„Es gibt Stellen, wo ich wirklich verzweifle …“

Am 30. De­zem­ber vor 25 Jah­ren starb der Dra­ma­ti­ker Hei­ner Mül­ler, des­sen „Tristan“-Inszenierung 1993 bis 1999 in Bay­reuth für vie­le un­ver­ges­sen ist.

Hei­ner Mül­ler beim In­ter­view im Som­mer 1993 Fo­tos: Karl­heinz Beer

Eine aus­führ­li­che ak­tu­el­le Wür­di­gung Hei­ner Mül­lers zum 25. To­des­tag hat der MDR ver­öf­fent­licht. Das fol­gen­de In­ter­view mit dem Dra­ma­ti­ker und „Tristan“-Regisseur durf­te ich im Früh­som­mer 1993 wäh­rend der Pro­ben­zeit füh­ren. Es war in meh­re­rer Hin­sicht au­ßer­ge­wöhn­lich, denn ers­tens mach­te Mül­ler zur Be­din­gung, dass ich eine Fla­sche sei­nes Lieb­lings-Whis­keys als „Ho­no­rar“ mit­brin­gen soll­te, und zwei­tens hat er, was bei ei­nem so lan­gen In­ter­view un­ge­wöhn­lich ist, kein ein­zi­ges Wort ge­än­dert. Und drit­tens ist das, was er da­mals zu sa­gen hat­te, auch heu­te noch le­sens- und bedenkenswert.

Der „Tris­tan“ war, wie in Ih­rem Buch „Krieg ohne Schlacht“ steht, die ers­te Oper, die Sie je ge­se­hen ha­ben. Kön­nen Sie sich noch dar­an erinnern?
Hei­ner Mül­ler: Ich fürch­te, das ist lan­ge her. Ich war viel­leicht sieb­zehn, und bin da ei­gent­lich nur hin­ein­ge­ra­ten, weil ich da­mals mei­ne Stief­schwes­ter ken­nen­ler­nen woll­te. Sie war ein be­geis­ter­ter Opern- und Wag­ner­fan und hat mich, als ich sie zum ersten­mal in Chem­nitz traf, über­re­det, mit in die Oper zu kom­men. Von al­lein wäre ich nie auf die Idee ge­kom­men. Die Oper war für mich eher an der Gren­ze des Unmöglichen.

Wann hat sich die­se An­schau­ung geändert?
Hei­ner Mül­ler: Das hat sich haupt­säch­lich durch die Be­geg­nung mit Paul Des­sau und Ruth Berg­haus ge­än­dert. Als ich für die „Elektra“-Inszenierung von Ruth Berg­haus 1967 an der Staats­oper ei­nen Text über die Blut­spur die­ser My­then für den Vor­hang mach­te, habe ich dann doch das Ge­fühl ge­habt, daß ich mit Oper et­was an­fan­gen kann. We­nig spä­ter habe ich für Paul Des­sau zu „Lanze­lot“ das Li­bret­to geschrieben.

Füh­len Sie sich dem Dra­ma­ti­ker Ri­chard Wag­ner verwandt?
Hei­ner Mül­ler: Naja, wie sind bei­de aus Sach­sen, aber das bringt nicht sehr viel. Ei­gent­lich habe ich erst jetzt, bei der nä­he­ren Be­schäf­ti­gung mit ihm, ge­merkt, daß Wag­ner ein ge­nia­ler Dra­ma­turg ist. Es gibt von ihm ei­nen Satz über Shake­speare, der heißt „Shake­speare ist die mi­mi­sche Im­pro­vi­sa­ti­on in ei­nem vor­ge­zeich­ne­ten Grund­riß“. Ich habe das Ge­fühl, daß Wag­ner – ge­ra­de auch beim „Tris­tan“ – kom­po­si­to­risch das Glei­che macht wie sprach­lich Shake­speare. Shake­speare hat so eine be­stimm­te Tech­nik, die man am sim­pels­ten in den gro­ßen Mo­no­lo­gen aus „Ham­let“ oder „Lear“ ver­fol­gen kann, d.h. es gibt ein Mo­tiv oder ein The­ma, dann folgt das Ge­gen­the­ma, dann wird das ers­te wie­der­auf­ge­nom­men und va­ri­iert, kommt ein drit­tes dazu … Es ist so ein Auf­schwel­len – und das ist auch ziem­lich ge­nau die Kom­po­si­ti­ons­tech­nik. Es in­ter­es­siert mich jetzt ein­fach, Wag­ner als Shake­speare zu sehen.

