Am 30. Dezember vor 25 Jahren starb der Dramatiker Heiner Müller, dessen „Tristan“-Inszenierung 1993 bis 1999 in Bayreuth für viele unvergessen ist.
Eine ausführliche aktuelle Würdigung Heiner Müllers zum 25. Todestag hat der MDR veröffentlicht. Das folgende Interview mit dem Dramatiker und „Tristan“-Regisseur durfte ich im Frühsommer 1993 während der Probenzeit führen. Es war in mehrerer Hinsicht außergewöhnlich, denn erstens machte Müller zur Bedingung, dass ich eine Flasche seines Lieblings-Whiskeys als „Honorar“ mitbringen sollte, und zweitens hat er, was bei einem so langen Interview ungewöhnlich ist, kein einziges Wort geändert. Und drittens ist das, was er damals zu sagen hatte, auch heute noch lesens- und bedenkenswert.
Der „Tristan“ war, wie in Ihrem Buch „Krieg ohne Schlacht“ steht, die erste Oper, die Sie je gesehen haben. Können Sie sich noch daran erinnern?
Heiner Müller: Ich fürchte, das ist lange her. Ich war vielleicht siebzehn, und bin da eigentlich nur hineingeraten, weil ich damals meine Stiefschwester kennenlernen wollte. Sie war ein begeisterter Opern- und Wagnerfan und hat mich, als ich sie zum erstenmal in Chemnitz traf, überredet, mit in die Oper zu kommen. Von allein wäre ich nie auf die Idee gekommen. Die Oper war für mich eher an der Grenze des Unmöglichen.
Wann hat sich diese Anschauung geändert?
Heiner Müller: Das hat sich hauptsächlich durch die Begegnung mit Paul Dessau und Ruth Berghaus geändert. Als ich für die „Elektra“-Inszenierung von Ruth Berghaus 1967 an der Staatsoper einen Text über die Blutspur dieser Mythen für den Vorhang machte, habe ich dann doch das Gefühl gehabt, daß ich mit Oper etwas anfangen kann. Wenig später habe ich für Paul Dessau zu „Lanzelot“ das Libretto geschrieben.
Fühlen Sie sich dem Dramatiker Richard Wagner verwandt?
Heiner Müller: Naja, wie sind beide aus Sachsen, aber das bringt nicht sehr viel. Eigentlich habe ich erst jetzt, bei der näheren Beschäftigung mit ihm, gemerkt, daß Wagner ein genialer Dramaturg ist. Es gibt von ihm einen Satz über Shakespeare, der heißt „Shakespeare ist die mimische Improvisation in einem vorgezeichneten Grundriß“. Ich habe das Gefühl, daß Wagner – gerade auch beim „Tristan“ – kompositorisch das Gleiche macht wie sprachlich Shakespeare. Shakespeare hat so eine bestimmte Technik, die man am simpelsten in den großen Monologen aus „Hamlet“ oder „Lear“ verfolgen kann, d.h. es gibt ein Motiv oder ein Thema, dann folgt das Gegenthema, dann wird das erste wiederaufgenommen und variiert, kommt ein drittes dazu … Es ist so ein Aufschwellen – und das ist auch ziemlich genau die Kompositionstechnik. Es interessiert mich jetzt einfach, Wagner als Shakespeare zu sehen.
Haben Sie sich mit der Biographie Wagners beschäftigt?
Heiner Müller: Ja, aber nicht übermäßig. Ich interessiere mich auch nicht so sehr für meine Biographie und so sehr auch nicht für die von Wagner.
Sonst hätte ich Sie gefragt, ob Sie nicht auch da Parallelen finden! Ich würde da z.B. ansetzen bei Ihrer Vorliebe für gescheiterte Revolutionäre …
Heiner Müller: Aber das ist ja nun nichts Besonderes. Alle Revolutionäre sind bisher gescheitert. Insofern ist das keine Spezialität! Aber natürlich ist da was dran. Schon als Dramatiker interessiert man sich natürlich viel mehr für Figuren, die scheitern, als für die, die Erfolg haben. Gescheitert ist z.B. Robbespierre, erfolgreich ist Helmuth Kohl. Natürlich ist Robbespierre ein Dramenstoff und, wenn man will, auch ein Opernstoff. Aber eine Oper über Helmuth Kohl kann ich mir nur schwer vorstellen. Das hat aber auch andere Gründe.
Und wer scheitert speziell im „Tristan“?
