Harry Kupfer, der in Bayreuth mit seinen Inszenierungen des „Fliegenden Holländer“ (1978) und der „Ring“-Tetralogie (1988) nicht nur Festspielgeschichte geschrieben hat, ist am 30. Dezember 2019 im Alter von 84 Jahren gestorben.
Zum Tod von Harry Kupfer sei das 1989 in Gondroms Festspielmagazin unter dem Titel „Mit diesem Werk wird man nie fertig!“ abgedruckte Gespräch des Regisseurs mit den Autoren Sabine Zurmühl, Reinhard Baumgart (1929–2003) und Dieter Schickling nochmals veröffentlicht. Es geht darin zwar auch um Details seiner Bayreuther „Ring“-Inszenierung von 1988, aber tatsächlich enthält dieses Gespräch so viel Wissenswertes für jeden Opernfreund, Wagnerianer und „Ring“-Besucher, dass man kaum glauben mag, dass es schon vor über dreißig Jahren stattgefunden hat. Vor der Lektüre sei nur insofern gewarnt, als der Artikel wirklich sehr lang ist …
Vorab ein paar Links zu aktuellen Nachrufen auf Harry Kupfer von Susanne Benda in den Stuttgarter Nachrichten, von Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau, von Heike Mund bei der Deutschen Welle sowie von Udo Badelt im Tagesspiegel.
Das Gespräch sollte damit beginnen, dass Sie alle zunächst in ein paar Sätzen sagen, mit welchen Erwartungen Sie nach Bayreuth gefahren sind, was Sie sich erhofft und was Sie dann erlebt haben.
Sabine Zurmühl: Ich freute mich auf die Kupfer-Inszenierung und war sehr neugierig darauf, bin mit viel Zutrauen und nicht mit Misstrauen nach Bayreuth gekommen. Natürlich stand ich noch – anders ging es ja gar nicht – unter dem Eindruck der Inszenierung von Patrice Chéreau. Das, was ich an Chéreaus „Ring“ als so sensationell öffnend fand, öffnend hinsichtlich der Interpretation, das war sicher für Sie, Herr Kupfer, eine wahnsinnige Hypothek.
Harry Kupfer: Was ich nur bestätigen kann.
Sabine Zurmühl: In Bayreuth angekommen passierte das, was dort eigentlich immer passiert. Noch bevor ich selber gucken konnte, bekam ich viel zu hören – und das ist etwas, was mich ziemlich fertig macht. Was einem da erzählt wird, fixiert sich, wie sich schnell herausstellt, an irrelevanten, kleinen Details, die sehr stark hervorgehoben werden, so dass sie sehr bestimmend in der Inszenierung erscheinen. Ein Beispiel für diese sehr festgelegten Erklärungen, auch bei den Interpretationen der Bilder, ist dieses „Nach Tschernobyl“. Man bekommt also, oft mit Empörung übrigens, immer nur eine sehr enge Form erzählt; wobei ich das Gefühl habe, dass diejenigen, die das erzählen, diese Engigkeit erst vornehmen. Nach all dem Gerede habe ich mir diesen „Ring“ sehr viel festgelegter vorgestellt, aber er war dann sozusagen wieder völlig anders – und das ist das Optimale, was man erwarten kann. Wenn vorher geredet wird, sollte man also besser die Ohren zuklappen.
Reinhard Baumgart: Wenn man unter Erwartung versteht, dass ich jetzt einen ganz bestimmten „Ring“ sehen wollte – viele Laien oder Professionelle haben ja einen ganz bestimmten „Ring“ im Kopf, den sie ausgeführt sehen möchten –, dann kann ich damit nicht dienen. Ich sitze im Theater oder in der Oper immer noch wie ein Kind. Wenn der Vorhang aufgeht, denke ich, jetzt wird alles ganz anders, auch wenn ich das Stück zu kennen glaube. Trotzdem hatte ich eine gewisse Vorvorstellung. Da ich die „Holländer“-Inszenierung von Kupfer gesehen hatte und mir einer dieser kurzen Monumentalsätze von Wolfgang Wagner im Ohr geblieben war, wonach Kupfer ein interessantes Konzept für den „Ring“ habe, dachte ich, das wird eine Konzeptregie. Ich habe mir diesen „Ring“ also viel strikter von einer Grundidee aus organisiert vorgestellt, zumal bekannt war, dass Kupfer vor Jahren einen „Ring“ in Wien vorbereitet hatte. Dann erfuhr ich mündlich Einzelheiten von den Generalproben und habe mir zugemutet, etwas im Schwall von schriftlicher Kritik zu baden, was ich sonst eigentlich nicht mache, denn wenn ich selber schreibe, will ich leer sein wie ein Blatt.
Wenn ich das dennoch zulasse, meldet sich gleich mein Misstrauen und mein Widerspruchsgeist. Wenn zum Beispiel die Leute fragen, war dieses Bühnenbild der Meltdown eines Atomkraftwerks oder war es ein Raketenstumpf, dann frage ich mich, geht es hier um die Ausdruckskraft von Bildern oder geht es um die Bebilderung von irgendwelchen Katastrophen, die mit dem „Ring“ vielleicht gar nichts zu tun haben? Oder wenn mir erzählt wird, dass Alberich hier im weißen Anzug auftritt, wo er doch ein Schwarzalbe ist, dann höre ich erstmal zu und sage dann, das will ich jetzt aber selber sehen – und dann wird es mich überzeugen oder nicht.
Als der Vorhang aufging, hat tatsächlich etwas Unerwartetes stattgefunden, also sicher keine strikte Konzeptregie. Es war einfach wieder spannend – sowohl in dem, was ich in der Musik, also von Daniel Barenboim und den Sängern gehört habe, als auch darin, was ich von Kupfer und den Bühnenbildern gesehen habe. All das hat mir wieder einen ganz anderen „Ring“ gezeigt, was sehr wichtig ist, denn den „Ring“ gibt es, glaube ich, nicht. Und wenn es den „Ring“ nicht gibt, dann gibt es auch keine Werktreue. Selbst Wagner hat ja gar nichts Werktreues geschrieben, sondern nebeneinander, übereinander sieben „Ringe“ oder siebzehn … Man kann davon immer nur einen Teil realisieren, nur muss in diesem Teil dann alles zusammenpassen.
Dieter Schickling: Ich habe natürlich auch den Chéreau-„Ring“ gesehen und war danach der festen Überzeugung, dass ich keinen „Ring“ mehr ansehen müsste, weil das besser nicht mehr geht. In der Zwischenzeit habe ich dann doch zweieinhalb „Ring“-Inszenierungen gesehen – in Stuttgart den halbschlechten von Ponnelle, in Kassel einen ganz originellen, den ich aber nur in Teilen gesehen habe, schließlich den undiskutablen von Peter Hall in Bayreuth. Nach Hall war ich an dem Punkt, wo ich mir sagte, nie mehr! Aber Kupfer, dachte ich, muss man gesehen haben, zumal ich bereits eine ganze Reihe an Inszenierungen von ihm kannte, die für mich stets anregend gewesen waren.
Während der Aufführungen habe ich mir dann immer wieder gesagt: Pass auf, vergleiche nicht mit Chéreau im Jahr fünf mit Kupfer im Jahr eins, das geht nicht! Trotzdem tut man’s, man kann sich nicht dagegen wehren. Bei Hall habe ich wirklich gelitten und dachte, hoffentlich ist diese Woche bald rum; jetzt war das natürlich keinen Moment so! Ich fand es vom ersten bis zum letzten Augenblick spannend Ich teile übrigens die Auffassung, dass es die „Ring“-Inszenierung nicht gibt. Man kann ihn auf alle mögliche Art und Weise machen. Allerdings glaube ich, dass man – gelesen sozusagen – den „Ring“ abschließend interpretieren kann.
Reinhard Baumgart: Doch nicht abschließend! Denn das hieße ja, dass niemand mehr ein Wort darüber sagen kann!
Dieter Schickling: Man kann immer noch etwas finden, kann es immer noch ein bisschen hin- und herdrehen, meine ich damit. Aber für mich gibt es tatsächlich eine passende „Ring“-Interpretation – die kann man aber schlecht auf der Bühne spielen.
Reinhard Baumgart: Das kann ich einfach nicht glauben. Ich glaube nicht einmal, dass es ein abschließendes „Ring“-Dirigat geben kann, wie mir jetzt wieder klar geworden ist.
Dieter Schickling: Da ich hier ein bisschen die provokative Rolle übernehmen soll, sage ich es gleich vorweg: Meine Haupteinwände beziehen sich auf Barenboim und das Bühnenbild von Hans Schavernoch. Zum Konzept der Inszenierung ergaben sich für mich grundsätzlich eher Fragen, als dass ich sagen würde, das hat das zu bedeuten und das ist falsch, wenn es das bedeutet. So habe ich es nicht gesehen. Ich war immer sehr gespannt, habe mit meiner Frau, die eine ziemlich gute Kennerin der Materie ist, nach jedem Akt darüber diskutiert, wie wohl der nächste Akt aussehen wird beziehungsweise nach der Vorstellung das nächste Stück. Was die Spannung betrifft, so wurden meine Erwartungen nicht nur eingelöst, sondern sogar übererfüllt.
Reinhard Baumgart: Ich möchte noch etwas nachtragen, das vielleicht wichtig ist für die Vorbetrachtung. An meinem Interesse für Wagner, um den ich aus vielen gegebenen Gründen immer einen großen Bogen gemacht habe, ist überhaupt Chéreau schuld. Ohne Chéreau wäre ich nie zu Wagner gekommen. Ich bin seinerzeit mit gesträubten Federn nach Bayreuth gefahren und nur deshalb, weil man mir gesagt hatte, wer sich mit Theater beschäftigt, der muss diese Inszenierung gesehen haben.
Sabine Zurmühl: Haben Sie Wagner vorher gar nicht zur Kenntnis genommen?
Reinhard Baumgart: Nur in Dosen. Mein Vater war Wagnerianer und repräsentierte im Schönen wie im Schwierigen alles, was seine Generation – er ist noch ein wilhelminischer Mensch gewesen – kennzeichnete. Meine Jugend war erfüllt von diesen Wagnerklängen, meistens von meinem Vater gesungen. Es war also schwierig für mich, aus vielen Gründen auch nach 1945. Ich habe zwar immer wieder versucht, mich reinzuhören, aber es hat nie funktioniert. Erst Chéreau war für mich der Auslöser, und deshalb ist sein „Ring“ für mich emotional so hoch besetzt. Jetzt muss ich sagen, dass mein Leben ärmer wäre ohne Wagner, bei Chéreau ist mir das klar geworden. Dieser „Ring“ ist wirklich ein Jahrhundert-„Ring“ gewesen, weil er Geschichte aufgearbeitet hat. Der „Ring“ von Hall und der von Lehnhoff in München waren für mich dann eine ungeheure Enttäuschung, und zwar schlichtweg deshalb, weil in diesen Inszenierungen alles auseinanderfiel. Das ist ja die große Frage und Aufgabe: Wie kann man einen „Ring“ zusammenhalten?
Kupfer hat nun, soweit ich das sehen kann, nicht nach einem federführenden Konzept gearbeitet, sondern aus vielen vielen Einzelheiten diese Geschichte einfach wieder neu erzählt. Es war für mich eine ganz große Überraschung, dass man den „Ring“ aus diesen Einzelheiten und den Situationen aufbauen kann. Was mich nun interessieren würde: Welche Wirkung Chéreaus „Ring“ auf Sie, Herr Kupfer, hatte und ob Sie für Wien etwas anderes vorhatten.
Harry Kupfer: Wien und Bayreuth haben miteinander überhaupt nichts mehr zu tun, selbst wenn man bedenkt, dass es bestimmte Dinge gibt, die sich auch durch ein neues Herangehen nicht verändern. Ein entscheidender Aspekt für mein Verhältnis zum „Ring“ beziehungsweise zu Wagner ist die Tatsache, dass ich dieses Werk von Jugend an mit mir herumschleppe. Ich bin Wagner sehr zeitig, mit sechzehn, verfallen. Als ich damals an der West-Berliner Oper meinen ersten „Tristan“ gesehen habe, war es aus mit mir! Das war für mich eine Droge.
Reinhard Baumgart: Vermutlich gibt es zwei Wege zu Wagner: Wenn man ganz jung ist oder ziemlich alt.