Ha­ben Sie sich mit der Bio­gra­phie Wag­ners beschäftigt?
Hei­ner Mül­ler: Ja, aber nicht über­mä­ßig. Ich in­ter­es­sie­re mich auch nicht so sehr für mei­ne Bio­gra­phie und so sehr auch nicht für die von Wagner.

Sonst hät­te ich Sie ge­fragt, ob Sie nicht auch da Par­al­le­len fin­den! Ich wür­de da z.B. an­set­zen bei Ih­rer Vor­lie­be für ge­schei­ter­te Revolutionäre …
Hei­ner Mül­ler: Aber das ist ja nun nichts Be­son­de­res. Alle Re­vo­lu­tio­nä­re sind bis­her ge­schei­tert. In­so­fern ist das kei­ne Spe­zia­li­tät! Aber na­tür­lich ist da was dran. Schon als Dra­ma­ti­ker in­ter­es­siert man sich na­tür­lich viel mehr für Fi­gu­ren, die schei­tern, als für die, die Er­folg ha­ben. Ge­schei­tert ist z.B. Rob­bes­pierre, er­folg­reich ist Hel­muth Kohl. Na­tür­lich ist Rob­bes­pierre ein Dra­men­stoff und, wenn man will, auch ein Opern­stoff. Aber eine Oper über Hel­muth Kohl kann ich mir nur schwer vor­stel­len. Das hat aber auch an­de­re Gründe.

Und wer schei­tert spe­zi­ell im „Tris­tan“?
Hei­ner Mül­ler: Ich den­ke alle. Aber was heißt schei­tern? Im Schei­tern liegt ja – und dar­in sehe ich eine ganz wich­ti­ge Ver­bin­dung zwi­schen Wag­ner und Nietz­sche – sein Kon­zept von Tra­gö­die, die­se The­se, daß aus dem Un­ter­gang der oder des Prot­ago­nis­ten En­er­gie ge­won­nen wird, daß das Pu­bli­kum aus der Be­ob­ach­tung des Schei­terns und des Un­ter­gangs ei­nen En­er­gie­schub kriegt. Und je grö­ßer et­was ist, das un­ter­geht, des­to mehr En­er­gie ist aus dem An­schau­en oder Dar­stel­len des Un­ter­gangs zu beziehen.

Wie läßt sich das kon­kret auf die Fi­gu­ren im „Tris­tan“ beziehen?
Hei­ner Mül­ler: Isol­de z.B. hat ge­ra­de in der Nicht-Er­fül­lung ih­res An­spruchs, mit dem sie auf­tritt, ein gro­ßes Po­ten­ti­al an Uto­pie. Tris­tan ist eher ein Ei­gen­hold, der zwi­schen sei­nem to­ta­len Glücks­an­spruch und den Zwän­gen in der Män­ner­ge­sell­schaft zer­ris­sen wird; des­we­gen hat er ein we­ni­ger gro­ßes Re­ser­voir an Uto­pie, aber im­mer noch ge­nug. Isol­de da­ge­gen ist eine ab­so­lut uto­pi­sche Figur.

Wel­che Uto­pie mei­nen Sie?
Hei­ner Mül­ler: Uto­pie ist ja zu­nächst nichts wei­ter als die Wei­ge­rung, die ge­ge­be­nen Be­din­gun­gen, die Rea­li­tä­ten als die ein­zig mög­li­chen an­zu­er­ken­nen, ist also der Drang nach dem Un­mög­li­chen. Und wenn man das Un­mög­li­che nicht ver­langt oder will, wird der Be­reich des Mög­li­chen im­mer klei­ner. Das ist eine Sa­che, die er­zählt wird im „Tris­tan“.

Sind Sie ein uto­pi­scher Regisseur?
Hei­ner Mül­ler: Weiß ich nicht, kei­ne Ah­nung. Aber mo­men­tan wer­de ich im­mer be­schei­de­ner: der „Tris­tan“ ist ein un­ge­heu­er kom­ple­xes Un­ter­neh­men und sehr viel schwie­ri­ger, als ich ge­dacht habe. Es gibt Stel­len, wo ich wirk­lich ver­zweif­le und den­ke, daß man das über­haupt nicht in­sze­nie­ren kann – z.B. das Lie­bes­du­ett, die 2. Sze­ne im 2. Akt. Das ist, wie glau­be ich Bru­no Wal­ter nach ei­ner „Tristan“-Aufführung zu Tho­mas Mann sag­te, schon kei­ne Mu­sik mehr, ist schon jen­seits von Mu­sik – und in ei­ni­gen Tei­len auch jen­seits von Thea­ter. Wie man die­ses Jen­seits auf die Büh­ne bringt, weiß ich noch nicht. Das muß man ausprobieren.