Heiner Müller: Ich denke alle. Aber was heißt scheitern? Im Scheitern liegt ja – und darin sehe ich eine ganz wichtige Verbindung zwischen Wagner und Nietzsche – sein Konzept von Tragödie, diese These, daß aus dem Untergang der oder des Protagonisten Energie gewonnen wird, daß das Publikum aus der Beobachtung des Scheiterns und des Untergangs einen Energieschub kriegt. Und je größer etwas ist, das untergeht, desto mehr Energie ist aus dem Anschauen oder Darstellen des Untergangs zu beziehen.
Wie läßt sich das konkret auf die Figuren im „Tristan“ beziehen?
Heiner Müller: Isolde z.B. hat gerade in der Nicht-Erfüllung ihres Anspruchs, mit dem sie auftritt, ein großes Potential an Utopie. Tristan ist eher ein Eigenhold, der zwischen seinem totalen Glücksanspruch und den Zwängen in der Männergesellschaft zerrissen wird; deswegen hat er ein weniger großes Reservoir an Utopie, aber immer noch genug. Isolde dagegen ist eine absolut utopische Figur.
Welche Utopie meinen Sie?
Heiner Müller: Utopie ist ja zunächst nichts weiter als die Weigerung, die gegebenen Bedingungen, die Realitäten als die einzig möglichen anzuerkennen, ist also der Drang nach dem Unmöglichen. Und wenn man das Unmögliche nicht verlangt oder will, wird der Bereich des Möglichen immer kleiner. Das ist eine Sache, die erzählt wird im „Tristan“.
Sind Sie ein utopischer Regisseur?
Heiner Müller: Weiß ich nicht, keine Ahnung. Aber momentan werde ich immer bescheidener: der „Tristan“ ist ein ungeheuer komplexes Unternehmen und sehr viel schwieriger, als ich gedacht habe. Es gibt Stellen, wo ich wirklich verzweifle und denke, daß man das überhaupt nicht inszenieren kann – z.B. das Liebesduett, die 2. Szene im 2. Akt. Das ist, wie glaube ich Bruno Walter nach einer „Tristan“-Aufführung zu Thomas Mann sagte, schon keine Musik mehr, ist schon jenseits von Musik – und in einigen Teilen auch jenseits von Theater. Wie man dieses Jenseits auf die Bühne bringt, weiß ich noch nicht. Das muß man ausprobieren.
Viele Regisseure, die Heiner Müller inszenieren, stehen vor dem gleichen Problem. Können Sie das nicht besser?
Heiner Müller: Nein, da gibt’s keine Garantie. Aber es stimmt schon: Es gibt Stücke, die sind geschrieben für das vorhandene Theater; interessant wird es aber erst, wenn man für ein unmögliches Theater schreibt. Und dieses unmögliche Theater ist, wenn man Glück hat, das Theater der Zukunft. Wagner hat den „Tristan“ natürlich auch für ein unmögliches Theater geschrieben, und dementsprechend war die Uraufführung wohl zunächst kein Erfolg. Das war eben ein deutlicher Zusammenstoß zwischen einer Theaterkonvention und der Unmöglichkeit, dieses Werk in dieser Konvention wirklich umzusetzen. Vielleicht ist das Problem noch nicht ganz vorbei. Wir werden sehen.
Wie kommen Sie eigentlich mit den Regieanweisungen Wagners zurecht?
Heiner Müller: Alle Regieanweisungen – das habe ich zum erstenmal gemerkt, als ich den „Lohndrücker“ inszeniert habe – sind der Versuch, einen Kompromiß zu schließen mit dem vorhandenen Theater. Wenn man sie also befolgt, bleibt man unter den Möglichkeiten des Textes – und das ist bei Schiller genauso wie bei Wagner. Die Werke selbst verändern sich eigentlich nicht, aber die Bedingungen, unter denen sie realisiert werden. Bei Wagner ist mir aufgefallen, daß er seine Regieanweisungen immer an dramaturgisch wichtige Punkte setzt. Gerade der „Tristan“ ist auch in dem Sinne enorm gebaut. Man muß nur aufpassen, daß man es nicht genauso macht, wie es dasteht.
Sie verstehen wohl alle dramatischen Stoffe eher als Material?