Harry Kupfer: Ich konnte mich diesem Rausch einfach nicht entziehen, diese Musik hat mich schlicht und ergreifend umgehauen – obwohl das nach 45 drüben sehr schwierig war und man von den Theatern aus mit großer Raffinesse erst einmal begründen musste, wenn man Wagner überhaupt spielen wollte. Ich erinnere mich noch gut an eine „Lohengrin“-Inszenierung an der Staatsoper, wo wochenlang in den Zeitungen darüber diskutiert wurde, ob man das überhaupt spielen dürfe – so ein reaktionäres, faschistoides Stück! Alles, was mit Wagner zu tun hatte, war seinerzeit höchst verdächtig. Damals lief an der Städtischen Oper noch der alte Tietjen-Preetorius-„Ring“, das war meine erste Begegnung mit diesem Werk. Als Theater fand ich das scheußlich, aber musikalisch war es zum Teil unglaublich; von da ab habe ich mich intensiv mit Wagner beschäftigt.
Mit etwas über zwanzig habe ich über den „Tristan“ meine Diplomarbeit geschrieben; 124 Seiten, die man heute natürlich verbrennen müsste. Und dann kam das für mich ungeheure Erlebnis Bayreuth. Wir sind damals als Studenten mit dem Interzonenpass zu den Festspielen gepilgert und kamen über die „Jeunesse musicale“ in die Vorstellungen rein. Ich sah also sehr viel von Wieland und Wolfgang Wagner – und das war’s für mich, absolut! Es folgten die ersten eigenen Auseinandersetzungen mit den Stücken, angefangen beim „Holländer“ habe ich nacheinander Wagners Werke inszeniert; nur der „Ring“ ließ lange auf sich warten. Es gab dann mehrere Anläufe, zunächst an der Berliner Staatsoper und dann in Wien.
Der „Ring“ von Chéreau war wiederum ein entscheidendes, mich sehr tief berührendes Erlebnis. Ich bin in den Pausen rausgegangen und habe mit niemandem sprechen können, bin hinten zur Bürgereuth hoch in den Wald und habe mir dort gesagt: Das kannst du nie, also lass die Finger davon! Leider hatte ich aber Wien schon vorher zugesagt; wir haben dann versucht – mit Krampf muss ich sagen, wirklich mit Krampf – ein Konzept zu finden, das mit anderen Bildfindungen völlig im Fahrwasser Chéreaus schwamm. Wenn schon von den Einflüssen die Rede ist, dann kommt noch hinzu, dass vor Chéreau – nur vergisst man das leider immer – bereits eine zum Teil bessere „Ring“-Inszenierung von Joachim Herz und Rudolf Heinrich in Leipzig realisiert wurde. Das war viel konsequenter und optisch raffinierter 19. Jahrhundert; vor allem das hinterhältig-bösartig inszenierte „Rheingold“ fand ich sensationell. Dass Chéreau insgesamt noch stärker war, liegt daran, dass er nach dem „Rheingold“, das mich bei ihm eher langweilte, mit den Menschenfiguren etwas gemacht hat, das einen um so viel mehr berührte. Er hatte diesen Biss, ging ganz tief in die menschlichen Bezirke … und ich saß da mit diesem Wien-Dilemma und war der glücklichste Mensch, als ich es schließlich dort nicht machen musste!
Als acht Jahre später das Angebot aus Bayreuth kam, konnte ich wieder neu herangehen, weil inzwischen einiges geschehen war. Viele Epigonen hatten Chéreau nachgearbeitet, dann wurde unser Jahrhundert entdeckt für den „Ring“, bis hin zu manchen Triviallösungen, die zum Teil auch wichtig und aufregend waren. Da war mein Kopf plötzlich frei: Ich konnte also versuchen zu überlegen, ob es nicht doch noch einen anderen „Ring“ gibt.
Reinhard Baumgart: Aber Chéreau war sicher eine schwere Hypothek. Wir alle mussten uns erst von ihm abnabeln!
Harry Kupfer: Ich habe mir übrigens den Spaß erlaubt, mir aus den Archiven die Presse des ersten Chéreau-Jahres vorzunehmen. Man kann es an einer Hand abzählen, wer im ersten Jahr den Chéreau verstanden, akzeptiert und bejaht hat. Was er über sich hat ergehen lassen müssen, dagegen ist das, was uns jetzt passiert ist, das reinste Zuckerlecken! Merkwürdig, wie sich so etwas dann verändert.
Sabine Zurmühl: Das gleiche passierte auch beim Publikum.
Reinhard Baumgart: Chéreau hat aber an der Inszenierung auch viel gearbeitet und geändert.
Harry Kupfer: Soweit ich das beurteilen kann, hat er nur eine einschneidende und grundsätzliche Änderungsphase gehabt, nämlich vom ersten zum zweiten Jahr. Danach ist das Gesicht der Aufführung eigentlich geblieben; es ist durch die Weiterarbeit in der Personenregie nur dichter geworden. Aber das ist auch ganz normal, denn jede Inszenierung braucht Zeit zum Reifen. Selbst wenn man im ersten Jahr drei Monate mehr Probenzeit hätte, käme nicht viel mehr dabei heraus, weil die Sänger unbedingt die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Publikum brauchen.
Reinhard Baumgart: Aber auch das Dirigat von Boulez ist gewachsen. Im ersten Jahr war es eher ein Herantasten.
Harry Kupfer: Man hatte fast den Eindruck, das wäre ein Schubert-Lieder-Zyklus – so sehr fiel das auseinander! Aber im letzten Jahr waren wir alle unglaublich fasziniert, welchen Bogen er schaffte, obwohl seine analytische Sicht, diese Schärfe und Durchsichtigkeit geblieben sind.
Dieter Schickling: Ich war damals überwältigt von der musikalischen Gestalt – nicht von allen Sängern, aber von dem, was Boulez gemacht hat. Als es diesen „Ring“ dann auf Platte gab, war ich enttäuscht. Ohne die Aufführung vor Augen zu haben, klingt es anders, und ich glaube, dass das auch für den jetzigen „Ring“ gilt. Während es bei Solti völlig egal war, was auf der Bühne passierte, denn Solti dirigierte seinen „Ring“, hängt das Geschehen jetzt wieder eng mit dem zusammen, was aus dem Orchestergraben kommt. Als ich vor meinem Bayreuth-Besuch ein bisschen in die Rundfunkübertragungen reingehört habe, konnte ich überhaupt nicht begreifen, was musikalisch geschah. Erst in der Vorstellung dann hat mir vieles doch mehr eingeleuchtet, auch bei den starken Verlangsamungen Barenboims, die ich manchmal für unzulässig halte. Aber immerhin habe ich, als ich gesehen habe, was auf der Bühne war, verstanden, warum er das macht.
Reinhard Baumgart: Wenn man nur hört – und da ich keine Partituren lesen kann, bin ich auf diese Erfahrung angewiesen –, lernt man mit jeder Aufführung. Bei Boulez hatte ich dann das Gefühl, es klingt fast ein bisschen didaktisch, so als wolle einer nun zeigen, was alles in der Musik drinsteht. Dieser Charakter des Lehrhaften fällt natürlich in Zusammenhang mit dem Bühnengeschehen sofort weg.
So sehr alle Beteiligten den „Ring“ von Boulez und Chéreau auch schätzen, wir sollten jetzt konkret zu Barenboim/Kupfer kommen! Vielleicht zunächst einige Einwände?
Dieter Schickling: Als Voraussetzung folgendes: Ich glaube, ich bin inzwischen wieder offen genug, um mir einen „Ring“ mit Neugierde anzusehen, also nicht in der Haltung: Ich weiß ja, wie der „Ring“ geht, und nun wollen wir mal sehen, ob das auch eingehalten wird! Ich bin bereit zu fragen, was erzählt der Regisseur da für eine Geschichte, was spielt sich in der Inszenierung ab, was will diese Inszenierung erzählen? Von Beginn an, ab dieser stummen Szene noch vor der Musik, die ich als faszinierendes Bild empfand, bis hin zum Schluss der „Götterdämmerung“ habe ich mir also Fragen gestellt. Was wird jetzt? Was ist das für eine Geschichte? Wieso? Was sind das für Menschen, die da stehen? Was ist das für ein Körper, der da liegt? Das soll Alberich sein, las ich in einer Kritik, aber ich konnte ihn nicht als Alberich identifizieren.
Harry Kupfer: Vier Minuten später steht er auf und geht ins Geschehen!
Dieter Schickling: Vielleicht saß ich zu weit weg; jedenfalls konnte ich es nicht identifizieren, und es war mir auch gleichgültig, wer das ist. Ich sah zunächst, hier beginnt eine Geschichte oder es endet eine. Und am Schluss der „Götterdämmerung“ habe ich mich gefragt, was für eine Geschichte jetzt zu Ende ist. Habe ich eine Geschichte gesehen, wie sie immer wieder stattfindet? Am Anfang von „Rheingold“ war anscheinend eine zu Ende, mit dem Beginn von „Rheingold“ beginnt wieder eine, am Ende der „Götterdämmerung“ ist auch wieder eine Geschichte zu Ende, und mit den Kindern könnte wieder eine neue beginnen … ? Das habe ich alles nicht mehr zusammengebracht.
Es widerspricht auch meinem Konzept des „Ring“, denn ich glaube, dass der „Ring“ die paradigmatische Geschichte überhaupt ist, also so gemeint ist, dass ihr nichts vorausgeht und dass ihr nichts folgt. „Das ist die Geschichte der Welt“, sagt Wagner. Und am Schluss dieser Geschichte der Welt ist eine Utopie noch da. Ich glaube, dass Wagner hier, ohne dass er es wusste, ein halbwegs marxistisches Konzept verwirklicht hat: Eine Welt ist untergegangen, aber sie hat eine utopische Hoffnung. Jetzt zu erzählen, ihr seht hier nur eine Geschichte, wie sie sich wiederholen wird und wie es sie schon vorher gab, steht für mich im Widerspruch zu diesem Konzept Wagners.
Außerdem habe ich, was sich an vielen Details festmacht, manche Bilder nicht verstanden. Wenn zum Beispiel Siegfried im 1. Akt „Götterdämmerung“ zu den Gibichungen kommt, dann ist er ja, weil er zum ersten Mal auf Menschen trifft, sehr erstaunt. Das steht alles im Text, in der Musik, das war auch so inszeniert, nur frage ich mich, was ihn an einer solchen Nicht-Gegend erstaunen soll. Da ist gar keine Pracht, sondern nur etwas Schäbiges! Warum wundert sich Siegfried über etwas Schäbiges, wo er doch gerade aus diesem Abfallhaufen des Waldes kommt? Da passt vom Bild her etwas nicht mit der Geschichte zusammen. Aber da man ja das Jahr fünf nicht mit dem Jahr eins vergleichen kann, würde ich diesen „Ring“ gern nochmal im Jahre fünf sehen und mich erneut fragen, was für eine Geschichte die Inszenierung erzählt.
Reinhard Baumgart: Bevor wir über Einzelheiten sprechen, sollten wir, weil das wichtig ist und es da vieles Grundsätzliche zu bedenken gäbe, erst einmal über den Bogen nachdenken. Ich hätte Alberich vielleicht auch nicht gleich erkannt, wenn es mir vorher nicht schon mündlich oder schriftlich viele Leute verraten hätten. Die Frage ist nur, ist es wichtig? Ist es wichtig, dass Inszenierungen – gerade wenn sie so voll sind von Details und Hinweisen, so voll wie Wagners Partitur und Text, so voll wie diese Arbeit von Kupfer – sich schon im ersten Moment erklären? Ist es wichtig, dass sich im Kopf des Zuschauers alles sofort als Interpretation übersetzt? Ich glaube, das wäre grauenhaft. Und das Schreckliche am kritischen Geschäfte ist ja gerade, dass der Kritiker gleich am nächsten Morgen nicht seinen Eindruck wiedergeben muss, sondern schon kraft Sprache Begriffe dafür finden und eine Interpretation liefern muss. Ein Zuschauer, jeder Zuschauer sollte doch aber staunen und offen bleiben können für die Bedeutung!
Der Wille und auch die Kraft, die ich zunächst kenne, wenn ich Kupfers Anfangs- und Schlussbild vergleiche, läuft wie bei Wagner darauf hinaus, den Bogen anzusetzen, von Anfang bis zum Ende die Spannung zu halten und eventuell erst nach sechs Tagen mit dem Schlussbild die Antwort auf die Anfangsfrage zu geben. Ob der Zuschauer auch die Kraft hat, ist dann seine Sache. Ich glaube nicht, dass es so ist, wie manche Schlaumeier es vor-erraten haben: Kupfer meint Nietzsche, alles wiederholt sich, das ist die ewige Wiederkehr des immer Gleichen … ! Das ist schon wieder eine starre, krampfhafte, sehr enge Interpretation.