Vie­le Re­gis­seu­re, die Hei­ner Mül­ler in­sze­nie­ren, ste­hen vor dem glei­chen Pro­blem. Kön­nen Sie das nicht besser?
Hei­ner Mül­ler: Nein, da gibt’s kei­ne Ga­ran­tie. Aber es stimmt schon: Es gibt Stü­cke, die sind ge­schrie­ben für das vor­han­de­ne Thea­ter; in­ter­es­sant wird es aber erst, wenn man für ein un­mög­li­ches Thea­ter schreibt. Und die­ses un­mög­li­che Thea­ter ist, wenn man Glück hat, das Thea­ter der Zu­kunft. Wag­ner hat den „Tris­tan“ na­tür­lich auch für ein un­mög­li­ches Thea­ter ge­schrie­ben, und dem­entspre­chend war die Ur­auf­füh­rung wohl zu­nächst kein Er­folg. Das war eben ein deut­li­cher Zu­sam­men­stoß zwi­schen ei­ner Thea­ter­kon­ven­ti­on und der Un­mög­lich­keit, die­ses Werk in die­ser Kon­ven­ti­on wirk­lich um­zu­set­zen. Viel­leicht ist das Pro­blem noch nicht ganz vor­bei. Wir wer­den sehen.

Wie kom­men Sie ei­gent­lich mit den Re­gie­an­wei­sun­gen Wag­ners zurecht?
Hei­ner Mül­ler: Alle Re­gie­an­wei­sun­gen – das habe ich zum ersten­mal ge­merkt, als ich den „Lohn­drü­cker“ in­sze­niert habe – sind der Ver­such, ei­nen Kom­pro­miß zu schlie­ßen mit dem vor­han­de­nen Thea­ter. Wenn man sie also be­folgt, bleibt man un­ter den Mög­lich­kei­ten des Tex­tes – und das ist bei Schil­ler ge­nau­so wie bei Wag­ner. Die Wer­ke selbst ver­än­dern sich ei­gent­lich nicht, aber die Be­din­gun­gen, un­ter de­nen sie rea­li­siert wer­den. Bei Wag­ner ist mir auf­ge­fal­len, daß er sei­ne Re­gie­an­wei­sun­gen im­mer an dra­ma­tur­gisch wich­ti­ge Punk­te setzt. Ge­ra­de der „Tris­tan“ ist auch in dem Sin­ne enorm ge­baut. Man muß nur auf­pas­sen, daß man es nicht ge­nau­so macht, wie es dasteht.

Sie ver­ste­hen wohl alle dra­ma­ti­schen Stof­fe eher als Material? 
Hei­ner Mül­ler: Was heißt Ma­te­ri­al? Mein Aus­gangs­punkt ist so: Wenn im Thea­ter et­was pas­siert oder so dar­ge­stellt wird, wie ich es auch in der Stra­ßen­bahn se­hen kann, dann blei­be ich lie­ber auf der Stra­ße. Thea­ter ist erst dann in­ter­es­sant, wenn es eine Über­set­zung in eine an­de­re Wirk­lich­keit schafft. In­so­fern ist Thea­ter, wenn es gut ist, auch im­mer ein Af­front ge­gen die Wirk­lich­keit, in­so­fern ist auch die Wirk­lich­keit ein Ma­te­ri­al, um an­de­re Mög­lich­kei­ten an­zu­deu­ten. Bei der Oper ist das von vorn­her­ein so.  Die­se Nicht-Rea­li­tät zu über­set­zen, ist auch das, was die Oper zur Dro­ge macht – und zu ei­ner En­er­gie­quel­le. Es ist doch sehr auf­fäl­lig, daß die Oper im Mo­ment für gro­ße Tei­le des Pu­bli­kums viel wich­ti­ger ist als das Schau­spiel. Was viel­leicht auch dar­an liegt, daß die Oper nicht wie das Schau­spiel zu­erst vom Na­tu­ra­lis­mus und dann vom Kino und Fern­se­hen ein­ge­holt wor­den ist. Oper im Fern­se­hen ist im­mer nur ein se­kun­dä­res Produkt.