Heiner Müller: Was heißt Material? Mein Ausgangspunkt ist so: Wenn im Theater etwas passiert oder so dargestellt wird, wie ich es auch in der Straßenbahn sehen kann, dann bleibe ich lieber auf der Straße. Theater ist erst dann interessant, wenn es eine Übersetzung in eine andere Wirklichkeit schafft. Insofern ist Theater, wenn es gut ist, auch immer ein Affront gegen die Wirklichkeit, insofern ist auch die Wirklichkeit ein Material, um andere Möglichkeiten anzudeuten. Bei der Oper ist das von vornherein so. Diese Nicht-Realität zu übersetzen, ist auch das, was die Oper zur Droge macht – und zu einer Energiequelle. Es ist doch sehr auffällig, daß die Oper im Moment für große Teile des Publikums viel wichtiger ist als das Schauspiel. Was vielleicht auch daran liegt, daß die Oper nicht wie das Schauspiel zuerst vom Naturalismus und dann vom Kino und Fernsehen eingeholt worden ist. Oper im Fernsehen ist immer nur ein sekundäres Produkt.
Warum inszenieren Sie?
Heiner Müller: Ursprünglich vielleicht nur aus Ärger über Inszenierungen meiner Stücke. Da dachte ich, das muß ich auch mal probieren. Aber das ist natürlich überhaupt keine Garantie, daß ein Autor es besser macht. Eine authentische Inszenierung gibt es nicht, kann es nicht geben. Wenn ein Text oder eine Oper gut ist, dann gibt es immer viele Möglichkeiten.
Waren Sie mit Ihren eigenen Inszenierungen zufrieden?
Heiner Müller: Am Theater ist nie etwas fertig. Es gibt höchstens Phasen, wo man mal zufrieden ist, aber kurz danach ist man es garantiert nicht mehr. Das Schlimme am typischen Repertoirebetrieb ist doch, daß eine Aufführung, die lange läuft, sich abschleift. Da gibt es diesen bösen Satz von Brecht: „Das Theater theatert alles ein.“ Das ist es! Man erkennt manchmal schon nach zwanzig Vorstellungen die eigene Arbeit nicht wieder, weil die Schauspieler sich die Inszenierung und den Text in dem Sinne aneignen, daß sie es sich darin bequem machen. In der Oper ist das anders, weil es eine absolute Disziplin gibt, die vom Timing der Musik ausgeht – was vom Dirigenten übrigens nur ein bißchen variiert werden kann. Dieser Zwang ist schon mal gut. Der Vorteil hier in Bayreuth ist auch, daß es Wiederaufnahmen gibt, die z.T. mit anderer Besetzung wirklich neu erarbeitet werden. Das finde ich sehr gut.
Findet Theater bei Ihnen eher im Kopf statt als auf der Bühne? Ist der Text für Sie etwas Abgeschlossenes?
Heiner Müller: Nein, überhaupt nicht. Wenn ich probiere, dann gehört mir auch der eigene Text nach einiger Zeit nicht mehr, weil ich ihn tatsächlich vergesse – obwohl ich meine Texte normalerweise auswendig kann. Wenn ich die Schauspieler dann fragen muß, wie geht’s denn weiter, dann ist der Punkt da, wo die Inszenierung steht.
Sie haben in Zusammenhang mit Ihrer „Auftrag“-Inszenierung 1982 einmal gesagt, der Text zum Fahrstuhl-Monolog sei wie ein Telefonbuch. Das hat mich doch sehr verblüfft.
Heiner Müller: Ja, das sagt man so dahin. Gemeint ist schon was Seriöses: Schauspieler neigen nämlich dazu, ihre Meinung zum Text oder ihre Empfindung in bezug auf den Text auch noch mitzuteilen. Und das ist meistens langweilig. Wenn im Text z.B. etwas Trauriges steht, dann muß der Schauspieler es nicht traurig sagen, sondern eher ganz heiter. Erst dadurch erfährt man etwas oder erfährt man mehr.
Und wie begegnen Sie dieser Gefahr in der Oper?
Heiner Müller: Das muß ich noch herausfinden. Vielleicht ist es nicht nur schwer, sondern auch leichter, denn die Musik ist wie eine Maske. Im Schauspiel funktioniert das nicht, denn jeder Schauspieler glaubt, daß er erstens den Text versteht und zweitens damit umgehen kann, wie ihm gerade ist. Das geht in der Oper nicht.
Haben Sie Angst vor den typischen Operngesten?
Heiner Müller: Natürlich. Manchmal sind sie unvermeidlich. Aber man kann sie auch benutzen. Es ist nur die Frage, wie und wo. Mir ist gerade bei Wagner aufgefallen, daß die Musik eine gewisse Körperlichkeit hat, daß die Musik eine Körpersprache auch vorschreibt – aber keine Zeichensprache.