Was Kupfer glaubte zeigen zu müssen, und das hat mir gegen anfängliche Skepsis sehr imponiert, ist folgendes: Wir befinden uns, auch wenn wir im Festspielhaus sitzen, ja nun wirklich nicht mehr in einem mythischen Zeitalter – auch Wagner war das nicht, er erzählt nur einen Mythos. Deshalb sagt Kupfer: Ich stelle eine Geschichte her, und die Herstellung dieser Geschichte, das allerdings geschieht an irgendeinem Tag in Bayreuth und das wird mir dort in aller Offenheit gezeigt.
Nun bin ich eigentlich gegen eine Bebilderung von Vorspielen oder Ouvertüren mit Vorgängen auf der Bühne. Als ich hörte, da haben sie Laserstrahlen zucken lassen zu diesem wunderbaren und wahrscheinlich großartigsten aller Opernvorspiele, dachte ich, das wird wohl schrecklich! Aber es ist immer gut, wenn man den Schrecken schon vorher erlebt, denn diese Erfindung hat mich wider Erwarten überzeugt. Während die Es-Dur-Klänge beginnen, wird auf der Bühne mit den Laserstrahlen sehr abstrakt der Raum, der Spiel-Raum erfunden. Es wird gezeigt, dass jetzt Theater gezeigt werden wird. Das hat mich, auch in der Synchronität mit der Musik, als Idee und als Ereignis sehr überzeugt, ja ergriffen – ein Spiel beginnt, eine Musik beginnt, ein Raum beginnt.
Dieter Schickling: Sagt denn dieses stumme Spiel am Anfang, dass schon eine Geschichte stattgefunden hat? Oder ist das sozusagen ein vorweggenommenes Schlussbild?
Sabine Zurmühl: Für mich war daran das Faszinierendste, dass ich aus dem Schlussbild heraus – das ist fast wie ein Wunder – plötzlich den ganzen „Ring“ nochmal ganz anders gesehen habe, weil man aus der Perspektive von Alberich guckt. Das ist ein bemerkenswerter Wechsel der Identifikation, und ich denke, das ging nicht nur mir so. Am Schluss habe ich jedenfalls gedacht: Alberich ist der Fortsetzer – und das ist auch das, was ich in mir wiedererkenne, wiedererkennen muss: dieses „Haben Haben Haben“, das Nicht-Bewältigen-Können, das Geduckte darin und der ständige Druck, das Handausstrecken nach jenen, die letztendlich nichts einlösen. Das ist sehr schön, dass aus dem letzten Moment heraus plötzlich ein anderer Schein auf die anderen Abende fällt, dass einem aus dem Blickwinkel von Alberich heraus vieles deutlicher wird.
Dieter Schickling: In der Tat hängt an der Figur des Alberich ja sehr viel im „Ring“.
Reinhard Baumgart: Schon der Titel! Es heißt nicht „Wotans Scheitern“, sondern „Der Ring des Nibelungen“. Der Nibelung ist Alberich, und Alberich bleibt übrig. Wir wissen alle nicht, was aus ihm wird, das hat auch im Text eine starke Stütze. Wobei grundsätzlich wichtig ist anzumerken, dass wir nicht nur Alberich gesehen haben, sondern, um das Bild vollständig zu schildern, auch eine Menschenmenge. Wir sehen am Anfang Menschen, die Alberich beobachten, wir sehen am Ende eine ganz andere Menschengruppe offenbar Bilder eines Untergangs im Fernsehen beobachten, das heißt, am Anfang und am Ende erscheint ein Publikum auf der Bühne. Auch das ist ein wichtiges Element des Bogens.
Harry Kupfer: Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen war, dass der „Ring“ eigentlich nicht zu Ende komponiert ist. Der „Ring“ hat einen offenen Schluss. Es ist nicht so, dass hier eine Welt entsteht und dann untergeht, sondern es ist ein Teil der Welt, der am Schluss der Geschichte untergeht; schließlich gibt es diese bedeutsame Regiebemerkung Wagners, dass Männer und Frauen Zeugen des Untergangs werden und übrig bleiben. Wenn man sich die verschiedenen Schlüsse ansieht, die Wagner vorhatte zu komponieren, muss man feststellen, dass er an Verbalem von Mal zu Mal mehr weggelassen hat. Beim Schlussmonolog Brünnhildes in den ersten Fassungen handelt es sich noch um Rezepturen, um Lösungsvorschläge, die er sich aus welchen Religionen und Philosophien auch immer herausgefiltert hat. Davon ist später nicht mehr die Rede. Er lässt Brünnhilde nur noch über die Liebe sprechen und überlässt die Entscheidungen dem Publikum.
Die Frage, ob der Stern vielleicht doch noch bewohnbar sein kann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, steht am Schluss – und alles andere in der Musik, in diesem Stückchen „Prinzip Hoffnung“, im Sieglinden-Thema, das, wenn man es etikettieren wollte, sicher kein Liebes-Thema der Sieglinde ist, sondern eher das Thema des Lebens. Das ist die Melodie, die aus Sieglinde in dem Moment ausbricht, wo sie erfährt, dass sie ein Kind erwartet, also Leben in sich trägt. Also: Ein Teil der Welt geht unter – wir erfahren im Stück, warum dieser Teil der Welt untergeht, untergehen muss –, aber es geht weiter, mit dem offenen Schluss der Möglichkeit.
Davon ausgehend war es – um zu erklären, wie wir zu dem Anfangsbild gekommen sind – nur noch ein Schritt weiter zu sagen: Es ist ein Stück, ein Ausschnitt von Entwicklung, der mit einer ersten Katastrophe anfängt, mit der etwas auf den Punkt gebracht wird, bis hin zur nächsten mit der Möglichkeit des Neubeginns. So ist es doch immer wieder: Es geht etwas unter und es entsteht immer wieder etwas. Einige Kritiker hatten erwartet, dass dieses Bild bleibt, dass wir mit diesem Bild auch aufhören. Das wäre natürlich mechanistisch und völlig falsch, weil sich Entwicklungen anders vollziehen.
Unter dem Aspekt vom Schluss her ist für mich eigentlich auch der Streit um den Anfang beendet. Es geht musikalisch keineswegs mit dem Ur-Anfang der Welt los; es ist, wie Boulez das analytisch dargestellt hat, schon geschichtetes musikalisches Material, das nicht mit einem Ton beginnt oder aus dem Nichts. Und es endet auch nicht endgültig, sondern es endet etwas und es bleibt etwas übrig. Für mich war es durchaus im Sinne Wagners, den Ausschnitt zu zeigen, und zwar zusammen mit dem, was er an Hoffnung oder Nicht-Hoffnung für das Danach hat. Somit musste auch der Ausgangspunkt, das Davor, in einem Bild entstehen. Ob dieses Bild nun klar genug ist, ob es das ausdrückt, was konzeptionell zumindest gemeint war, ist eine andere Frage.
Dieter Schickling: Natürlich teile ich diese Auffassung. Es wird im „Ring“ ausdrücklich davon geredet, dass es eine Vorgeschichte gibt, zum Beispiel als Wotan den Speer aus der Weltesche genommen hat. Am Schluss ist in der Tat nicht die ganze Welt untergegangen, und nicht umsonst hat sich Wagner um diesen Schluss so viele Gedanken gemacht. Der „Ring“-Schluss ist das einzige, wo er konzeptionell immer wieder Änderungen vorgenommen hat; ansonsten ist er über eine Riesenstrecke an Jahren ungeheuer sicher gewesen. Was allerdings nicht heißen soll, dass bei diesem Schluss keine Absicht dahintersteckt, im Gegenteil. Natürlich ist es Absicht, dass Alberich nicht untergeht und dass da plötzlich Männer und Frauen dem Untergang zusehen. Bei Wagner geht Herrschaft unter, Herrschaft ist zerstört worden. Diese Menschen leben weiter, und Wagner sagt nicht, was sie damit wohl anfangen. Das ist ein sehr offener Schluss, offen mit einem Hinweis, der – ich sage es jetzt mal ganz platt – meint: Wenn ihr euch nur ordentlich liebt, dann wird’s schon klappen!
Harry Kupfer: Die Teufelsklaue ist natürlich gleich dabei, denn das Prinzip Liebe in Brünnhilde funktioniert ja auch nicht!
Dieter Schickling: Aber es hat alles verändert. Es hat zwar Brünnhilde nichts genutzt, aber es hat den Untergang von nicht legitimer Macht ausgelöst – Wotans Macht wird immer als nicht legitim hingestellt –, wobei Wagner interessanterweise an ihre Stelle nun keine wie auch immer geartete legitime Macht setzt. Das hatte er vielleicht einmal vor; Siegfried sollte ein Held sein und Wotan gewissermaßen ablösen, dementsprechend war „Siegfrieds Tod“, der erste Entwurf von „Götterdämmerung“, noch eine große tragische Oper. Viel später hat Wagner dann einmal gesagt, dass Siegfried und Brünnhilde gar nicht tragisch seien, weil sie gar nicht wüssten, was geschieht. Sie sind also Werkzeuge in einem Prozess, als Personen aber sind sie keine tragischen Figuren, weil sie unbewusst sind.
Reinhard Baumgart: Bei Brünnhilde stimmt das nicht ganz, denn sie singt „dass wissend würde ein Weib“. Sie sieht am Ende, wird sehend gemacht; Siegfried hingegen sieht nichts. Noch eine Anmerkung zum Ende: Es ist deshalb besonders offen, weil ausgerechnet am Schluss des „Ring“ – in diesem fast pedantischen Motivteppich, wo alles und jeder sein Thema hat, das unendlich variiert, moduliert und in neuen Farben gezeigt wird – ein ganz und gar unbenutztes Motiv auftaucht. Könnte das nicht heißen, dass hier eine neue Geschichte beginnt?
Dieter Schickling: Wagner hat das bewusst gemacht, zumindest hat er das behauptet. Er soll zu Cosima gesagt haben, wie gut es sei, dass er sich das bis zum Schluss aufgehoben hat. Es ist ein so charakteristisches Motiv, dass es bei ihm Absicht sein muss, es nie mehr zu verwenden, obwohl es eine Fülle von Anlässen dazu gäbe. Im übrigen muss man dieses Motiv auch in Verbindung mit dem Text sehen. In der „Walküre“-Partitur steht „O hehrstes Wunder“, so dass es sich auf das Kind bezieht; im Buch jedoch heißt es „Du hehrstes Wunder, herrliche Maid!“, das heißt, es ist eine Anrede an Brünnhilde. Sie ist das Wunder! Ob das „O“ jetzt ein Fehler ist oder Absicht, weiß ich allerdings nicht.
Reinhard Baumgart: Mir erscheint es eher als ein Motiv der Heimsuchung. „O hehrstes Wunder!“ meint doch nichts anderes als: Ich hab den Erlöser im Bauch.
Harry Kupfer: Es ist noch viel einfacher. Dass gerade am Schluss dieses Stücks neu entstehendes Leben steht, ist unendlich rührend – und es ist bewusste schöpferische Heimtücke von Wagner, dass er sich das Motiv oder besser gesagt das Thema dafür aufgespart hat. Es hat doch eine unglaubliche Bedeutung, dass gerade am Schluss, wo ein Teil dieser Welt, ein Teil dieser Ordnung verbrennt und kaputtgeht, wo etwas ganz Neues entstehen muss, aber alle Fragen noch nicht gelöst und alles noch offen ist, dieses Thema des Lebens kommt!
Reinhard Baumgart: Ich würde bei der Bezeichnung des Themas noch vorsichtiger sein und sagen: Das Mindeste, was man behaupten kann, ist, dass am Schluss das Thema kommt, das weiter weist. Ob es sich da um ein Wunder handelt, ob es das Leben ist uund so weiter, weiß ich nicht. Jedenfalls weist es nach vorn, ausgerechnet am Schluss wird nach vorn verwiesen. Das ist also ein Schluss, der eben nicht Schluss machen will.