War­um in­sze­nie­ren Sie?
Hei­ner Mül­ler: Ur­sprüng­lich viel­leicht nur aus Är­ger über In­sze­nie­run­gen mei­ner Stü­cke. Da dach­te ich, das muß ich auch mal pro­bie­ren. Aber das ist na­tür­lich über­haupt kei­ne Ga­ran­tie, daß ein Au­tor es bes­ser macht. Eine au­then­ti­sche In­sze­nie­rung gibt es nicht, kann es nicht ge­ben. Wenn ein Text oder eine Oper gut ist, dann gibt es im­mer vie­le Möglichkeiten.

Wa­ren Sie mit Ih­ren ei­ge­nen In­sze­nie­run­gen zufrieden?
Hei­ner Mül­ler: Am Thea­ter ist nie et­was fer­tig. Es gibt höchs­tens Pha­sen, wo man mal zu­frie­den ist, aber kurz da­nach ist man es ga­ran­tiert nicht mehr. Das Schlim­me am ty­pi­schen Re­per­toire­be­trieb ist doch, daß eine Auf­füh­rung, die lan­ge läuft, sich ab­schleift. Da gibt es die­sen bö­sen Satz von Brecht: „Das Thea­ter thea­tert al­les ein.“ Das ist es! Man er­kennt manch­mal schon nach zwan­zig Vor­stel­lun­gen die ei­ge­ne Ar­beit nicht wie­der, weil die Schau­spie­ler sich die In­sze­nie­rung und den Text in dem Sin­ne an­eig­nen, daß sie es sich dar­in be­quem ma­chen. In der Oper ist das an­ders, weil es eine ab­so­lu­te Dis­zi­plin gibt, die vom Ti­ming der Mu­sik aus­geht – was vom Di­ri­gen­ten üb­ri­gens nur ein biß­chen va­ri­iert wer­den kann. Die­ser Zwang ist schon mal gut. Der Vor­teil hier in Bay­reuth ist auch, daß es Wie­der­auf­nah­men gibt, die z.T. mit an­de­rer Be­set­zung wirk­lich neu er­ar­bei­tet wer­den. Das fin­de ich sehr gut.

Fin­det Thea­ter bei Ih­nen eher im Kopf statt als auf der Büh­ne? Ist der Text für Sie et­was Abgeschlossenes?
Hei­ner Mül­ler: Nein, über­haupt nicht. Wenn ich pro­bie­re, dann ge­hört mir auch der ei­ge­ne Text nach ei­ni­ger Zeit nicht mehr, weil ich ihn tat­säch­lich ver­ges­se – ob­wohl ich mei­ne Tex­te nor­ma­ler­wei­se aus­wen­dig kann. Wenn ich die Schau­spie­ler dann fra­gen muß, wie geht’s denn wei­ter, dann ist der Punkt da, wo die In­sze­nie­rung steht.

Sie ha­ben in Zu­sam­men­hang mit Ih­rer „Auftrag“-Inszenierung 1982 ein­mal ge­sagt, der Text zum Fahr­stuhl-Mo­no­log sei wie ein Te­le­fon­buch. Das hat mich doch sehr verblüfft.
Hei­ner Mül­ler: Ja, das sagt man so da­hin. Ge­meint ist schon was Se­riö­ses: Schau­spie­ler nei­gen näm­lich dazu, ihre Mei­nung zum Text oder ihre Emp­fin­dung in be­zug auf den Text auch noch mit­zu­tei­len. Und das ist meis­tens lang­wei­lig. Wenn im Text z.B. et­was Trau­ri­ges steht, dann muß der Schau­spie­ler es nicht trau­rig sa­gen, son­dern eher ganz hei­ter. Erst da­durch er­fährt man et­was oder er­fährt man mehr.

Und wie be­geg­nen Sie die­ser Ge­fahr in der Oper?
Hei­ner Mül­ler: Das muß ich noch her­aus­fin­den. Viel­leicht ist es nicht nur schwer, son­dern auch leich­ter, denn die Mu­sik ist wie eine Mas­ke. Im Schau­spiel funk­tio­niert das nicht, denn je­der Schau­spie­ler glaubt, daß er ers­tens den Text ver­steht und zwei­tens da­mit um­ge­hen kann, wie ihm ge­ra­de ist. Das geht in der Oper nicht.

Ha­ben Sie Angst vor den ty­pi­schen Operngesten?
Hei­ner Mül­ler: Na­tür­lich. Manch­mal sind sie un­ver­meid­lich. Aber man kann sie auch be­nut­zen. Es ist nur die Fra­ge, wie und wo. Mir ist ge­ra­de bei Wag­ner auf­ge­fal­len, daß die Mu­sik eine ge­wis­se Kör­per­lich­keit hat, daß die Mu­sik eine Kör­per­spra­che auch vor­schreibt – aber kei­ne Zeichensprache.