Ist „Tristan“ für Sie romantisch?
Heiner Müller: Nein, ich glaube, es ist eine sehr harte Geschichte, denn es gibt da so dunkle Punkte, die sich eigentlich nicht klären lassen. Aber jedes Kunstwerk hat auch ein Geheimnis, das man nicht antasten darf, das stehenbleiben muß. Es ist ganz wichtig, daß man die Dunkelheit beibehält und ihr einen Rahmen gibt.
Wieviel Todesnähe ist in „Tristan“?
Heiner Müller: Das kommt drauf an, wie man das definiert. Was ist Todesnähe? So einen Todesssehnsucht ist sicher drin. Und die ist nichts anderes als die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Niemand sehnt sich wirklich nach dem Tod; das wäre ja Unsinn und Romantik im schlechten Sinn. Nein, die Sehnsucht nach dem Tode ist die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Und das ist das revolutionäre Potential von „Tristan“.
Und das wiederum steckt in vielen Stücken von Ihnen?
Heiner Müller: Was auch mit der Grundstruktur von Theater zu tun hat. Theater ist Verwandlung – und die letzte Verwandlung ist der Tod. Der Tod ist die Folie von Theater, ist immer der Hintergrund: er wird sublimiert in der Tragödie und verdrängt in der Komödie, aber er ist immer da. Im Schauspiel – ich rede jetzt nicht von der Oper, denn da ist es sowieso klar – ist die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod, ist die gleichberechtigte Präsenz von Toten und der Lebenden auf der Bühne besonders wichtig. Das war für die Antike selbstverständlich, das ist auch so bei Shakespeare. Durch den Naturalismus, der natürlich seine historischen Gründe hat, ist diese vitale Funktion des Theaters verlorengegangen. Und damit auch die kathartische Funktion des Theaters, und, wenn Sie wollen, auch die politische.
Warum haben Sie so lange nicht mehr geschrieben?
Heiner Müller: Seit 1988 habe ich außer Gedichten tatsächlich nichts mehr geschrieben. Rein äußerlich lag es daran, daß ich keine Zeit hatte, weil ich eingebunden war in alles Mögliche, in die Akademie, ins Theater … Natürlich ist es nach so einem Epochenbruch auch schwer, da braucht man eine gewisse Anlaufzeit. Die Gedichte sind schon der beste Weg, wieder zum Stückeschreiben zu kommen. Ich hoffe, daß es gleich nach Bayreuth klappt. Konkrete Pläne habe ich schon seit zehn Jahren, aber wie immer spielen auch aktuelle Dinge hinein. Es wird sicher ein Stück, das von Stalingrad bis zum Fall der Mauer geht, ein Stück mit den Opernhelden Hitler und Stalin.
Wie schreiben Sie ein Stück, rein technisch gesehen. Wieviele Fassungen verwerfen Sie?
Heiner Müller: Die Hauptarbeit besteht eigentlich darin zu warten, bis es soweit ist. Dann gibt es keine Fassungen, sondern nur eine Fassung. Das Schwierigste beim Schreiben ist immer der Anfang. Wenn man erst einmal angefangen hat, dann ist das wirklich so eine „mimische Improvisation in einem vorgezeichneten Grundriß“. Natürlich kann man erst anfangen, wenn man den Schluß kennt. Und den Schluß kann man nicht kennen, bevor man nicht an das nächste Stück denkt und weiß, wie das nächste anfängt. Das ist der Mechanismus.
Also kommt dieser Einschnitt nicht von ungefähr?
Heiner Müller: Sicher nicht. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Schiller hat, nachdem er Kant gelesen hat, sieben Jahre kein Stück geschrieben. 1989 war also für mich so etwas wie Kant lesen …
Wie sind Ihre Erfahrungen als Intendant? Wollen Sie diese Aufgabe nicht wieder loswerden?
Heiner Müller: Nein, das geht jetzt nicht. Gegen das Berliner Ensemble hat sich ja geradezu eine Feuilleton-Front formiert, da darf ich das nicht aufgeben. Das große Feindbild ist verschwunden, man muß sich jetzt – das gehört zur Zeitstimmung – jede Woche irgendwelche Feinde aufbauen, damit überhaupt noch was läuft. Das Berliner Ensemble ist eben eines der Feindbilder des deutschen Feuilletons …
Sie selber inzwischen auch!