Harry Kupfer: Wagner war im Erklären dessen, was er wollte, nicht nur in seinen Büchern oft sehr geschwätzig. Im „Tristan“ zum Beispiel erklärt Isolde im Liebestod noch genau, was sie will und was sie denkt. Am Schluss des „Ring“ hingegen wird, was sehr erstaunlich ist, nichts mehr erklärt. Da ist nur noch Musik, die man verstehen mag oder auch nicht. Ich finde diesen Schluss sehr weise und sogar sehr progressiv. Wagner wurde oft vorgeworfen, dass er da zurückgenommen hat; ich sehe das nicht so. Auf das Problem, das mit dem „Ring“ angeschnitten wird, gibt es nämlich keine Faustregel-Antwort. Man kann also – und das war die Absicht der Inszenierung – nur folgendes machen: Bei diesen ganz unterschiedlichen Individuen unten im Zuschauerraum über die Erzählung der Geschichte bis hin zum offenen Schluss Gedanken und Fragen wecken – nicht Fragen, die zugespielt werden, denn das wäre ja eine Bevormundung des Publikums, sondern Fragen, die dazu provozieren, selbst nach Antworten zu suchen. Diese Möglichkeiten gibt das Werk, gibt, so glaube ich, auch die Inszenierung, gibt letztendlich natürlich die Musik.
Noch eine Erklärung zu Alberich: Ich bin sehr überrascht gewesen, dass das so eine große Rolle gespielt hat, ob er am Anfang gleich zu erkennen ist. Alberich liegt an dieser Stelle, erhebt sich dann vier Minuten später, seine Identität aber bekommt er eigentlich erst in dem Moment, wo das Gold aufleuchtet und er von den Mädchen ablässt. Alberich wird erst zu Alberich, wenn er sich dem Gold zuwendet, wenn die Idee der Macht und des Machtgebrauchs bei ihm entsteht. Deshalb macht mir das auch keinerlei Bauchschmerzen, wenn er am Anfang nicht gleich erkannt wird. Und dass er am Schluss nicht weg sein darf, liegt eigentlich auf der Hand. Wagner macht in der „Götterdämmerung“ etwas scheinbar sehr Ungeschicktes, nämlich dass er eine Figur, die da nichts mehr zu suchen hat, noch einmal auftreten lässt. Die „Götterdämmerung“, möchte man meinen, könnte genauso gut stattfinden ohne die Begegnung Alberich-Hagen, aber dieser geschickte Dramatiker bringt uns den Alberich, wo wir ihn längst vergessen haben, nochmals in Erinnerung. Das muss doch etwas zu bedeuten haben! Regisseure kommen da – vielleicht sind sie zu didaktisch oder zu pingelig – natürlich in die Versuchung zu sagen: Na, dann zeigen wir das auch!
Ganz abgesehen davon muss man ein Bild finden für das, was wir genauer zu definieren versucht haben – das Sieglinden-Thema, dieses Stückchen „Prinzip Hoffnung“. Uns sind dazu die Kinder eingefallen. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob das nun richtig ist. Für mich ist es von vielen hunderttausend Möglichkeiten, die es gibt, ein Versuch, das optisch sichtbar zu machen. Alberich darf natürlich nicht fehlen, sonst wäre das nur so ein billiger utopischer Ausblick nach dem Motto: Naja, die Kinderchen, die gehen schon ihren Weg und die machen’s besser! So ist es ja gerade nicht. Die Gefährdung ist auch wieder da, die Gefährdung für die nächsten und für alles, was da folgt.
Dieter Schickling: Dass ich Alberich am Anfang nicht gleich erkannt habe, ist eher mein Problem. Man schaut auch auf anderes, und ich habe gar nicht mitbekommen, dass die Figur, die da liegt, plötzlich aufsteht. Wichtiger ist, dass ich auch nicht verstanden habe, was sich in der 1. Szene „Rheingold“ zwischen Alberich und den Rheintöchtern abspielt. Dass der ganze „Ring“ in Gang kommt, weil Liebesentzug stattfindet, fand ich nicht inszeniert. Und noch etwas: Es gibt im „Ring“ eine Oben-und-unten-Symbolik, die Wagner von den moralischen Kategorien her gerade in dieser Szene sehr genau durchgeführt hat. Für ihn sind oben immer die Schlechten und unten sind die, denen man mehr Gutes tun müsste. Dem wird die Inszenierung nicht gerecht; jedenfalls habe ich es so empfunden, was durchaus ungerecht sein kann, denn ich habe es buchstäblich nur einmal gesehen und dabei sicherlich einiges verpasst, was gerade wichtig war und das mir beim zweiten Mal vielleicht nicht entgehen würde.
Harry Kupfer: Das zu erfahren ist wichtig für mich, denn wir müssen davon ausgehen, dass das Publikum immer nur einmal drinsitzt. Es müsste eigentlich auch beim ersten Mal verständlich werden. Dass nicht erkennbar wird, was die Rheintöchter mit Alberich anstellen, verwundert mich schon, denn deutlicher kann es kaum sein! Die Provokation, die von den Rheintöchtern ausgeht, ist übrigens von Wagner erfunden, und gleiches gilt für das Nicht-Einlösen dieser Provokation. Ehrlich gesagt hatte ich fast Angst, dass es zu penetrant ist, wie ich das inszeniert habe.
Sabine Zurmühl: Mir geht es immer so, dass ich die Rheintöchter als entschieden zu reduziert dargestellt empfinde, auch in diesem „Ring“: Wahrscheinlich liegt das schon an dem Wort Töchter, natürlich auch an dieser erotischen Provokation, die von ihnen ausgehen soll. Was die Rheintöchter auch an matriarchalen Zusammenhängen symbolisieren, erscheint zwar deutlich nur im 3. Akt „Götterdämmerung“, wenn sie Siegfried mahnen und, als er den Ring schließlich weggeben will, feierlich sagen, nun wollen wir ihn auch nicht, aber hier sieht man, dass in den Gestalten viel mehr angelegt ist. Ich ärgere mich jedes Mal furchtbar, wenn ich sehe, dass die Rheintöchter die Phantasie von Regisseuren zu nichts anderem in Gang setzen als zu dieser sehr oberflächlich verstandenen Form der Lockung. Sicher locken die Rheintöchter Alberich, aber sie durchschauen das auch. Es geht hier um eine sehr viel existenziellere Form, ihn zu locken und dann sozusagen zuzuschauen, wie die Ersatzlust entsteht.
Harry Kupfer: Vom Goldraub werden sie allerdings überrascht und zutiefst verstört. Es ist für mich so: Sie ergötzen sich oder schauen zu, solange es um die Provokation beziehungsweise die Nicht-Erfüllung der Provokation geht. Sie spielen das ja nur; im Text wird klar angekündigt, dass sie nicht vorhaben, das, was sie Alberich vorspiegeln, auch mit ihm einzulösen. Was sie mit ihm treiben, ist also ein ziemlich brutales Spiel.
Sabine Zurmühl: Trotzdem sollte man sich vor Augen führen, dass diese Grundsituation, dieser Konflikt zwischen Alberich und den Rheintöchtern, auch ein Liebeskonzept enthält, das in seinem Ausbleiben – weil, am Beispiel von Alberich, die Liebe nicht gelebt werden kann – letztendlich diese ganze Folge von Verwirrungen, von Schmerzen, von Verletzungen und weiteren Konflikten nach sich zieht. Wenn am Anfang nur diese sehr verkürzte Form von flirrigem Anmachen stattfindet, ist mir das zu wenig, wenn man bedenkt, was für eine Katastrophe daraus folgt. Alberich will nicht nur einfach – so sagt man das doch heute – eine kurze Nummer machen! Aber genau so werden die Rheintöchter immer gezeigt; das war auch bei Chéreau so, mit diesen französischen Chichi-Mädchen. Mir fehlt da einfach eine Dimension.
Harry Kupfer: Gerade darüber habe ich viel nachgedacht. Wir haben uns gequält mit dieser Szene, um in dieser Richtung irgendetwas zu finden! Ich glaube, Wagner hat an dieser Stelle tatsächlich nur die „Anmache“ gemeint. Alberich verwirft im Handumdrehen die eine, die ihm entwischt, für die nächste, das heißt, die Frauen sind für ihn austauschbar. Hier wird etwas von der Begegnung der Geschlechter abgehandelt, das nicht den hohen Anspruch hat wie später zum Beispiel in den Begegnungen zwischen Siegmund und Sieglinde oder, anders wieder, zwischen Brünnhilde und Siegfried. Wagner, der im „Ring“ also sehr unterschiedliche Formen der Begegnung zwischen den Geschlechtern aufgegriffen hat, scheint mir für die 1. Szene „Rheingold“ etwas gewählt zu haben, das fast nur diese Äußerlichkeiten zulässt. Die Dimension, die Sie meinen, gibt es hier kaum. Ich muss da als Regisseur eine Bankrotterklärung abgeben, denn ich habe sie durchaus gesucht, aber im Material an dieser Stelle war nichts zu finden.
Reinhard Baumgart: Diese Interpretation und Ihre Erwartungen in Ehren, Frau Zurmühl, aber ich glaube, das wird von Musik, Gesang, Text und Figuren nicht eingelöst. Was ich hier erkenne, ist ein flirrendes, anonymes erotisches Gewirr, aber keine Personen. Es handelt sich um eine entpersonalisierte Erotik: Sexualität wird verspielt, und dass sie sich sofort auf Gold umlenken lässt, in der Gleichung Macht = Gold, mag einleuchtend sein. Mir ist in diesem Zusammenhang etwas anderes wichtiger: Am „Rheingold“-Schluss gibt es dieses bedeutungsvolle „Traulich und treu ist’s nur in der Tiefe“. Davon verrät der Anfang nichts, auch beim großen Chéreau nicht, der die Rheintöchter als Offenbach-Nymphchen zeigte, also so dargestellt hat, als wären Wagners erotische Phantasien nur vom Bordell geprägt. Noch schwer wiegender ist für mich die Frage: Wachsen die Rheintöchter dann wenigstens in der „Götterdämmerung“ zu ihrer anderen Größe hoch?
Dieses Turngerüst im 3. Akt „Götterdämmerung“ hatte nun leider keine Ausdruckskraft, zwang aber die Darstellerinnen, in immer neuen Positionen immer neue Gesangsteile abzuliefern, wobei mir jeder Positionswechsel genau, fast pedantisch kalkuliert erschien. Ob oben, ob unten, ob links, ob rechts: Alles war wohl genau überlegt, aber die viel kritisierte Motorik, die sich für mich sonst immer überzeugend aufgelöst hat, blieb in dieser wichtigen Szene ganz leer. Dass die Rheintöchter nun wirklich zu etwas wie kleinen Schicksalsgöttinnen werden, dass sie als Personen und in ihrer Funktion im Drama durch die Musik hier eine ganz andere Qualität bekommen, das habe ich in dieser Turnszene kaum erfahren können.
Sabine Zurmühl: Sie sagen im Grunde damit nur eine andere Seite dessen, was ich meine.
Reinhard Baumgart: Wir erleben aber nur in der „Götterdämmerung“ nicht nur ganz andere Rheintöchter, es ist auch eine andere Situation. Diese Szene ist das berühmte retardierende Moment vor der Katastrophe, wo alles noch verhindert werden könnte, was aber niemals passiert. Es sind die Rheintöchter, die wir zwei Abende lang überhaupt nicht mehr gesehen haben und die inzwischen auch irgendetwas erlebt haben, die diese wichtige Rolle spielen.
Sabine Zurmühl: Schon in der 1. Szene „Rheingold“ ist ein Ahnung davon da, die Ahnung davon, was sie an Funktionen ausüben werden. Was ich an Dimension vermisse, ist in der „Götterdämmerung“ deutlich angelegt.
Harry Kupfer: Das Bühnenbild für die Rheintöchterszene in der „Götterdämmerung“ habe ich mir selber konstruiert. Ich wollte diese Röhren haben, schon einfach um zeigen zu können, dass Zeit und Vernichtung auch über die Rheintöchter hinweggegangen sind. Außerdem bot dieses Bild die Chance, in den Röhren auf- und abzusteigen, wobei mir besonders wichtig war, dass die Rheintöchter bei ihrer Prophezeiung die obere Position haben. Aber vielleicht – darüber muss nachgedacht werden – ist an dieser Stelle einfach zu viel Tüftel-Choreographie der naivere Biss auf die Szene.