Ist „Tris­tan“ für Sie romantisch? 
Hei­ner Mül­ler: Nein, ich glau­be, es ist eine sehr har­te Ge­schich­te, denn es gibt da so dunk­le Punk­te, die sich ei­gent­lich nicht klä­ren las­sen. Aber je­des Kunst­werk hat auch ein Ge­heim­nis, das man nicht an­tas­ten darf, das ste­hen­blei­ben muß. Es ist ganz wich­tig, daß man die Dun­kel­heit bei­be­hält und ihr ei­nen Rah­men gibt.

Wie­viel To­des­nä­he ist in „Tris­tan“?
Hei­ner Mül­ler: Das kommt drauf an, wie man das de­fi­niert. Was ist To­des­nä­he? So ei­nen To­des­s­sehn­sucht ist si­cher drin. Und die ist nichts an­de­res als die Sehn­sucht nach ei­nem an­de­ren Le­ben. Nie­mand sehnt sich wirk­lich nach dem Tod; das wäre ja Un­sinn und Ro­man­tik im schlech­ten Sinn. Nein, die Sehn­sucht nach dem Tode ist die Sehn­sucht nach ei­nem an­de­ren Le­ben. Und das ist das re­vo­lu­tio­nä­re Po­ten­ti­al von „Tris­tan“.

Und das wie­der­um steckt in vie­len Stü­cken von Ihnen?
Hei­ner Mül­ler: Was auch mit der Grund­struk­tur von Thea­ter zu tun hat. Thea­ter ist Ver­wand­lung – und die letz­te Ver­wand­lung ist der Tod. Der Tod ist die Fo­lie von Thea­ter, ist im­mer der Hin­ter­grund: er wird sub­li­miert in der Tra­gö­die und ver­drängt in der Ko­mö­die, aber er ist im­mer da. Im Schau­spiel – ich rede jetzt nicht von der Oper, denn da ist es so­wie­so klar – ist die Gleich­zei­tig­keit von Le­ben und Tod, ist die gleich­be­rech­tig­te Prä­senz von To­ten und der Le­ben­den auf der Büh­ne be­son­ders wich­tig. Das war für die An­ti­ke selbst­ver­ständ­lich, das ist auch so bei Shake­speare. Durch den Na­tu­ra­lis­mus, der na­tür­lich sei­ne his­to­ri­schen Grün­de hat, ist die­se vi­ta­le Funk­ti­on des Thea­ters  ver­lo­ren­ge­gan­gen. Und da­mit auch die ka­thar­ti­sche Funk­ti­on des Thea­ters, und, wenn Sie wol­len, auch die politische.

War­um ha­ben Sie so lan­ge nicht mehr geschrieben?
Hei­ner Mül­ler: Seit 1988 habe ich au­ßer Ge­dich­ten tat­säch­lich nichts mehr ge­schrie­ben. Rein äu­ßer­lich lag es dar­an, daß ich kei­ne Zeit hat­te, weil ich ein­ge­bun­den war in al­les Mög­li­che, in die Aka­de­mie, ins Thea­ter … Na­tür­lich ist es nach so ei­nem Epo­chen­bruch auch schwer, da braucht man eine ge­wis­se An­lauf­zeit. Die Ge­dich­te sind schon der bes­te Weg, wie­der zum Stü­cke­schrei­ben zu kom­men. Ich hof­fe, daß es gleich nach Bay­reuth klappt. Kon­kre­te Plä­ne habe ich schon seit zehn Jah­ren, aber wie im­mer spie­len auch ak­tu­el­le Din­ge hin­ein. Es wird si­cher ein Stück, das von Sta­lin­grad bis zum Fall der Mau­er geht, ein Stück mit den Opern­hel­den Hit­ler und Stalin.

Wie schrei­ben Sie ein Stück, rein tech­nisch ge­se­hen. Wie­vie­le Fas­sun­gen ver­wer­fen Sie?
Hei­ner Mül­ler: Die Haupt­ar­beit be­steht ei­gent­lich dar­in zu war­ten, bis es so­weit ist. Dann gibt es kei­ne Fas­sun­gen, son­dern nur eine Fas­sung. Das Schwie­rigs­te beim Schrei­ben ist im­mer der An­fang. Wenn man erst ein­mal an­ge­fan­gen hat, dann ist das wirk­lich so eine „mi­mi­sche Im­pro­vi­sa­ti­on in ei­nem vor­ge­zeich­ne­ten Grund­riß“. Na­tür­lich kann man erst an­fan­gen, wenn man den Schluß kennt. Und den Schluß kann man nicht ken­nen, be­vor man nicht an das nächs­te Stück denkt und weiß, wie das nächs­te an­fängt. Das ist der Mechanismus.