Heiner Müller: Ja, klar. Ich hab da auch gar nichts dagegen.
Sie haben zum Berliner Ensemble also eine besondere Beziehung. Fühlen Sie sich als Erbe Brechts?
Heiner Müller: Naja, das ist immer eine Gleichzeitigkeit von Erbe und Vatermörder. Was das Berliner Ensemble betrifft, so ist es innerhalb der Berliner Theaterstruktur insofern eine Hoffnung, weil es – anders als andere Theater – ein Haus sein könnte, das eben nicht dazu da ist, Bedürfnisse zu bedienen, sondern zu stören und andere Bedürfnisse zu provozieren. Vielleicht ist das nur eine Illusion, aber versuchen kann man’s ja.
Ist es nicht komisch, daß Sie – vermutlich selber schon Großvater – dieses Erbe jetzt erst antreten?
Heiner Müller: Als Autor habe ich das schon lange. Alles andere wäre vorher nicht denkbar gewesen. Niemand in der DDR hätte mich zu irgendeinem Intendanten gemacht. Außer einem Dramaturgenposten war da nichts drin. Wenn ich von dem hätte leben müssen, was ich in der DDR eingenommen habe, wäre ich längst verhungert gewesen. Meine Einnahmen, die Tantiemen, kamen aus dem Westen. Natürlich immer reduziert um den Anteil des Staatsbüros; man katte Anspruch auf 30 Prozent des Honorars in der anderen Währung, den Rest bekam man 1 : 1, und davon gingen dann nochmal 15 Prozent Bearbeitungsgebühr ab. Das war im Grunde …
… eine Wegelagerei?
Heiner Müller: Man hat im Grunde damit Werkzeugmaschinen finanziert. Ansonsten hat man natürlich auch Möglichkeiten gefunden, das Büro immer wieder zu betrügen. Das gehörte einfach dazu, zu diesem Spiel.
Wie hat sich die Wende für Sie persönlich ausgewirkt? Hat Sie das in eine Krise gestürzt?
Heiner Müller: Nein. Ich wußte ja, daß das unvermeidlich kommt, wußte das eigentlich schon seit Jahren.
Aber Sie haben trotzdem immer noch zur DDR gehalten?
Heiner Müller: Ja, gehalten kann man sagen. Und das hat viele Gründe, auch biographische. Ich habe außerdem geglaubt, daß eine Alternative zu dem System der Bundesrepublik und den westlichen Ländern nötig ist. Das glaube ich auch jetzt noch. Ich konnte nie finden, daß das andere System so schön ist: mir kommt es relativ langweilig vor, auch als Stoff. Mein Leben in der DDR, das stimmt schon, war ein Aufenthalt in einem Material, das sehr interessant war. Und ich glaube, daß diese Dekadenz oder Implosion des Ostens natürlich die Tragödie dieses Jahrhunderts ist. Das ist, auch in ganz professionellem Sinn, ein gutes Material, ein guter Stoff.
Werden Sie sich jetzt mehr mit dem Untergang des jetzigen Systems beschäftigen?
Heiner Müller: Das dauert ja noch, und es kann endlos dauern. Abgesehen davon ist der Untergang dieses Systems für mich nicht so interessant, das ist kein Gegenstand für Dramen mehr. Es gibt von T.S. Eliot die Formulierung, daß die Welt untergeht „not with a bang, but with a wimper“, also nicht mit einem Knall, sondern mit Gewinsel. Genau das ist der Unterschied. Alles, was jetzt passiert, vom Golfkrieg angefangen, ist ja eine Folge der Wende. Das Ende des Kalten Kriegs oder der Ost-West-Konfrontation bedeutet eben die langsame Drehung in die Nord-Süd-Konfrontation. Und die ist nicht aufzuhalten, durch keine Asylgesetzänderung. Da ist nichts zu machen. Europa ist schon in der Situation von Spät-Rom.
Wie fühlen Sie sich da?
Heiner Müller: Als Autor eigentlich sehr gut, als Regisseur ist das schon schwieriger. Das Theater in Deutschland – vielleicht nicht die Oper, denn die ist von vornherein etwas Abgehobenes –ist momentan sehr verunsichert. Man weiß nicht mehr, was das Schauspiel für eine Funktion hat, weiß nicht mehr, wen man ansprechen und gegen wen man polemisieren soll. Im Schauspiel kann sich das Publikum zurücklehnen und zurückziehen, in der Oper ist das nicht so. Von der Oper geht, wenn sie gut ist, ein Sog aus, der alle erfassen kann, jedenfalls für die Dauer einer Aufführung.