Was die 1. Szene „Rheingold“ betrifft, so sehe ich im Moment keine Chance, den Rheintöchtern etwas von jener Ahnung zu geben, von der die Rede war. Grundsätzlich sehe ich die Rheintöchter ebenso wie Erda als eine Kategorie von Frauenwesen, die mit dieser Männergesellschaft eigentlich nichts zu tun haben. Bei Erda, dieser Ur-Mutter, diesem Ur-Prinzip, lässt es sich leichter machen, das Matriarchalische mit ins Spiel zu bringen – auch wenn Erda eine fast schon anachronistische Position einnimmt, weil sie nur noch warnen und nichts mehr bewirken und verändern kann; ihre Kassandra-Rufe verhallen natürlich ungehört. Bei den auch anders konzipierten Rheintöchtern wird’s schwieriger. Wir werden versuchen, eine Lösung zu finden, damit man wenigstens in der „Götterdämmerung“ klar erkennt, was dort gemeint ist. Inszeniert und beabsichtigt – da stehe ich reinsten Herzens da – ist es, aber wahrscheinlich viel zu ausgetüftelt. Sowas passiert einem ja mal, dass es gerade dann daneben geht, wenn man glaubt, alles bedacht, berechnet und entsprechend choreographiert zu haben.
Dieter Schickling: Wobei anzumerken ist, dass die Rheintöchter mit Sicherheit die rätselhaftesten Figuren im ganzen „Ring“ sind. Von allen anderen weiß man, wo sie hingehören, welche Beziehungen sie haben und so weiter. Bei den Rheintöchtern weiß man gar nichts, bis hin zu der nicht zu beantwortenden Frage, wer eigentlich ihr Vater ist, von dem sie reden und der ihnen aufgetragen hat, das Gold zu hüten. Und wenn’s denn Töchter sind, mit welcher Mutter? Es ist sinnlos, darüber Mutmaßungen anzustellen. Ich glaube, die Rheintöchter sind Chiffren für Wagner, ideologische Chiffren, am Anfang meinetwegen – aber ich will mich darauf nicht festlegen – für die sexuelle Form der Liebe. Immer wenn sie auftauchen, stehen sie für etwas anderes, sie haben also keine personelle Identität. Erst sind sie wie ungezogene Kinder und wahnsinnig oberflächlich, doch schon in der letzten „Rheingold“-Szene sind sie mit ihrer letzten Sentenz ungeheuer klug.
Reinhard Baumgart: Da wirken sie auf mich wie Undine, wie Frauen aus dem anderen Element, die, verkürzt gesagt, gegen die Männerwelt und ihre Berechnungen stehen.
Dieter Schickling: Man muss sich vielleicht auch über die Zeitabläufe Gedanken machen. „Rheingold“ ist zwar musikalisch ein durchgängiges Stück, vom Ablauf her aber ist es als eines vorzustellen, das sicher nicht an einem Tag spielt. Zwischen der 1. und der 3. Szene müssen mindestens ein paar Monate liegen, wenn man bedenkt, was Alberich inzwischen alles auf die Beine gestellt hat.
Reinhard Baumgart: Politisch gesehen sind das vielleicht sogar Jahrtausende.
Harry Kupfer: Ein Aspekt kommt noch hinzu: der gewaltige Entwicklungs- und Zeitsprung, den Wagner gemacht hat vom ersten Skizzieren der Dichtung bis hin zur fertigen Komposition. Wenn man sich zum Beispiel die Rheintöchter genau ansieht, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass irgendwo im Innersten von Wagner, in seinem Kopf, in seinem musikalischen Gefühl, Kundry schon erfunden war. Was bei Kundry eine ganz entscheidende Rolle spielt, das heißt die Fragen zur Funktion der Frau, ist bereits für die Rheintöchter wichtig. Hier wie in der klassischen Undine-Rolle manifestieren sich die Ängste der Männergesellschaft und das Nicht-mehr-Verstehen-Können des Weiblichen.
Ganz abgesehen von solchen Überlegungen glaube ich, dass man wegen der vielen Sprünge in der Entwicklung des „Ring“ viele Dinge vielleicht auch gar nicht erklären kann. Von „Siegfrieds Tod“ bis zum Kompositionsende ist doch so viel hin- und hergelaufen, von hinten nach vorne, von vorne wieder nach hinten, mit Sprüngen dazwischen, doppelt hin- und rückläufig. Dadurch sind, was Wagner gar nicht gemerkt haben muss, Vertiefungen, neue Gedanken und Aspekte hinzugekommen, die es so furchtbar schwer machen, über das Ganze einen großen Bogen zu ziehen. Ich glaube, dass man diese Sprünge, Ungereimtheiten und Widersprüche nicht zudecken soll. Man muss sie vielmehr belassen, denn sie provozieren wichtige Fragen.
Von Wotan und Brünnhilde war noch viel zu wenig die Rede. Was Wotan betrifft, war ich spontan erst einmal enttäuscht, was ich fälschlicherweise zunächst auf John Tomlinson bezogen habe. Später ist mir klar geworden, dass das ja gewollt sein muss! Man weiß zwar schon im „Rheingold“, dass Wotan auch ein Schuft ist, aber etwas anders als bei Chéreau ist es mir schwer gefallen, für diese Wotan überhaupt noch Sympathien aufzubringen.
Harry Kupfer: Es ist natürlich viel komplizierter. Bei Wotan kommt man mit Kategorien wie negativ und positiv nicht weit.
Dieter Schickling: Ich habe mir unmittelbar nach den Aufführungen Aufzeichnungen gemacht, bei den Wotan-Brünnhilden-Szenen steht immer „Sehr schön“. Es hat mir sehr gut gefallen, dass Wotan und auch Brünnhilde diese Komplexität haben. Sie sind keine „guten“ oder „schlechten“ Figuren, ja im ganzen „Ring“ gibt es fast keine Figur, die eindeutig gut oder schlecht ist. Ansätze sehe ich da zum Beispiel bei Mime, aber selbst hier bricht Wagner an einer bestimmten Stelle das Bild und zeigt Mime als den eigentlich Sympathischeren gegenüber dem plumpen Siegfried. Wotan und Brünnhilde sind zwei ganz komplexe Figuren mit unglaublich vielen Problemen, die mal sympathisch und mal unsympathisch sein müssen, wenn man diese Begriffe überhaupt anwenden kann. Die Beziehung zwischen diesen beiden, die sich ja auch lieben, finde ich sehr schön herausgearbeitet, schon in dieser Hojotoho-Pseudo-Gefechtsszene.
Reinhard Baumgart: Wotan ist die ambivalente Figur schlechthin, wie überhaupt Wagner ein Genie der Ambivalenz ist. Wer sich da festlegen will, ob positiv oder negativ, der muss sich erst einmal selbst überprüfen. Ich halte es auch für ein ziemlich naives Unterfangen, damit zu argumentieren: Aber der Autor hat gesagt … ! Der Autor hat im Grunde, wenn er das Werk aus der Hand gibt, gar nichts mehr zu sagen. Er hat sein letztes Wort im Werk, und das Werk ist vieldeutig. Was konkret Wotan und seinen Sängerdarsteller betrifft, so stelle ich mir vor, dass es einfach spannend sein muss, mit einem bestimmten Sänger zu arbeiten – mit seiner Statur, seiner Stimme, seinen Ausdrucksmöglichkeiten! Da kann es doch nicht darum gehen zu sagen: Ich habe ein ganz bestimmtes Wotan-Bild in mir und das soll er nun auf Teufel komm raus realisieren …
Harry Kupfer: Den haben wir gesucht! Tomlinson war für uns das, was wir vorhatten mit Wotan. Ich wollte einen kraftvollen Menschen, der Widersprüche spielen und singen kann, der die Kraft des Jungseins mitbringt.
Reinhard Baumgart: Was ich vor allem gesehen habe, ist eine gewisse Entmächtigung oder Entthronung von Wotan – und das geht natürlich vielen konventionellen „Ring“-Besuchern gegen den Strich. Wotan ist doch eine Figur, die ungeheuer viel Sentimentalität auf sich zieht. Adorno hat einmal gesagt: „Das ist der ewige Sozialdemokrat“. Und weil bei diesem Sozialdemokraten, der ständig Kompromisse sucht und guten Herzens immer wieder etwas Fieses macht, natürlich alles schief geht, kann man über ihn sehr gerührt sein. Diese Rührung wird nun – das ist sicher planvoll – in diesem „Ring“ nicht ausgelöst. Das liegt auch daran, dass sich in der Paarung Polaski-Tomlinson für mich das Kräfteverhältnis zu Brünnhilde hin verschoben hat. Er ist immer gebeutelt, sie ist eigentlich von Anfang an mächtiger und spielt die unterwürfige Tochter nur. Auch der Abschiedszauber wird uns verweigert, dieser sentimentale, sich selbst bedauernde Abschiedsschmerz von Wotan, den wir sonst in diesem Moment erleben oder erleben wollen.
Harry Kupfer: Man muss bedenken, dass hier etwas ganz Unglaubliches passiert! Ich habe in Aufführungen am Schluss der „Walküre“ oft nur reine Abschiedsszenen gesehen zwischen Vater und Tochter. Hier geschieht aber etwas ganz anderes: Eine ganz kluge Frau gibt einem Mann, der gerade behauptet hat, dass er aufgeben will, eine neue Utopie ein und stellt sich für diese Utopie zur Verfügung. Erst da begreift Wotan und ist bereit, sie in das Feuer einzuschließen und nicht zu bestrafen, indem er sie einfach auf die Straße legt, erst da bricht in ihm „Du kühnes, herrliches Kind!“ aus. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was sie ihm eingeredet hat! Brünnhilde begründet das Menschenpaar der Zukunft, will mit Siegfried all das schaffen, was Wotan nicht hingekriegt hat.
Reinhard Baumgart: Sie intrigiert auch ihn.
Harry Kupfer: Natürlich manipuliert sie ihn. Das letzte Zwiegespräch vor dem Ausbruch Wotans ist piano pianissimo komponiert – nur leider hört man das nur ganz selten, und ich küsse Barenboim die Füße dafür, dass er es so macht! Wenn sie ihm von Siegfried erzählt und Wotan immer noch ärgerlich abwehrt, ist das Tempo zwar heftig, aber leise muss das sein! Diesen Plan, diese Utopie muss sie ihm fast ins Ohr flüstern! Und dann dieser Jubel, dieser Abschiedsrausch, wo sie beide zu Boden gehen und die Erde küssen – begreifbar, denn es geht ja weiter, auch für Wotan.
Reinhard Baumgart: Sie betont immer – und deshalb können die beiden gar nicht eng genug miteinander verschmelzen –, dass sie eigentlich nur ausspricht, was er denkt. Sie ist seine Stimme, wobei es ganz zweideutig ist, ob sie nicht doch nur ihren Willen durchsetzt.
Dieter Schickling: „So küss ich die Gottheit von dir“ heißt auch: Jetzt wirst du ein Mensch. Das ist ursprünglich als Strafe gemeint, wirkt sich aber gegenteilig aus, weil Gottheit in Wagners Terminologie eher negativ besetzt ist. Die Inszenierung zeigt das am Schluss. Wotan weiß schließlich, dass das, was er ausspricht, keine Strafe mehr ist. Er akzeptiert die Erkenntnis von Brünnhilde.
Reinhard Baumgart: Das heißt auch, dass es nicht einfach darum geht, dass ein Vater seine Tochter zur Hochzeit freigibt. Diese kleinbürgerliche Dimension ist hier wirklich einmal gesprengt.
Sabine Zurmühl: Gerade mit dem Verhältnis Brünnhilde-Wotan habe ich mich sehr intensiv beschäftigt. Ich habe mir immer einen Regisseur gewünscht, der eine Interpretation gibt, wie ich sie für mich gefunden habe, das heißt, der die Entmächtigung dieses längst machtlosen Vaters zeigt, welcher seine Zukunft, seine Utopie und auch seine Überschätzung auf die Tochter überträgt, die das annimmt und dadurch eine mütterliche Komponente bekommt. Dieser Wunsch ist jetzt in Erfüllung gegangen. Aber merkwürdigerweise hatte ich dabei das Gefühl, dass sich durch diese Interpretation die Spannung zwischen den beiden verringert hat. Wotan zeigt hier seine Entmächtigung schon so sehr, dass sie nicht mehr zu entdecken oder zu ahnen ist, dass es nicht mehr unsere Zuschauerarbeit ist, dies auch zu erkennen.
Harry Kupfer: Mir war wichtig zu zeigen, dass Wotan schon an einen bestimmten Punkt gekommen ist. Dafür spricht zum Beispiel die Szene mit Fricka. Es ist nicht so, dass Wotan in einem leidigen Ehegezänk kleinbeigibt, sondern vielmehr begreift er hier, dass er nun so handeln muss, wie Fricka es ihm aufoktroyiert. In der Auseinandersetzung mit Brünnhilde beginnt dann etwas Neues. Sie setzt nicht etwa da an, irgendetwas zurechtzubiegen, was Wotan nicht darf, sondern sie beginnt an einem völlig neuen Punkt, an dem auch Wotan frei ist und sie gewähren lassen kann. Bei einer solchen Interpretation verliert man wohl, was mir auch oft vorgeworfen worden ist, dieses Gerührtsein über den Abschied, aber man gewinnt auch etwas, nämlich eine neue szenische Spannung.