Also kommt die­ser Ein­schnitt nicht von ungefähr?
Hei­ner Mül­ler: Si­cher nicht. Aber das ist nichts Un­ge­wöhn­li­ches. Schil­ler hat, nach­dem er Kant ge­le­sen hat, sie­ben Jah­re kein Stück ge­schrie­ben. 1989 war also für mich so et­was wie Kant lesen …

Wie sind Ihre Er­fah­run­gen als In­ten­dant? Wol­len Sie die­se Auf­ga­be nicht wie­der loswerden?
Hei­ner Mül­ler: Nein, das geht jetzt nicht. Ge­gen das Ber­li­ner En­sem­ble hat sich ja ge­ra­de­zu eine Feuil­le­ton-Front for­miert, da darf ich das nicht auf­ge­ben. Das gro­ße Feind­bild ist ver­schwun­den, man muß sich jetzt – das ge­hört zur Zeit­stim­mung – jede Wo­che ir­gend­wel­che Fein­de auf­bau­en, da­mit über­haupt noch was läuft. Das Ber­li­ner En­sem­ble ist eben ei­nes der Feind­bil­der des deut­schen Feuilletons …

Sie sel­ber in­zwi­schen auch!
Hei­ner Mül­ler: Ja, klar. Ich hab da auch gar nichts dagegen.

Sie ha­ben zum Ber­li­ner En­sem­ble also eine be­son­de­re Be­zie­hung. Füh­len Sie sich als Erbe Brechts?
Hei­ner Mül­ler: Naja, das ist im­mer eine Gleich­zei­tig­keit von Erbe und Va­ter­mör­der. Was das Ber­li­ner En­sem­ble be­trifft, so ist es in­ner­halb der Ber­li­ner Thea­ter­struk­tur in­so­fern eine Hoff­nung, weil es – an­ders als an­de­re Thea­ter – ein Haus sein könn­te, das eben nicht dazu da ist, Be­dürf­nis­se zu be­die­nen, son­dern zu stö­ren und an­de­re Be­dürf­nis­se zu pro­vo­zie­ren. Viel­leicht ist das nur eine Il­lu­si­on, aber ver­su­chen kann man’s ja.

Ist es nicht ko­misch, daß Sie – ver­mut­lich sel­ber schon Groß­va­ter – die­ses Erbe jetzt erst antreten?
Hei­ner Mül­ler: Als Au­tor habe ich das schon lan­ge. Al­les an­de­re wäre vor­her nicht denk­bar ge­we­sen. Nie­mand in der DDR hät­te mich zu ir­gend­ei­nem In­ten­dan­ten ge­macht. Au­ßer ei­nem Dra­ma­tur­gen­pos­ten war da nichts drin. Wenn ich von dem hät­te le­ben müs­sen, was ich in der DDR ein­ge­nom­men habe, wäre ich längst ver­hun­gert ge­we­sen. Mei­ne Ein­nah­men, die Tan­tie­men, ka­men aus dem Wes­ten. Na­tür­lich im­mer re­du­ziert um den An­teil des Staats­bü­ros; man kat­te An­spruch auf 30 Pro­zent des Ho­no­rars in der an­de­ren Wäh­rung, den Rest be­kam man 1 : 1, und da­von gin­gen dann noch­mal 15 Pro­zent Be­ar­bei­tungs­ge­bühr ab. Das war im Grunde …

… eine Wegelagerei?
Hei­ner Mül­ler: Man hat im Grun­de da­mit Werk­zeug­ma­schi­nen fi­nan­ziert. An­sons­ten hat man na­tür­lich auch Mög­lich­kei­ten ge­fun­den, das Büro im­mer wie­der zu be­trü­gen. Das ge­hör­te ein­fach dazu, zu die­sem Spiel.

Wie hat sich die Wen­de für Sie per­sön­lich aus­ge­wirkt? Hat Sie das in eine Kri­se gestürzt?
Hei­ner Mül­ler: Nein. Ich wuß­te ja, daß das un­ver­meid­lich kommt, wuß­te das ei­gent­lich schon seit Jahren.

