Als nach den Osterfeiertagen gemeldet wurde, dass Verena Lafferentz, die letzte Enkelin Richard Wagners, am Karfreitag im hohen Alter von 98 Jahren verstorben ist, mag sich dennoch mancher gefragt haben, wie das überhaupt möglich sei: Wie kann eine Enkelin Wagners bis jetzt gelebt haben? Schließlich ist der Stammvater der Wagners, die seit langem und nicht nur im Kulturbereich als die deutschen Ersatz-Royals gelten, vor 206 Jahren geboren worden. Eine Art Familienaufstellung kann also nicht schaden.
Tatsächlich sind es die Generationensprünge, die bei der Wagnerfamilie ins Auge fallen. Als Richard Wagner seine zweite Frau Cosima 1870 endlich heiraten konnte, war er 57 Jahre alt und sie mit ihren 32 Jahren eine Generation jünger als ihr Mann (den sie um 47 Jahre überleben sollte). Beider Sohn und „Kronprinz“ Siegfried war mit seinen 46 Jahren auch nicht mehr der Jüngste, als er aus dynastischen Gründen die erst 18-jährige Winifred Williams ehelichte und die Kinder Wieland (*1917), Friedelind (*1918) Wolfgang (*1919) und Verena (*1920) zeugte.
Wie Verena später der Winifred-Biografin Brigitte Hamann erzählte, wurde sie von ihrem Vater nach dessen Schweizer Kinderfrau Verena Stocker benannt, nach jenem Vreneli, das vermutlich mindestens eines, wenn nicht mehrere uneheliche Kinder mit Richard Wagner hatte, aber nie irgendwelche Ansprüche stellte. Nesthäkchen Verena, genannt Nickel, war neun Jahre alt, als ihr Vater starb. Kein Wunder also, dass sie sich zeitlebens eher an ihrer dominanten Mutter Winifred orientierte (die wiederum ihren Mann um 50 Jahre überleben sollte).
Kein Wunder auch, dass Verena Ersatzväter suchte und fand – nur nicht in Winifreds Ersatzmann Heinz Tietjen, sondern eher in Wahnfried-Stammgast Adolf Hitler, der sie besonders mochte. Sie konnte witzig und ironisch sein, suchte neben der aufmüpfigen älteren Schwester Friedelind einen Weg sich zu behaupten, indem sie sich anpasste und keine Ansprüche stellte. Nicht umsonst erklang zu ihrer Hochzeit „Und du wirst mein Gebieter sein“ aus der Oper „Arabella“ von Richard Strauss.
Bodo Lafferentz, ein SS-Offizier und Multifunktionär der Nazis, der unter anderem für „Kraft durch Freude“ die Kriegsfestspiele organisierte, war doppelt so alt wie Verena und noch nicht geschieden, als die beiden sich kennen und lieben lernten. Am 26. Dezember 1943 fand die Trauung in Wahnfried statt, mit Wieland und Wolfgang als Trauzeugen. Das Paar, das bald in Winifreds Feriendomizil in Nußdorf bei Überlingen am Bodensee lebte, bekam fünf Kinder: Amélie (*1944), Manfred (*1945), Winifred (*1947), Wieland (*1949) und Verena (*1952).
Im Machtkampf um die Leitung der Festspiele vor und nach dem Krieg sollten die Gebrüder Wieland und Wolfgang ihre Schwestern Verena und Friedelind, die im Testament ihres Vaters als gleichberechtigte Erben ausgewiesen sind, rabiat übergehen. Da brach selbst Verena aus ihrer braven Tochterrolle aus und schrieb der Mutter, dass sie nicht mehr gewillt sei, „die übliche Familienmethode des Stillschweigens über unangenehme und heikle Dinge fortzusetzen.“
Die Vermietung des Festspielhauses an die Brüder, ihre Bestallung als Leiter der Festspiele habe, so Verena, „den Keim zu einem Zerwürfnis innerhalb der Familie“ gelegt. Womit sie Recht haben sollte. Verena überlebte ihren Mann um 45 Jahre, brachte sich kritisch bei der Renovierung von Wahnfried ein und machte als Greisin noch eine Karriere als hochgeschätztes Ehrenmitglied verschiedener Wagner-Verbände.
Amélie Hohmann, die Erstgeborene, wird hoffentlich in absehbarer Zeit das tun, was ihre Mutter stets gemieden hat: mit einem vermutlich auch brisanten Teil der Familiengeschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Denn die gelernte Archivarin hütet in München den Nachlass ihrer Großeltern, den Verena auf Wunsch Winifreds im Sommer 1976 zu ihr brachte – darunter Unterlagen zum Beidler-Prozess, Briefe Siegfrieds und vor allem Winifreds Korrespondenz mit Hitler und anderen Nazigrößen.
Der Tod der letzten Enkelin Richard Wagners ist ein Einschnitt. Jetzt lebt keiner mehr, der bei der Verstrickung der Familie und der Festspiele mit dem NS-Staat dabei war. Die Papiere, deren Bedeutung klar ist, wurden anders als bei der ersten Mutter-Tochter-Generation (d.h. Cosima Wagner und Eva Chamberlain) immerhin nicht verbrannt. Sie sollten zumindest der Forschung schnell zur Verfügung stehen, denn zweifellos werden sie mehr Licht ins Dunkel der Festspielgeschichte bringen.
Erstdruck im Feuilleton des Fränkischen Tags
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