Ein anderer Vorwurf bezieht sich auf den Waldvogel, das heißt auf die Frage, warum Wotan, der doch resigniert hat, den Waldvogel so sichtlich manipuliert. [Anmerkung der Redaktion: Die Figur des „Siegfried“-Wanderers wurde aus zweckmäßigen Gründen durchgängig als Wotan bezeichnet.]
Harry Kupfer: Darauf kann ich nur mit einer Gegenfrage antworten: Warum hat Wagner dann die Wissenswette geschrieben, die sich doch nur darauf begründet, dass Wotan eben nicht resigniert hat? Wotan plant auch im Moment tiefster Depression und Ausweglosigkeit weiter – und das macht vielleicht den Unterschied aus zum Wallstreet-Boss. Seine Gedanken gehen immer ins Zukünftige. Die Wissenswette findet nur aus einem Grund statt: Der flügge gewordene Siegfried beziehungsweise Mime muss erfahren, wie Nothung wieder zusammenzukriegen ist, damit die Geschichte dort hinkommen kann, wo Wotan und Brünnhilde sie haben wollen. Mime kann das Schwert nicht zusammenschweißen, alle seine Versuche sind daneben gegangen, Siegfried ist unwissend. Und jetzt bemüht sich Wotan, was er schon gar nicht dürfte, wenn er sich aus allem raushalten soll, in die Höhle und verleitet Mime zu dieser Wissenswette.
Was ihm frommt, soll er fragen, die wichtigste Frage wäre natürlich: Wie kriegen wir Nothung wieder hin? Aber dieses Rindvieh fragt das nicht! Die erste Hälfte der Wette geht sinnlos vorüber, Wotan inszeniert die zweite – nicht um Mimes Kopf ans Messer zu liefern, sondern damit der endlich aufs Thema kommt. Was wiederum ausbleibt. Und wo Wotan nun gehen muss, da sagt er’s ihm: „Nur wer das Fürchten nie erfuhr, schmiedet Nothung neu!“ Mime kapiert das sofort, und schließlich geht Siegfried selber ran. Das ist ein so genialer dramaturgischer Streich!
Ich habe übrigens lange gebraucht, um zu begreifen, was die Wissenswette eigentlich soll. In einem guten Stück, einem guten Drama ist es doch immer so, dass es Unterschiede gibt zwischen dem, was die Figuren von sich selbst behaupten und wie sie tatsächlich handeln. Diese Aufsplittung ist gerade auch bei diesem herrlich ambivalenten und widersprüchlichen Wotan gegeben. Es war nur noch ein kleiner Schritt zu sagen, wir treiben das mit dem Waldvogel auf die Spitze. Es wird, so hoffe ich, in zehn Jahren nicht mehr notwendig sein zu zeigen, dass Wotan den Waldvogel manipuliert, denn dann dürfte jedem klar sein, dass der Waldvogel – er schwätzt ja nicht ein Wort mehr als unbedingt notwendig ist! – nur ausspricht, was Siegfried wissen muss, um im Sinne des Plans von Wotan und Brünnhilde zu funktionieren. Abgesehen davon haben wir das nicht erfunden. Schon Chéreau und zwanzig vor und nach ihm haben ihn so gezeigt. Darum habe ich jetzt auch die Erregung um diesen harmlosen Vogel nicht mehr verstanden; ich dachte, dieses Problem sei ausgestanden.
Die Gegner dieser Sicht hängen sich immer an der Erklärung auf, dass der Waldvogel Angst vor Wotans Raben hat.
Reinhard Baumgart: Das ist so ein Punkt, wo die ganze Rechthaberei und Pedanterie besonders deutlich werden!
Harry Kupfer: Außerdem sagt das nicht der Waldvogel, sondern Wotan behauptet es Siegfried gegenüber, und zwar in einem Moment, wo er wütend auf ihn ist und sich wieder einmal furchtbar in die Enge getrieben sieht! Er hat einer Utopie gelebt, hat seinen Enkel von fern aufwachsen sehen und begegnet jetzt einer Generation, die er überhaupt nicht mehr versteht. Der Satz mit den Raben ist wunderschön, nur meint er nicht konkret, dass der Waldvogel Angst vor den Raben haben muss, sondern er steht in eine, viel höheren Bezugsgeflecht.
Reinhard Baumgart: Dass Wotan nicht loslässt, verrät sich nicht nur in der Wissenswette. Man bedenke nur, wie er diesen angeblich total freien Siegfried dauernd gängelt, bewacht und verfolgt.
Dieter Schickling: Gegen diese Sicht zu sein – und selbstverständlich ist der „Aktionskreis für das Werk Richard Wagners“ ganz besonders dagegen! –, kann nur aus jenem traditionellen falschen Konzept stammen, nämlich: Siegfried ist der Held des „Ring“, das heißt Wotan endet tragisch, aber Siegfried endet ganz besonders tragisch, weil er tot ist am Ende. Schade, denn wäre er nicht tot, wäre alles gutgegangen … Das ist logischerweise eine völlige Fehlinterpretation!
Reinhard Baumgart: Dass dem so nicht sein kann, zeigt sich an vielen Kernstellen. Schon zur Siegmund-Tragödie sagt Fricka sehr klug, dass es keinen Freien gibt und Wotan sie alle nur erfindet, manipuliert und nicht mehr loslässt. Genau das, nichts lernend aus einer Katastrophe, setzt er mit Siegfried noch vernichtender fort.
Dieter Schickling: Außerdem fragt man sich, woher, wenn nicht von Wotan, sollte denn der Waldvogel das alles wissen, was er Siegfried an Wichtigem sagt?
Reinhard Baumgart: Selbst nach dem erneuten Scheitern ergreift Wotan nochmals die Initiative, indem er Waltraute ausschickt, ihm den Ring zu holen, das heißt er schickt sie ja nicht, sondern das ist wieder so ein Gedanke, der ihm von einer Tochter von der Seele gelesen wird. Es ist verblüffend, wie die Töchter immer wieder tun, was eigentlich der Papa will. Hier spielt sich ein Drama der Delegation ab: Was ich nicht erreicht habe, werden meine Kinder und Kindeskinder schon schaffen!
Dieter Schickling: Eine psychologisch komplizierte Frage ist auch, warum Wotan plötzlich Siegfried den Zugang zum Felsen verwehrt. Eigentlich ist das vollkommener Unsinn! Genau das will er ja, er hat doch alles nur inszeniert, damit Siegfried da hingeht! In Wotan muss an dieser Stelle etwas passiert sein, nämlich er erkennt, dass es auch diesmal nicht funktionieren wird. Er macht also einen völlig unzureichenden Versuch, nochmals die Geschichte umzudrehen.
Sabine Zurmühl: Außerdem ist da plötzlich die Konkurrenz des Sohnes beziehungsweise Enkels. Es ist ein Unterschied zu sagen: „ Denn Einer nur freie die Braut, der freier als ich, der Gott!“ und diesem Freien tatsächlich gegenüberzustehen. Hier sind wieder zwei Seelen in seiner Brust. Einerseits hat er eben diese Entscheidung gefasst, andrerseits kann er sie aus Eifersucht und seinem Besitzdenken heraus nicht ertragen.
Harry Kupfer: Dass ist genau das Problem …
Reinhard Baumgart: Laios und Ödipus …
Harry Kupfer: Solange ein Kind unter der Obhut der Eltern aufwächst und man das, was man selber denkt und fühlt, in idealem Sinne weitergeben kann, ist alles schön und gut. Aber wehe, wenn der Sohn sich beispielsweise in einem Punk verwandelt und plötzlich mit rot gefärbtem Haar und so einer Bürste nach Hause kommt! Das ist vielleicht ein triviales Beispiel, aber so ähnlich ist es mit Wotan und Siegfried. Wotan schwebt auf einer Wolke utopischen Denkens und jetzt begegnet ihm die Realität, das heißt, es steht ihm jemand gegenüber, der sich völlig anders bewegt, der nicht erzogen, ja nicht einmal humanisiert ist. Wotan hingegen ist erzogen, Wotan hat Kultur! Mir kommt das ungefähr so vor, als wenn eine Persönlichkeit wie Thomas Mann plötzlich mit einem Enkel konfrontiert wird, der wirklich in der Gosse lebt und meinetwegen fünf Ringe durch die Nase trägt. Die zwei können sich wirklich nicht verstehen!
Genau das passiert hier auch. Siegfried ist, woran Wotan selbst mit schuld ist, unkultiviert, ist ein Wildling, ja Wotan ist bass erstaunt, was das für ein Gangster ist. Der soll die Weltidee tragen mit Brünnhilde? Nein. Wotan erkennt, dass das, was er mit der übernächsten Generation vorhatte, nicht funktionieren kann, also will er den Weg zum Felsen zumachen. Dieser Umbruch geschieht in einer Härte und Schnelligkeit, die ich genial finde. Überhaupt ist das einer der wunderbarsten und glaubwürdigsten Momente im ganzen „Ring“.
Dieter Schickling: Mit der ebenso genialen Aufhebung von instrumentellem Handwerkszeug, denn dasselbe Schwert, das am Abend vorher zerschlagen worden ist, zertrümmert jetzt denselben Speer. Normalerweise kann das nicht gehen, und das bedeutet letztlich, dass Speer und Schwert austauschbar sind. Es kommt nicht darauf an, welche Waffe man hat, sondern in welchem Bewusstsein man sie benutzt.
Reinhard Baumgart: Die Vieldeutigkeit geht noch weiter. Auch Nothung ist wiederum Wotans Schwert; er hat es gestiftet, er hat es letztlich zusammengefügt, er lässt sich von ihm schlagen. Ich glaube allerdings nicht, dass Wotan sich Siegfried entgegenwirft aus dem Wissen heraus, dass es schiefgehen wird. Sondern für mich ist das wieder ein Schritt Abdankung, ein Zeichen des Generationskonflikts, auch ein Erschrecken vor dem, was Freiheit wirklich bedeutet.
Dieter Schickling: Siegfried ist eben nicht der freie Mensch, sondern ein nicht humanisierter. Siegfried scheitert an sich selbst.
Harry Kupfer: Was ihm fehlt ist das, was man „humanitas“ nennt. Mime hat ihm nur beigebracht, was nützlich ist zum späteren Tatvollzug. Alles andere hat er sich ertrotzen und erkämpfen müssen. Dass Wagner nach der Skizzierung von „Siegfrieds Tod“ gemerkt hat, dass dieser Held nicht taugt zum Helden, dem verdanken wir letztendlich die Tetralogie. Aus dem, was er ursprünglich plante, ist ein ganz anderes Drama geworden, in dem Wotan zur Zentralfigur wird.
Dieter Schickling: Es ist Weltgeschichte geworden, während es vorher vielleicht eine andere Art „Tannhäuser“ war. Für Wagner hat sich die Siegfried-Figur völlig verändert, und zwar so weitgehend, dass die Lehre schließlich heißt: Es gibt keine freien Menschen – zumindest nicht während der „Ring“-Handlung.
Harry Kupfer: Das ist das Kernthema des „Ring“, das ist auch die Problematik der Wotan-Figur: Freiheit, Bindung, Ordnung und Moral. In den Problemen Wotans, der begonnen hat als Gesetzesverwalter und zum Gebraucher, zum Missbraucher der Macht wird, sind für mich die brisantesten Fragen des „Ring“ enthalten. Hier stellt sich – und dadurch wird das Stück für mich ganz aktuell und modern – die Frage nach der Organisation einer Gesellschaft unter dem Aspekt der Ordnung oder anders gesagt, es geht hier um Freiheit im Verzicht auf absolut anarchische Freiheit, das heißt, erst müssen Einsichten vorhanden sein, erst muss auf Egoismus verzichtet werden und erst dann kann man über den Gedanken von Demokratie überhaupt diskutieren! All das finde ich in der Wotan-Figur. Deshalb sehe ich im „Ring“ nicht nur die Mahnung, dass die Menschen die Möglichkeit haben, sich selbst und diesen Stern zu vernichten, sondern auch die große, verzweifelte Auseinandersetzung eines doch nicht so unpolitischen und nicht nur irgendwelchen Utopien aufsitzenden Mannes mit der Frage, wie man überhaupt leben kann beziehungsweise wie man das Leben unter dem Aspekt der Freiheit und der Gebundenheit in humanem Sinne organisieren kann.