Aber Sie ha­ben trotz­dem im­mer noch zur DDR gehalten?
Hei­ner Mül­ler: Ja, ge­hal­ten kann man sa­gen. Und das hat vie­le Grün­de, auch bio­gra­phi­sche. Ich habe au­ßer­dem ge­glaubt, daß eine Al­ter­na­ti­ve zu dem Sys­tem der Bun­des­re­pu­blik und den west­li­chen Län­dern nö­tig ist. Das glau­be ich auch jetzt noch. Ich konn­te nie fin­den, daß das an­de­re Sys­tem so schön ist: mir kommt es re­la­tiv lang­wei­lig vor, auch als Stoff. Mein Le­ben in der DDR, das stimmt schon, war ein Auf­ent­halt in ei­nem Ma­te­ri­al, das sehr in­ter­es­sant war. Und ich glau­be, daß die­se De­ka­denz oder Im­plo­si­on des Os­tens na­tür­lich die Tra­gö­die die­ses Jahr­hun­derts ist. Das ist, auch in ganz pro­fes­sio­nel­lem Sinn, ein gu­tes Ma­te­ri­al, ein gu­ter Stoff.

Wer­den Sie sich jetzt mehr mit dem Un­ter­gang des jet­zi­gen Sys­tems beschäftigen?
Hei­ner Mül­ler: Das dau­ert ja noch, und es kann end­los dau­ern. Ab­ge­se­hen da­von ist der Un­ter­gang die­ses Sys­tems für mich nicht so in­ter­es­sant, das ist kein Ge­gen­stand für Dra­men mehr. Es gibt von T.S. Eli­ot die For­mu­lie­rung, daß die Welt un­ter­geht „not with a bang, but with a wim­per“, also nicht mit ei­nem Knall, son­dern mit Ge­win­sel. Ge­nau das ist der Un­ter­schied. Al­les, was jetzt pas­siert, vom Golf­krieg an­ge­fan­gen, ist ja eine Fol­ge der Wen­de. Das Ende des Kal­ten Kriegs oder der Ost-West-Kon­fron­ta­ti­on be­deu­tet eben die lang­sa­me Dre­hung in die Nord-Süd-Kon­fron­ta­ti­on. Und die ist nicht auf­zu­hal­ten, durch kei­ne Asyl­ge­setz­än­de­rung. Da ist nichts zu ma­chen. Eu­ro­pa ist schon in der Si­tua­ti­on von Spät-Rom.

Wie füh­len Sie sich da?
Hei­ner Mül­ler: Als Au­tor ei­gent­lich sehr gut, als Re­gis­seur ist das schon schwie­ri­ger. Das Thea­ter in Deutsch­land – viel­leicht nicht die Oper, denn die ist von vorn­her­ein et­was Ab­ge­ho­be­nes –ist mo­men­tan sehr ver­un­si­chert. Man weiß nicht mehr, was das Schau­spiel für eine Funk­ti­on hat, weiß nicht mehr, wen man an­spre­chen und ge­gen wen man po­le­mi­sie­ren soll. Im Schau­spiel kann sich das Pu­bli­kum zu­rück­leh­nen und zu­rück­zie­hen, in der Oper ist das nicht so. Von der Oper geht, wenn sie gut ist, ein Sog aus, der alle er­fas­sen kann, je­den­falls für die Dau­er ei­ner Aufführung.

Dann müß­te es Sie doch rei­zen, mehr Oper zu machen?
Hei­ner Mül­ler: Das könn­te sein, aber ich weiß es jetzt noch nicht. Erst­mal reizt es mich, ein Stück zu schrei­ben und noch fünf Stü­cke. Und dann viel­leicht, danach …

Es gibt in­zwi­schen auch Ver­to­nun­gen Ih­rer Stü­cke. Wie ste­hen Sie dazu?
Hei­ner Mül­ler: Hm. Ei­ni­ge brin­gen Geld. An­sons­ten glau­be ich, daß Paul Des­sau recht hat, der da mein­te, daß mei­ne Tex­te nicht zu ver­to­nen sind, ganz ein­fach weil sie zu dicht sind. Goe­the hat das so for­mu­liert, daß ein Text für Mu­sik weit­ma­schig sein muß. Bei Wag­ner ist das wie­der ganz an­ders: Er hat sich eine Spra­che nur für die Mu­sik ge­baut, die nur auf dem Ver­hält­nis von Vo­ka­len und Kon­so­nan­ten ba­siert. Das war wahr­schein­lich da­mals die ein­zi­ge Mög­lich­keit, die Oper nach Mo­zart und nach We­ber wie­der­auf­er­ste­hen zu lassen.