Dann müßte es Sie doch reizen, mehr Oper zu machen?
Heiner Müller: Das könnte sein, aber ich weiß es jetzt noch nicht. Erstmal reizt es mich, ein Stück zu schreiben und noch fünf Stücke. Und dann vielleicht, danach …
Es gibt inzwischen auch Vertonungen Ihrer Stücke. Wie stehen Sie dazu?
Heiner Müller: Hm. Einige bringen Geld. Ansonsten glaube ich, daß Paul Dessau recht hat, der da meinte, daß meine Texte nicht zu vertonen sind, ganz einfach weil sie zu dicht sind. Goethe hat das so formuliert, daß ein Text für Musik weitmaschig sein muß. Bei Wagner ist das wieder ganz anders: Er hat sich eine Sprache nur für die Musik gebaut, die nur auf dem Verhältnis von Vokalen und Konsonanten basiert. Das war wahrscheinlich damals die einzige Möglichkeit, die Oper nach Mozart und nach Weber wiederauferstehen zu lassen.
Es gibt ja Leute, die halten so etwas wie „Weia! Waga! Woge du Welle“ für Schwachsinn!
Heiner Müller: Das hab ich auch gedacht – und auch gesagt. Erst jetzt habe ich gemerkt, daß das überhaupt kein Schwachsinn ist, sondern so etwas wie der Kubismus in der Malerei. Es ist eine, nein, die einzige Möglichkeit für eine moderne Oper. Wenn man bei Wagner wirklich hinhört, dann merkt man, es ist ganz dumm, diese Texte komisch zu finden. Sie sind so gezielt für die Musik gemacht, das ist ganz einfach genial! Bei den modernen oder zeitgenössischen Opern ist es seit Alban Berg nicht mehr gelungen, aus echten Literaturvorlagen oder literarischen Texten Oper zu machen. Die Sprache sperrt sich gegen die Musik, die Musik sperrt sich gegen die Sprache.
Selbst heute sperren sich manche gegen Wagners Sprache und sind doch Wagnerianer. Woran liegt das?
Heiner Müller: Ich glaube, das ist die richtige Mischung aus Mythos, Droge und Psychologie.
Und was ist dabei die Droge?
Heiner Müller: Die Leitmotivtechnik ist natürlich eine Drogentechnik. Der Haupteffekt aller Drogen ist ja die Veränderung des Zeitgefühls, die Droge Wagner ist die Behauptung einer anderen Zeit als der Alltagszeit. Das ist auch der Triumph von Wagner in Bayreuth, daß da dem Publikum ein anderer Zeitablauf, ein anderer Zeitraum aufgezwungen wird.
Sind Sie ihm nicht neidisch drauf, daß er das so gut hingekriegt hat?
Heiner Müller: Nein, ich will ja keine Opern schreiben. Aber natürlich will ich auch ein Publikum haben. Und ich glaube, daß das auch mit Texten möglich ist, mit der Inszenierung von Texten ohne Musik. Das ist aber genau das, wogegen sich der Theaterbetrieb momentan sperrt und fast panisch versucht, sich zum Beispiel gegen das Fernsehen zu wehren. Schon Brecht hat versucht – vielleicht mehr in seinen Ideen als in der Praxis –, die Wirkungsmittel und Möglichkeiten der elektronischen Medien in die Theaterarbeit zu integrieren, auch als dramaturgisches Mittel. Vielleicht kann man solche Ideen jetzt am Berliner Ensemble verwirklichen, vielleicht sogar für Brecht-Inszenierungen, wenn die Situation mit den Erben das zuläßt. Auf jeden Fall ist Brechts Theater-Konzept ein Reservoir an Ideen, an Utopie auch.
Und dem fühlen Sie sich verpflichtet?
Heiner Müller: Ich fühle mich überhaupt zu nichts verpflichtet. Aber es interessiert mich, damit zu spielen.
Wie haben Sie sich gefühlt, als in Frankfurt die „Experimenta“ [dreiwöchige, hochkarätig besetzte Veranstaltung der Akademie der darstellenden Künste 1990, die ausschließlich Heiner Müller gewidmet war] veranstaltet wurde?
Heiner Müller: In Frankfurt habe ich die meiste Zeit in Kneipen verbracht.