Reinhard Baumgart: Mich interessiert noch ein ganz bestimmter Moment in Siegfrieds Laufbahn, der mich schon bei Wagner nicht ganz überzeugt, obwohl man da mehrere Erklärungen herbeischaufeln kann, jener Moment, wo er in die Welt der Gibichungen aufbricht. Wir wissen alle nicht, wie Siegfried und Brünnhilde das Projekt der Welterlösung bewältigen sollen, aber noch bevor das überhaupt anfangen kann, kaum dass er Brünnhilde gefunden hat, bricht er auf zu neuen Taten. Das kann ich mir nicht erklären.
Sabine Zurmühl: Also mich hat das nie gewundert!
Reinhard Baumgart: Ja, aber es ist ein gewaltiger Sprung und Bruch. Was bedeutet dieser Aufbruch, was bedeutet diese Verbrüderung mit den Gibichungen für das Welterlösungsprojekt? Wotan ist nicht mehr sichtbar, Brünnhilde, sich offenbar einer Männerwelt unterwerfend, lässt ihn sofort gehen. Chéreau hat das wunderbar gezeigt: Sie singt noch an ihn hin, er steht schon am Bühnenrand und guckt weg, er ist schon ganz woanders. Gerade hat sie ihm noch klargemacht, dass dieser Fels oder dieses Verließ ein Schutzraum ist, in dem sie sich vor der Welt verstecken können, sicher sind, bei sich sind und sich auch trauen können, da muss er schon wieder aufbrechen. Warum dieser plötzliche Umbruch?
Sabine Zurmühl: Ich habe Siegfried immer nur als aus dem Moment lebend empfunden, ohne jegliches ethisches Bezugssystem. Er lebt wie eine Raupe, die die Momente in sich hineinfrisst. So ist er auf Brünnhilde gestoßen, hat auch hier wieder nur in Schlagetot-Manier reagiert. Als sie ihm ihre Runen, ihre Weisheit anbietet, kann und will er das nicht annehmen, denn in dem Augenblick, wo für ihn der Reiz der Situation bekannt ist, ist es für ihn selbstverständlich, dass er nun wieder woanders hingeht. Wenn wir nun fragen, warum bleibt er nicht bei ihr, entwickeln wir schon wieder die Phantasie eines Liebeskonzepts.
Reinhard Baumgart: Wenn man es von Siegfrieds Psychologie her erklären will, ist er eben das ewige Kind, der Wolfsjunge. Alles muss er greifen, und kaum hat er es in den Mund gesteckt, muss er schon zum nächsten, das er wieder greifen kann und so weiter. Das ist klar, nur: Was bedeutet das für das Stück? Was folgt, kann doch nicht nur deshalb geschehen, weil Siegfried psychologisch so und nicht anders strukturiert ist.
Sabine Zurmühl: Der Schritt in die Welt der Gibichungen bedeutet für ihn, dass ihm jetzt als neues Experimentierfeld die Machtmöglichkeiten angeboten werden. Darauf steigt er sofort ein, dazu bräuchte er gar keinen Vergessenstrank. Es ist eine neue Situation, ein neues Betätigungsfeld, also hat er alles andere vergessen.
Reinhard Baumgart: Obwohl ich auch diese Musik lieber vor geschlossenem Vorhang hören wollte, schien mir Siegfrieds Rheinfahrt ein großer Moment der Inszenierung. Es geht hier nicht um den endgültigen Übergang von der Götter- in die Menschenwelt. Siegfried verlässt vielmehr auch die Natur endgültig. Das ist wie ein Abschied auf einer Blumenwiese, mit Wolken und viel Grün. Und plötzlich kommen diese Wolkenkratzer, diese zweite Welt, die eine Anti-Natur ist. Das Wolfskind schreitet in die Zivilisation.
Dieter Schickling: Das Staunen Siegfrieds, wenn er zu den Gibichungen kommt, ging mir, wie schon erwähnt, dennoch verloren, denn die Bühne ist bis auf die Projektionen leer. Der Unterschied zu dem, was man vorher gesehen hat, ist mir nicht groß genug. Bei Chéreau gab es diese Prunkhalle mit riesigen schwarzen Säulen …
Reinhard Baumgart: Lederstrumpf und Villa Krupp …
Dieter Schickling: Und auch in den Kostümen zeigt sich das, denn alle dort hatten Smokings an.
Harry Kupfer: Ein Eskimo steht vor Manhattan und sieht die Monroe …
Dieter Schickling: Trotzdem war mir in Kupfer/Schavernochs Bild der Gegensatz nicht stark genug. Noch etwas zu dem Problem, warum Siegfried so schnell wieder weggeht. Vielleicht stellt sich diese Frage nur, wenn man die Siegfried-Figur konventionell sieht. Wenn Siegfried der Held ist, kann man das nicht verstehen.
Reinhard Baumgart: Der Held im Feudal-Epos kann nur in der Welt ein Held sein.
Sabine Zurmühl: Er ist immer auf Aventiure.
Dieter Schickling: Genauso hat es Wagner erklärt. Er hat ausdrücklich gesagt, dass Siegfried auf Raubzüge ausgehen und sich Königreiche unterwerfen muss. Siegfried ist eben nicht der, für den er herkömmlich gehalten wird. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass außerhalb Bayreuths die Nornen-Szene des „Götterdämmerung“-Vorspiels lange Zeit gestrichen wurde; erst Gustav Mahler hat das in Wien wieder eingeführt. Man hat das einfach nicht verstanden! Was im Vorspiel geschieht, hat dieser Zeit Ende des 19. Jahrhunderts widersprochen, war – schließlich wird bei den Nornen Schlimmes über Wotan erzählt – ein zu krasser Gegensatz zur konventionellen Interpretation des „Ring“ als einem „Bühnenfestspiel“. Das ist nicht umsonst gerne gestrichen worden, das ist aber eine der ganz entscheidenden Stellen, um zu begreifen, was Siegfried für eine komische Figur ist oder besser gesagt: was für eine unzureichende Erlösungsfigur!
Harry Kupfer: Das alles steht im Stück, in dieser Szene drin. Hier passiert etwas Furchtbares, und immer wenn ich das sehe und höre, bekomme ich Gänsehaut. Wagner hat meiner Meinung nach hier, für diesen Abschied mit Heilrufen im „Götterdämmerung“-Vorspiel, die grausigste Szene des ganzen „Ring“ komponiert – nicht nur vom Genusswert grausig, sondern von den Strukturen her. Es gibt unglaubliche Brüche auch in der Musik; um diese Szene richtig zu sehen, muss man in der Tat die musikalische Analyse zu Rate ziehen. So wie die beiden hier komponiert sind, hat Wagner den Freud vorweggenommen. Auf der einen Seite Brünnhilde auf dem Weg ihrer Menschwerdung, aber auch dem der Wegradierung, dem Vergessen der Rolle der wissenden Frau. „Zu neuen Taten, teurer Helde“. Auf der anderen Seite Siegfried, der Mann, der auszieht, der die Welt fressen muss und fressen will. Und diese beiden verabschieden sich mit Heilrufen! Das ist einer von Wagners großen Geniestreichen.
Mit dieser Szene wusste ich übrigens am Anfang der Vorbereitung nichts anzufangen. Und von dieser Szene aus geht der Sprung zurück zu diesem merkwürdigen „Siegfried“-Schluss. Wenn man vergleicht, welch innige Musik Wagner für Siegmund und Sieglinde schreibt und wie bombastisch dann das Duett von Siegfried und Brünnhilde den 3. Akt „Siegfried“ beendet, muss man zu dem Schluss kommen, dass es sich dabei um etwas Beabsichtigtes handelt. Wagner umreißt gegenüber dem anderen Verhältnis musikalisch genau, was gemeint sein könnte.
Reinhard Baumgart: Eine der Stärken dieser Inszenierung ist, wie schonungslos bin in die Musik hinein die Zweideutigkeit triumphaler Momente aufgedeckt wird. Jeder inszeniert heute schon das „Rheingold“-Ende als einen Hinweis auf den katastrophalen Ausgang. Aber dass im letzten „Siegfried“-Akt – „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ heißt es da; und schrecklich wird diese schreckliche Losung auch gesungen – zwei zum Tode Erschöpfte, zwei im schrecklichen Sinne Euphorische, dem Tode Entgegentaumelnde gezeigt werden, das ist nicht nur neu und großartig, es ist auch in einer logischen Bewegungsregie ganz aus der Musik und dem Text heraus entwickelt. Es gibt in dieser Inszenierung also viele Stellen, wo in einen scheinbaren Moment des Triumphes schon die Zeichen der kommenden Katastrophe eingetragen sind. Auch wie Sieglinde ihr „O hehrstes Wunder“ singt, bei der Übergabe der Schwertsplitter, ist so ein schrecklicher Moment. Sieglinde zuckt zusammen, weil sie merkt: Das ist dein Tod, du kriegst ein Mordinstrument, dein Sohn wird vielleicht auch umkommen … Dass man so etwas zu sehen bekommt, und zwar ohne Zeigestock, macht unter anderem die große Qualität dieser Inszenierung aus.
Noch etwas zu Brünnhilde: Sie gilt in vielen Interpretationen als die letztlich vollkommen tragische, weil schuldlose Figur. Das stimmt meiner Ansicht nach nun gerade nicht! Genau in dem Moment, wo sie sich Siegfried und diesem Heldenkonzept so unterwirft, dass sie ihn freiwillig von sich weg und in die Welt schickt, macht sie sich mitschuldig. Sie kann Wotan also nicht am Grabe gegenüber sitzen als eine, die sagt, nur du hast schuld, sondern – und nur dann macht das überhaupt einen Sinn! – da sitzen zwei, die sagen, wir haben zusammen uns allen die Grube geschaufelt. Sobald Brünnhilde Siegfried entlässt in die Welt, beginnt sie zu ahnen, dass alles nicht gutgehen kann und dass sie nicht nur einen Mann, sondern viel mehr verliert. Mir fällt dazu sofort die wunderbar inszenierte Szene ein, wo Siegfried in der Gunther-Maske zu ihr kommt und sie versucht, in diesem Mann noch eine bekannte Person zu ertasten.
Harry Kupfer: Und all das ist komponiert.
Ein Punkt, der bisher nur am Rande angesprochen wurde, sind die Bühnenbilder, die das Publikum bewegt und an denen sich viele auch gerieben haben.
Reinhard Baumgart: Vorab ist wichtig festzustellen, dass diese Bühnenbilder keine Stimmungsbilder sind, obwohl man sie generell gerne als solche versteht, das heißt, dass sie ähnlich wie Filmmusik Stimmung für das Geschehen und hier auch für die Musik machen sollten. Bei den Bildern von Hans Schavernoch ist das nicht der Fall. Diese Gestängewelt, dieses Oben und Unten, diese Machtwelt erscheint mir, bis auf die wichtige Ausnahme der Rheintöchter-Szene in der „Götterdämmerung“, zwar oft sehr kalt und funktionell, aber sie passt stets zur Handlung und zur Musik. Man soll und kann sich an diesen Bildern reiben, sie sind wirklich kantig, verletzend, aber stimmig.
Sabine Zurmühl: Gerade dieser Grat nach unten in der Abschiedsszene im „Götterdämmerung“-Vorspiel hat mich sehr bewegt. Zum einen habe ich auf die Enge körperlich, beinahe asthmatisch reagiert, zum anderen hatte ich dabei Assoziationen an jene Verließe, die furchtbarerweise „in pace“ heißen, in die Frauen lebendig eingemauert wurden, wenn sie, um nicht verbrannt zu werden, „gestanden“ hatten und der Hexerei für schuldig befunden wurden. Dieses Bild fand ich großartig, auch mit der Unruhe durch das ständige Auf- und Absteigen.
Dieter Schickling: Für mich sind die Bühnenbilder eher problematisch. Warum ist zum Beispiel diese leere, graubraune Straßenfläche im 2. und 3. Akt „Walküre“ und später logischerweise auch im 3. Akt „Siegfried“ identisch?
Harry Kupfer: Diese Bilder – das eine ist eine Felsenschlucht, das andere ist der Walkürenfelsen – sind auch in den Regiebemerkungen von Wagner fast gleich, sie liegen nur räumlich etwas auseinander.
