei zu orchestrieren“. Womöglich hat er Ähnliches via Welt-Interview auch für seinen guten alten Freund Christian praktizieren wollen? Allerdings nicht über den langjährigen Bayreuth-Fachmann Manuel Brug, der noch am 25. Juli unter dem Titel „35 Grad und immer noch kein Skandal“ in eben dieser Zeitung Entwarnung zu beiden „Kurier-Skandalen“ gegeben hatte. Sondern mit Lucas Wiegelmann als Fragesteller, aktuell Ressortleiter Forum.
Daraufhin schlugen die Wellen hoch. In vielen der dazu erscheinenden Artikel zeigte sich, dass die Journalisten auf Thielemanns Empörung und den Cancel-Culture-Deckmantel reinfielen. Erwartbar hatte Patrick Bahners in der F.A.Z. aus historischer Sicht Recht, dass der Schützer-Ersatz falsch sei und schrieb erst am Schluss seines langen Artikels über Thielemann: „Mit seiner verspäteten Intervention versucht er just in dem Augenblick eine Art Schutzherrschaft über die Festspiele in Anspruch zu nehmen, da über die Verlängerung des Vertrags von Katharina Wagner diskutiert wird, also die künftige Führung.“ Christian Wildhagen in der NZZ sah deutlich klarer den dahinter stehenden Machtkampf, auf den sehr früh, nämlich Anfang Juli, Christine Lemke-Matwey und Florian Zinnecker in der Zeit ausführlich hingewiesen hatten und gar das „Ende der Dynastie“ ausriefen.
Ein kleines Interview, das der Bayerische Rundfunk mit Georg von Waldenfels führte und am 7. September veröffentlichte, erhellte die Sache zusätzlich. Zwar habe es, sagte Georg von Waldenfels, einen „großen Charme“, dass die Wagnerfamilie noch immer eine so große Rolle spiele, aber ein klares Bekenntnis zur Vertragsverlängerung von Katharina Wagner wollte er partout nicht geben. Es sei „alles offen“. Naja, was ein ausgebuffter Ex-Minister und Anwalt als Offenheit so versteht. Jedenfalls sagte er ganz klar, dass es bei der Ablehnung der Finanzierung der Augmented-Reality-Brillen durch die GdF gar nicht um künstlerische Dinge gehe: „Die Finanzierung muss gesichert sein. Und solang die nicht gesichert ist, können wir als Gesellschaft nicht sagen: Wir sind dafür.“
Das sind meines Wissens ganz neue Töne. Denn seit ihrer Gründung 1949 hat die Gesellschaft der Freunde Bayreuths immer wieder und unbürokratisch dort geholfen, wo die jeweilige Festspielleitung, was die Finanzierung betrifft, gerade in Not war. Dass dieser so lange verdienstvoll mäzenatische Verein sich jetzt herausnimmt, ein Kunstkonzept zu blockieren, ist schon ein starkes Stück. „Der Chef der mächtigen Sponsorenvereinigung und zudem Verwaltungsratsvorsitzende der Festspiele“, stellte Markus Thiel in seinem Bericht „Störmanöver aus der zweiten Reihe“ am 7. September im Münchner Merkur fest, „ist alles andere als ein Freund von Festspielleiterin Katharina Wagner und möchte sie, wie kolportiert wird, lieber heute als morgen loswerden.“
Was vermutlich jenseits des eher einseitig aufs Musikalische zentrierten Kunstverständnisses waldenfelsischer Machart sicher vor allem damit zu tun hat, dass das Geschäftsmodell der GdF obsolet geworden ist. Früher, als die Festspiele noch mehrfach überbucht waren, Karten also eine Rarität waren, konnten die zahlenden Mitglieder (Mindestbeitrag jährlich aktuell: 205 Euro) damit rechnen, aus dem Freunde-Kontigent eher Festspielkarten zu bekommen als regulär vom Festspielkartenbüro mit jahrelangen Wartezeiten. Das hat sich inzwischen erledigt – und das hat, ob einem das gefällt oder nicht, wenig mit Katharina Wagner und ihren intendantischen und künstlerischen Entscheidungen zu tun. Ob bei international renommierten Festivals und Opernhäusen, bei großen, mittleren und kleinen Theatern: Opernkarten sind spätestens seit Corona keine Mangelware mehr. Wer welche will, bekommt sie in der Regel auch.
Und Thielemann? Hat er den „Führer-Skandal“ eben deshalb erst Wochen später ausgegraben, weil er sich schon mal klar positionieren wollte? Sein Einspringen für Daniel Barenboim im Berliner Staatsopern-„Ring“ im Oktober eröffnet dem Noch-Chefdirigenten der Staatskapelle Dresden zweifellos eine Option. Er gilt, wie die dpa berichtet, als Kandidat für Barenboims Nachfolge 2027. Und davor, dazwischen und danach hätte er bestimmt auch noch Zeit für ein paar Abstecher nach Bayreuth, damit auch das Wagnerbild von Georg von Waldenfels und regiefeindlich-konservativen Wagnerianern wieder in Ordnung ist. Ach, Bayreuth!
P.S. Fast hätte ich noch eine Stimme unterschlagen: Zeit-Redakteur Florian Zinnecker wurde zum „Führer-Skandal“ vom NDR interviewt.
P.P.S. Man sollte einen/eine Wagner nicht unterschätzen.
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