Es soll immer noch Leute geben, die das Coburger Theater mit scheinbarer Kennermiene als Provinzbühne sehen, die den Vergleich mit großen Häusern scheuen muss. Dabei wird andersrum ein Schuh draus. Denn ein kleineres Haus kann, wenn alles gut läuft – und am Landestheater läuft es seit geraumer Zeit geradezu ideal, also kugelrund –, etwas bieten, das man in den Großstadttheatern eben nicht findet: eine unmittelbare Nähe zum Bühnengeschehen, die das Theatererlebnis intensiviert und einem das Gefühl gibt, mitten im Klang zu sitzen. Was umso pikanter ist, wenn es um ein Geschehen geht, das sich im ersten Teil in einem hochherrschaftlichen Schlafzimmer abspielt.
Der Rosenkavalier von Richard Strauss ist schon wegen der Bebilderung des erstens Akts in seiner Mischung aus Intimität und einem mittlerem Massenauflauf in der Lever-Szene höchst anspruchsvoll. Die Coburger Neuinszenierung löst nicht nur dieses Problem, sondern eigentlich alle. Es ist das reine Opernglück. Zumal es Regisseur Jakob Peters-Messer souverän, einfallsreich und einfühlsam gelingt, selbst jene in dem 1911 uraufgeführten Stück gegebenen Stolpersteine aus dem Weg zu räumen, denen heutzutage der Hautgout des politisch Inkorrekten anhaftet.
Zwei sonst eher unscheinbare, stumme Randfiguren seien deshalb besonders erwähnt: Der zumeist süße, weil kleine Mohr (im Libretto von Hugo von Hofmannsthal lautet die Rollenbezeichnung „ein kleiner Neger“) , der der Marschallin das Frühstück serviert und laut Libretto am Schluss der Oper Sophies fallengelassenes Taschentuch suchen und finden soll, ist hier kein trippelndes Kind, sondern eine sehr bewegliche, zuweilen spitzbübisch lächelnde alte Frau mit der passenden Kopfbedeckung. Es ist ein regielicher Geniestreich, wie diese normalerweise nur niedliche Figur zum Bedeutungsträger aufgewertet wird – wunderbar verkörpert durch Christa Fedder, eine in Coburg zu Recht viel beschäftigte, weil vielseitige und ungemein bühnenwirksame Darstellerin: Ihr weiblicher Mohammed spiegelt der Marschallin besonders einprägsam alle Vergänglichkeit, dass und wie die Zeit vergeht. Nebenbei zeigt er, dass auch Bedienstete nicht auf den Kopf gefallen sind, dass selbst eine Fürstin sehr fürsorglich sein kann – und nicht zuletzt, dass die Überreichung der Silbernen Rose nichts anderes als eine mirakulöse Theatererfindung ist.
Das für mich noch wichtigere Spiegelbild gelingt dem mit großem Körpereinsatz und viel Spielwitz agierenden Ruslan Wacker als Leopold. Der Leiblakai vom Baron Ochs auf Lerchenau ist ein vitaler junger Mann, kaum älter als der siebzehn Jahre und zwei Monate alte Titelheld Octavian, nur eben handfester, proletarischer. Indem dieser Jungspund sich praktisch in jeden Rock verguckt, versteht man plötzlich, aus welchem Holz sein Herr geschnitzt ist. Und sieht den zwei Generationen älteren »Ochsen« mit milderen Augen – auch als Frau des 21. Jahrhunderts, für die so ein testosteronisierten Mitgift- und Schürzenjäger normalerweise ein absolutes No-Go ist.
Ensemblemitglied Michael Lion tut freilich das Seinige, um dem lerchenauischen Schwerenöter komödiantische Konturen zu geben. Sein Ochs ist kein Dummkopf, hat durchaus weanerischen Charme und Schalk – und schafft sogar die ganz tiefen Töne, um die sich mancher Interpret herummogelt. Eine Glanzrolle für den Bassisten, der auch zu großer Form aufläuft, wenn die Stimme ein bisschen angekratzt ist. Von den regulären männlichen Protagonisten sind noch hervorzuheben der neureiche Emporkömmling Faninal, dem Peter Schöne fast zu viel edle Stimmkraft leiht, der luxuriöse Tenorsänger von Milen Bozhkov und der prägnante Dirk Mestmacher als intrigant herumwuselnder Valzacchi.
Ensemblemitglied Verena Usemann ist sängerdarstellerisch ein Octavian der Spitzenklasse, und schon ihr Rosenkavalier-Auftritt hoch zu Ross ist eigentlich jede Fahrt nach Coburg wert. Ein Glücksfall, denn ihre doppelt geforderte Körpersprache ist so geschmeidig wie stimmig, ihr Mezzosopran betörend schön. Zudem wirkt sie, entsprechend gestylt, so, als stünde der ephebische Ian Bostridge auf der Bühne. Angesichts dieses jugendlichen Liebhabers dürfen Frauen und Männer im Publikum gleich reihenweise schwach werden.