Und ich hab mir den Kopf darüber zerbrochen, wieviele deutsche Autoren etwas Ähnliches haben erleben dürfen …
Heiner Müller: Das ist schon richtig. Aber es hat natürlich auch einen anderen Aspekt: da ist auch ein Verschleiß! Und man muß schon aufpassen, daß man den Verschleiß nicht für Erfolg hält. Das war eigentlich meine Grunderfahrung dabei. Es gibt gerade am Theater – ganz deutlich abzulesen an der Geschichte des Berliner Ensembles und der Schaubühne – eine Differenz zwischen Erfolg und Wirkung. Die Wirkung kann nur darin liegen, daß man das Publikum spaltet. Wenn das Publikum harmonisch zusammenklingt, dann hat man Erfolg, aber damit ist die Wirkung vorbei. Das hat man in Bayreuth ja auch erlebt, mit Chéreau. Sein „Ring“ war das Größte, was hier in den letzten Jahrzehnten gemacht worden ist, und das Publikum war absolut gespalten. Wagner hat zum erstenmal wieder gewirkt – und es war zunächst eben kein Erfolg, der eine Gemeinde zu einer Andacht vereint. Der kam später, und das ist ganz normal. Nach einiger Zeit wird jede Wirkung zum Erfolg. Dann muß man neue Wirkungsmöglichkeiten suchen.
Suchen und finden Sie für „Tristan“?
Heiner Müller: Keine Ahnung. Aber es ist ein Unsinn zu glauben, daß jemand hier einen Skandal provozieren wollte. Das hat Chéreau nicht gemacht, das käme auch mir nicht in den Sinn. Man will seine Arbeit machen, so gut man kann – und wahrscheinlich bleibt man immer ein bißchen zurück hinter dem Traum, den man von einer Sache hat. Das ist alles. Man ist doch viel zu sehr mit der Sache beschäftigt, um an die Außenwirkung zu denken. Es gibt sicher Regisseure, die inszenieren von vornherein mit einem Seitenblick auf bestimmte Kritiker und gucken gar nicht mehr so sehr auf das, was dann vielleicht darüber gesagt wird. Das ist natürlich tödlich fürs Theater!
Was unterscheidet Sie denn von einem reinen Regisseur?
Heiner Müller: Ich würde immer darauf bestehen, daß ich als Regisseur ein Dilettant bin – und zwar in dem Sinn, daß ich nicht glaube, daß Regisseur ein Beruf ist. Das sollte eher so etwas wie ein Service sein. Der Regisseur als Star ist immer nur entstanden aus einer Krise der Texte oder der Werke in bezug auf das Publikum.
Sie haben schon mehrfach von einer Krise des Theaters gesprochen. Fehlen nicht einfach die richtigen Stücke?
Heiner Müller: Nein, das hat mit dem Stücken nichts zu tun. Die Krise des Theaters ist die Krise der Gesellschaft.
Das ist eine einfache Antwort.
Heiner Müller: Vielleicht. Aber es ist so. Wenn Autoren in der Krise sind, was ich ja nicht leugne, dann ist diese Krise aber gerade ein Kraftquell der Inspiration. Ohne Krise entsteht nichts – zumindest was Texte angeht. Wenn aber das Theater in der Krise ist, dann ist das was anderes, denn das Theater ist ein Dienstleistungsbetrieb, also eine Art Vermittlung. Und wenn die Vermittlung in der Krise ist, hat das nichts zu tun mit dem, was zu vermitteln ist.
Ist der Intendantenjob nicht auch eine Möglichkeit, Macht auszuüben?
Heiner Müller: Sicher, aber das hält sich sehr in Grenzen. Der Machtfaktor ist immer das Geld, die Macht ist also bei denen, die es geben oder nicht geben. Die sitzen in jedem Fall am längeren Hebel. Wenn der Kohl jetzt erklärt, „eisern sparen ohne jedes Tabu“ – eine reine DDR-Losung! Oder noch älter, das „eisern“ vor allem, „eisern sparen!“ … Dagegen ist ja nichts zu sagen. Zumindest ist das dauernde Geschrei gerade der deutschen Intendanten übertrieben. Keine Theaterstruktur hat soviel Geld vom Staat gekriegt wie die deutsche – in der DDR und in der Bundesrepublik, auch jetzt noch. In anderen Ländern können die von sowas nur träumen. Man sollte also überlegen, wie man andere Ästhetiken entwickelt, die weniger kosten. Man muß ja nicht immer gleich eine Beleuchtungstechnik haben, die soundsoviele Millionen kostet. Vielleicht sollte man es mal mit Kerzen versuchen? Kann auch wieder interessant sein.