Dieter Schickling: Sehr gestört hat mich auch die herunterfahrende Treppe für die Walkürenszene zu Beginn des 3. Akts „Walküre“, die dann wieder verschwindet.
Reinhard Baumgart: In diesem Zusammenhang würde ich – es ist ja fast sakrilegisch, das zu tun – gerne einmal fragen, ob es einem Regisseur oder Dirigent nicht manchmal in der Hand zuckt, weil man streichen möchte? Der Walkürenritt ist zwar eine grausam richtige Musik, aber von dem, was die Damen singen, wenn sie ihre toten Helden anliefern, versteht man kaum ein Wort. Man kann dafür zwar ein expressives Bild finden, aber richtig los geht die Szene doch erst, wenn Brünnhilde und Sieglinde kommen. Für mich ist die Walkürenszene letztlich eine – leider sehr laute – Verlegenheit. Mit diesem Treppauf, Treppab ist diese Verlegenheit auch entsprechend inszeniert worden.
Harry Kupfer: Was die Walküren im Einzelnen machen, ist natürlich austauschbar. Es geht hier um ein blutiges Handwerk, Leichen werden transportiert und so weiter, und das geschieht gedankenlos, was vielleicht auch den martialischen Charakter der Musik erklärt. Um nochmals auf das Straßenbild zurückzukommen: Wieland Wagner hat den ganzen „Ring“ als Symbolspiel auf einer einzigen Scheibe inszeniert, wo überhaupt nichts gewechselt hat. Die Straße bei uns ist ebenfalls das Grundbühnenbild für das ganze Stück, das Grundpflaster sozusagen. Dass diese Straße mal gegliedert, mal gekippt ist, dass auch Menschen daran gebaut haben, das sind notwendige Veränderungen, die sich aus den Gegebenheiten in den einzelnen Szenen und Akten ergeben. Im Grunde genommen spielt alles auf dieser „Straße der Geschichte“ – und das ist letztlich nichts anderes als eine abgewandelte Form der Wielandschen Platte.
Dieter Schickling: Ich spüre in diesem Bühnenbild insgesamt keine Konsistenz, die für mich durchaus auch in lauter Einzelbildern vorhanden sein könnte. Deshalb haben mir die Bildfindungen zum 1. und 2. Akt „Siegfried“ auch sehr gut gefallen. Ansonsten hatte ich den Eindruck, dass da lauter Einzelideen aneinandergereiht worden sind und aus praktischen Gründen miteinander verkoppelt wurden. So ergibt sich für mich zum Beispiel auch im Einsatz der Laserstrahlen kein Zusammenhang.
Harry Kupfer: Der Laser wird nur gezielt eingesetzt für das Wasser des Rheins und das kosmische Feuer im 3. Akt „Walküre“ und im 3. Akt „Siegfried“. Das normale Feuer, wie zum Beispiel in diesem Aufzug nach Walhall, ist kein Laserlicht, sondern Neon; gleiches gilt für den Feuerkubus der Brünnhilde. Und dann gibt es noch jenes Feuer wie in der Schmiede, das nach gängiger Theaterpraxis mit Dampf und Licht hergestellt wird. Der Laser ist nur dort eingesetzt, wo er besondere Bedeutung hat. Das Straßenbild, das ich jetzt nicht verteidigen will, war einfach die Grundidee. Aber an erster Stelle – deshalb halte ich auch nichts von Stilpurismus – steht für mich stets, die Geschichte zu erzählen. Um etwas klarzumachen, würde ich jedes Prinzip verraten!
Dieter Schickling: Vielleicht ist das einfach eine Geschmacksfrage. Mir jedenfalls sagt diese leere Fläche nichts.
Sabine Zurmühl: Aber sie ist doch sehr schrundig, verletzt, auf ihr ist schon wahnsinnig viel passiert!
Harry Kupfer: Sie erzählt in ihrer Struktur, finde ich, sehr sehr viel.
Reinhard Baumgart: Man kann das wohl emotional verschieden auffassen. Insgesamt würde ich sagen: Es ist ein sehr reiches, auch auseinanderfallendes, aus vielen verschiedenen Ansätzen gebautes Bühnenbild, das immer neu anfängt. Es erstaunt zum Beispiel jeden, der nicht darauf vorbereitet ist, wenn der Vorhang zum 1. Akt „Siegfried“ aufgeht und man sieht plötzlich dieses rostige Ding. Mir hat das völlig eingeleuchtet, denn hier beginnt der Märchenteil, bei dem Wagner musikalisch, textlich und dramaturgisch ganz anders arbeitet. Romantik hat eben etwas mit Verfall zu tun, mit Ruinen – und in diesem Fall mit Verrosten nach einer Katastrophe. Es hat mich im 1. Akt „Siegfried“ überrascht, wie sich die Musik mit diesem rostigen Metall verbindet. Viel besser als mit irgendwelchen wehenden Baumschöpfen auf der Bühne! Man muss es nur ausprobieren – und dazu gehört Mut.
Harry Kupfer: Man darf, auch bei der Grundidee, allerdings nie vergessen, dass es sich um vier verschiedene Stücke handelt, die sich nicht nur in der musikalischen Diktion unterscheiden. Man muss diese Stücke zwar unter ein Dach kriegen, darf aber nicht nivellieren, weil man sonst die verschiedenen Situationen nicht bedienen kann. Ich traute mir durchaus zu, den ganzen „Ring“ auf der nackten Straße zu inszenieren, aber auf was alles müsste ich da verzichten! Auf Möglichkeiten der Verdeutlichung, auf dynamische Spannungen, auf Erzählungen über Verhältnisse von Menschen zueinander … das muss ich mir ja nicht vergeben! Und schließlich – darum kommt man nicht herum – muss im „Siegfried“ zum Beispiel ein Amboss sein. Der Schmiedevorgang hat nun mal stattzufinden; man muss schmieden, brennen und das Eisen rot werden lassen können. In diesem Sinne ist „Siegfried“ das gefährlichste Stück, denn dort wird die Realitätsnähe am meisten gefordert, bis hin zum Naturalismus.
Bleibt noch ein wesentlicher Punkt, von dem auch in den Kritiken so viel die Rede war: das Zuviel an Aktion.
Reinhard Baumgart: Grundsätzlich sollte man zunächst bedenken: Was wir meistens in Opern erleben – und der „Höhepunkt“ bis hin zur totalen Leere war für mich der „Ring“ von Hall – ist doch eigentlich, dass auf der Bühne eben fast gar nichts stattfindet. Bei Kupfer, mit dieser Bewegungsfülle, liegt das Problem eher umgekehrt. Wenn es um die Weiterarbeit geht, dann wäre hier der wünschbare Weg der des Weglassens, Vereinfachens und Konzentrierens.
Harry Kupfer: Für mich ist es ganz schwer, den Kritikern in dem Punkt zu folgen, schon einfach, weil ich zu befangen bin und noch zu sehr in der Arbeit drinstecke. Andererseits muss ich betonen, dass es in dieser ganzen Inszenierung nicht einen einzigen Gang um des Ganges willen gibt. Sondern all das, was auf der Bühne geschieht, drückt aus, wie sich Menschen unter extremen Situationen – und es sind extreme Situationen, es gibt nichts Normales im ganzen „Ring“! – gestisch und körperlich äußern, wobei immer einkalkuliert ist, dass man nicht jedes Wort verstehen kann. Ganz abgesehen davon gibt es in meiner Inszenierung auch Szenen, wo sich über längere Strecken überhaupt nichts bewegt, wo – wie im Wotan-Monolog im 2. Akt „Walküre“ – absolute Ruhe herrscht. Diejenigen, die sehr vertraut sind mit meiner Arbeit, waren diesmal tatsächlich erschrocken darüber, wie es an bestimmten Stellen, wo sie Himmel und Hölle an Theater erwartet haben, ruhig war auf der Bühne.
Diese Aktionismus-Vorwürfe sind mir oft auch einfach zu pauschal. Natürlich gibt es Stellen, an denen wir weiterarbeiten werden, wo man die Akzente, die Drehpunkte, die Widersprüche und die Ruhe mit der Bewegung noch klarer konzentrieren kann. Aber es gibt – ich betone das nochmals und versichere, dass ich mir das schon jahrelang abgewöhnt habe – nirgendwo eine Bewegung um ihrer selbst willen. Es gibt allerdings extreme Bewegungsformen dort, wo es notwendig ist, zum Beispiel im Verhältnis Mime-Siegfried. Der 1. Akt „Siegfried“, so habe ich ihn jedenfalls oft genug erlebt, ist eine tödlich langweilige Geschichte, wo das Publikum nur darauf wartet, dass endlich – nach einer Stunde zwanzig Minuten wohlgemerkt! – die Schmiedelieder anfangen. Das eigentliche Stück findet jedoch nicht in den Schmiedeliedern statt, sondern vorher; die Schmiedelieder sind nur eine freundliche Zugabe, die man gerne hört. Wir haben, natürlich in Übereinstimmung mit den Sängern, jeden Schritt genau überlegt, haben uns immer gefragt, wo ist der Umschlagpunkt, wer führt die Szene, wer führt sie nicht, wer wird abhängig, wer lügt, wer lügt geschickter und so weiter. Daraus ist dieses choreographische Geflecht entstanden.
Reinhard Baumgart: Die ungeheuere Turbulenz, auch Nerventurbulenz, passt zum Beispiel durchgehend im „Rheingold“, von dem viele Leute entsetzt waren. Aber noch nie habe ich so deutlich gesehen, dass es um die Befreiung von Freia geht, dass sie wirklich wie ein Huhn im Käfig herumflattert und die ganze Familie drumherum! Das zeigt, dass das „Rheingold“ weit davon entfernt ist, nur eine leichte Plauderkomödie zu sein. Hier geht es um viel mehr – um einen Menschen und vielleicht um das Schicksal der Jugend der Welt. Und das wird gewissermaßen auch entnervend ausgespielt.
Sabine Zurmühl: Mir ging es auch so, nach einer Gewöhnungszeit allerdings. Ich hatte den Eindruck, dass die gegebene psychische Spannung durch diese Gänge, durch diese Bewegungen wie in einem Spinnennetz, nochmals zusätzlich erklärt wird, was für den Zuschauer natürlich auch anstrengend ist. Wahrscheinlich sind diese Klagen eine Reaktion auch darauf, dass es so viel zu entschlüsseln gibt und dass man zwischendurch einfach etwas überfordert wird. Was sicher nicht heißen muss, dass es diese Bewegungen nicht geben darf! Es handelt sich hier vielmehr um eine zum Teil neue Ebene, auf die wir Zuschauer uns hinsichtlich unserer Entschlüsselungserfahrung noch nicht stützen können.
Harry Kupfer: Was man als Interpret natürlich nicht mehr merkt! Dabei spielt noch etwas eine Rolle: Meine Interpretation geht ja mit jedem, der zuhört und zuschaut, eine neue Bindung ein, das heißt, die Phantasie, die das Werk freimacht bei mir, macht nochmals die Phantasie frei bei demjenigen, der es aufnimmt. Als Regisseur sieht man in der Auseinandersetzung mit dem „Ring“ doch nur, was noch alles drin ist und was in die einzelnen Szenen noch alles rein müsste. Mit diesem Werk wird man einfach nie fertig! Wenn ich bedenke, was ich jetzt schon wieder darüber gelesen, gehört und nachgedacht habe, wie dieses Beziehungsgeflecht immer noch größer wird, dann wird mir bange vor den nächsten Jahren. Andererseits kommt ja immer der Punkt, wo man sich entscheiden muss und sagt: Gut, lassen wir es dabei bewenden. So hast du den „Ring“ jetzt erzählt, die nächste Inszenierung, wo man das alles wieder neu angehen kann, kommt vielleicht in zehn Jahren. So oder so: Man kriegt den „Ring“ nicht auf einmal in den Griff, dafür ist er viel zu komplex.
Durchführung, Aufzeichnung und Bearbeitung des Gespräch: Monika Beer, Erstveröffentlichung in Gondroms Festspielmagazin 1989. Die Auswahl der Gesprächspartner für Harry Kupfer wurde ausgelöst durch folgende Bücher: Reinhard Baumgart: „Wahnfried. Bilder einer Ehe“, 1984 Carl Hanser Verlag; Dieter Schickling: „Abschied von Walhall. Richard Wagners erotische Gesellschaft“, 1983 Deutsche Verlags-Anstalt; Sabine Zurmühl: „Leuchtende Liebe – lachender Tod. Zum Tochter-Mythos Brünnhilde“, 1984 Frauenbuchverlag.
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