Noch dazu bei einer Marschallin, die Filmstar Nicole Kidman verblüffend ähnlich sieht. Das frühere Ensemblemitglied Betsy Horne ist in einer bestechenden Form. Sie spielt und singt diese früh in ihre Zweckehe gezwungene, noch lange nicht verblühte, immer noch junge Frau so unangestrengt natürlich und souverän, so zurückgenommen, aber zwingend in den melancholischen Momenten, dass nicht wenige Zuschauer mit Tränen zu kämpfen haben. Als ihre jüngere Konkurrentin Sophie alternieren Anna Gütter und Ana Cvetkovic-Stojnic, im Detail zwei durchaus unterschiedliche junge Damen, aber gleichermaßen überzeugend.
Die weiteren zahlreichen Mitwirkenden machen ihre Sache gut. Selbst Gabriela Künzler, die mit der erfrischenden Emily Lorini als Annina alterniert, ist diesmal keine sängerische Fehlbesetzung, sondern das rollengerechte schrille Ausrufezeichen. Das Orchester unter Generalmusikdirektor Roland Kluttig bzw. unter Roland Fister klingt zwar eingangs so, dass man sich für die Ouvertüre denn doch einen allerersten großen Klangkörper wünschte (wobei die Ouvertüre auch für letzteren eine echte Herausforderung sein dürfte), überzeugt dann aber umso mehr. Ein mutig und homogen musizierter Opernabend, den man mit keiner der berühmten Vorzeige-Produktionen tauschen möchte, weil das Geschehen und die schönen Bilder der Inszenierung einen unmittelbar in Bann schlagen.
Markus Meyers variables und stimmiges Bühnenbild ist ebenso sehenswert wie die Kostüme von Sven Bindseil, der in seinen historisierend-modernen Stilmix in Schwarzweiß mit großer Wirkung restaurierte farbige Einzelteile aus der Zeit der Coburger Erstaufführung eingebaut hat – Kostüme, auf denen schon die Augen von Komponist Richard Strauss ruhten, der nach einem ersten Coburg-Gastspiel 1913 im Jahr 1918 höchstpersönlich die 25. Rosenkavalier-Aufführung am damals noch herzoglichen Coburgisch-Gothaischen Hoftheater dirigierte.
Die inzwischen fünfte Coburger Rosenkavalier-Inszenierung (in der Regie von Jakob Peters-Messer) ist – man kann es nicht anders sagen – werktreu, handwerklich brillant und zugleich zeitgenössisches Regietheater, erzählt die Handlung und ihre Protagonisten bis in die kleinsten Verästelungen verständlich und genau, zeigt die Verwechslungskomödie glaubhaft und schafft es gleichzeitig, eine veritable heutige Interpretation dieses höchst artifiziellen Kunstwerks zu sein, das sich zwar eine Komödie für Musik nennt, aber nicht nur durch die schwarzen Schleier, die sich als roter Faden durch den Abend ziehen, seine dunkleren Momente hat. „Es könnte scheinen“, zitiert denn auch das Programmheft Hugo von Hofmannsthal, „als wäre hier mit Fleiß und Mühe das Bild einer vergangenen Zeit gemalt, doch ist dies nur Täuschung und hält nicht länger dran als auf den ersten flüchtigen Blick. Die Sprache ist in keinem Buch zu finden, sie liegt aber noch in der Luft, denn es ist mehr von der Vergangenheit in der Gegenwart als man ahnt, und weder die Faninal noch die Rofrano, noch die Lerchenau sind ausgestorben, nur ihre Livreen gehen heute nicht mehr in so prächtigen Farben.“
Premiere am 6. März 2016, besuchte Vorstellungen am 27. März, 3. und 15. April. Weitere Aufführungen am 22. April und 11. Mai, jeweils um 18.30 Uhr. Karten unter Telefon 09561-898989.
P. S. Betsy Horne hat am 14. und 17. April die Partie der Feldmarschallin – aufgrund der anhaltenden Erkrankung von Anja Harteros – die Partie der Feldmarschallin an der Deutschen Oper Berlin gesungen. Spätestens jetzt dürfte klar sein, in welcher Liga sie angekommen ist.
P. P. S. Betsy Hornes nächste große Partie ist die Titelrolle in der Leipziger Neuinszenierung der Arabella von Richard Strauss. Premiere ist am 18. Juni 2016. Weitere Infos unter http://www.oper-leipzig.de/de/programm/arabella/57159
Ähnliche Beiträge
- Die dienende Kundry weiß alles 30. April 2017
- Wenn einem weich & weh ums Herz wird 8. März 2014
- Intensiv, informativ und illuminierend 25. April 2017
- „Parsifal“-Generalprobe & Premiere 27. März 2017
- Wege zur Erkenntnis 9. April 2017