Auf die Macht-Frage haben Sie eigentlich nicht reagiert. Ist das ein Fremdwort für Sie?
Heiner Müller: Worin besteht denn die Macht eines Intendanten? Das ist doch eher eine Ohnmachtssituation, weil plötzlich ist man verantwortlich für die letzte Putzfrau, Garderobiere und für jeden Besen, der im Theater verwendet wird. Das sind alles Posten, die zählen. Ich weiß nicht, was das mit Macht zu tun hat. Es ist eher eine Einbindung in Zwänge. Macht ist, jetzt, in dieser Gesellschaft, sowieso die zunehmende Einbindung in zunehmende Zwänge. Daß ich mich auf diese Sache eingelassen habe, hat natürlich auch etwas mit den Arbeitsmöglichkeiten zu tun. Wo man selbst verantwortlich ist, kann man vielleicht Dinge machen, die woanders nicht möglich sind. Es geht also vor allem um die Verwirklichung von Ideen und Träumen. Ob das klappt, ist eine andere Frage.
Nochmal zurück nach Bayreuth. Hätten Sie außer „Tristan“ auch etwas anderes inszeniert?
Heiner Müller: Ich glaube nicht. Als Barenboim mich zuerst fragte, fand ich das ohnehin ganz absurd. Da ich aber abergläbisch bin und an Schicksal oder was auch immer, aber nicht an Zufall glaube, konnte ich eigentlich nur ja sagen. Später hat er mir erzählt, daß er Chéreau gefragt hätte. Und der hatte ihm gesagt, „Tristan“ kann man nicht inszenieren, das ist ein Hörspiel – was ich inzwischen gut verstehe.
Chéreau hat nicht „Tristan“, aber Heiner Müller inszeniert.
Heiner Müller: Ja, er hat „Quartett“ in Paris inszeniert. „Quartett“ ist natürlich, wenn man ein Happyend voraussetzt, eine Fortsetzung von „Tristan“. Wenn die sich gekriegt hätten, wäre es zehn oder zwanzig Jahre später so zugegangen wie in „Quartett“. Chéreau hat das, auch von seiner Besetzung her, so inszeniert – das fand ich sehr schön.
Wie sind Sie auf Yoshji Yamamoto gekommen?
Heiner Müller: Ganz einfach. Ich hatte ihn nur in dem Film von Wim Wenders gesehen – und ich hatte Angst vor keltisch-germanischen Kostümen. Das war ein Versuch, jemanden zu nehmen, wo diese Gefahr nicht besteht.
Mit Erich Wonder arbeiten Sie schon lange zusammen.
Heiner Müller: Was ich bei ihm toll finde, daß seine Räume immer eine bestimmte Geometrie erzwingen. Es sind nie Räume, die einfach nur etwas abbilden, seine Räume sind –was ich ganz gern habe – ein Widerstand. Theater oder Oper findet immer statt zwischen den Koordinaten von Angst und Geometrie. Geometrie ist immer gut als Auffangbecken für die Angst – die Angst der Schauspieler, die Angst der Sänger, auch die Angst der Regisseure.
Sie haben schon Unmengen von Interviews gegeben. Gibt es eine Frage, die Sie sich immer gewünscht haben, die aber nie gestellt wurde?
Heiner Müller: Hm. Ich erinnere mich an das erste Interview überhaupt, das war 1958 vor der Premiere von „Lohndrücker“ im Maxim Gorki Theater. Eine Dame vom „Spiegel“ fragte mich: „Was machen Sie am liebsten?“ Und da hab ich die genialste Antwort gefunden, zu der ich heute nicht mehr fähig wäre, nämlich: „So sitzen!“ Im Grund isses das. In Ruhe gelassen werden. Wenn man erstmal in den Kulturbetrieb reingeraten ist, wird man immer unfähiger, so eine einfache Frage einfach zu beantworten. Man fängt gewaltig an nachzudenken, anstatt einfach zu sagen, was im Moment mit einem los ist.
Man wird Sie nicht in Ruhe lassen!
Heiner Müller: Nee. Aber ab Oktober gibt’s keine Interviews mehr. Da verschwinde ich, um ein Stück zu schreiben.
Erstveröffentlichung in Gondroms Festspielmagazin 1993
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