Es gibt ja Leu­te, die hal­ten so et­was wie „Weia! Waga! Woge du Wel­le“ für Schwachsinn!
Hei­ner Mül­ler: Das hab ich auch ge­dacht – und auch ge­sagt. Erst jetzt habe ich ge­merkt, daß das über­haupt kein Schwach­sinn ist, son­dern so et­was wie der Ku­bis­mus in der Ma­le­rei. Es ist eine, nein, die ein­zi­ge Mög­lich­keit für eine mo­der­ne Oper. Wenn man bei Wag­ner wirk­lich hin­hört, dann merkt man, es ist ganz dumm, die­se Tex­te ko­misch zu fin­den. Sie sind so ge­zielt für die Mu­sik ge­macht, das ist ganz ein­fach ge­ni­al! Bei den mo­der­nen oder zeit­ge­nös­si­schen Opern ist es seit Al­ban Berg nicht mehr ge­lun­gen, aus ech­ten Li­te­ra­tur­vor­la­gen oder li­te­ra­ri­schen Tex­ten Oper zu ma­chen. Die Spra­che sperrt sich ge­gen die Mu­sik, die Mu­sik sperrt sich ge­gen die Sprache.

Selbst heu­te sper­ren sich  man­che ge­gen Wag­ners Spra­che und sind doch Wag­ne­ria­ner. Wor­an liegt das? 
Hei­ner Mül­ler: Ich glau­be, das ist die rich­ti­ge Mi­schung aus My­thos, Dro­ge und Psychologie.

Und was ist da­bei die Droge?
Hei­ner Mül­ler: Die Leit­mo­tiv­tech­nik ist na­tür­lich eine Dro­gen­tech­nik. Der Haupt­ef­fekt al­ler Dro­gen ist ja die Ver­än­de­rung des Zeit­ge­fühls, die Dro­ge Wag­ner ist die Be­haup­tung ei­ner an­de­ren Zeit als der All­tags­zeit. Das ist auch der Tri­umph von Wag­ner in Bay­reuth, daß da dem Pu­bli­kum ein an­de­rer Zeit­ab­lauf, ein an­de­rer Zeit­raum auf­ge­zwun­gen wird.

Sind Sie ihm nicht nei­disch drauf, daß er das so gut hin­ge­kriegt hat?
Hei­ner Mül­ler: Nein, ich will ja kei­ne Opern schrei­ben. Aber na­tür­lich will ich auch ein Pu­bli­kum ha­ben. Und ich glau­be, daß das auch mit Tex­ten mög­lich ist, mit der In­sze­nie­rung von Tex­ten ohne Mu­sik. Das ist aber ge­nau das, wo­ge­gen sich der Thea­ter­be­trieb mo­men­tan sperrt und fast pa­nisch ver­sucht, sich zum Bei­spiel ge­gen das Fern­se­hen zu weh­ren. Schon Brecht hat ver­sucht – viel­leicht mehr in sei­nen Ideen als in der Pra­xis –, die Wir­kungs­mit­tel und Mög­lich­kei­ten der elek­tro­ni­schen Me­di­en in die Thea­ter­ar­beit zu in­te­grie­ren, auch als dra­ma­tur­gi­sches Mit­tel. Viel­leicht kann man sol­che Ideen jetzt am Ber­li­ner En­sem­ble ver­wirk­li­chen, viel­leicht so­gar für Brecht-In­sze­nie­run­gen, wenn die Si­tua­ti­on mit den Er­ben das zu­läßt. Auf je­den Fall ist Brechts Thea­ter-Kon­zept ein Re­ser­voir an Ideen, an Uto­pie auch.

Und dem füh­len Sie sich verpflichtet?
Hei­ner Mül­ler: Ich füh­le mich über­haupt zu nichts ver­pflich­tet. Aber es in­ter­es­siert mich, da­mit zu spielen.

Wie ha­ben Sie sich ge­fühlt, als in Frank­furt die „Ex­pe­ri­men­ta“ [drei­wö­chi­ge, hoch­ka­rä­tig be­setz­te Ver­an­stal­tung der Aka­de­mie der dar­stel­len­den Küns­te 1990, die aus­schließ­lich Hei­ner Mül­ler ge­wid­met war] ver­an­stal­tet wurde?
Hei­ner Mül­ler: In Frank­furt habe ich die meis­te Zeit in Knei­pen verbracht.

Und ich hab mir den Kopf dar­über zer­bro­chen, wie­vie­le deut­sche Au­toren et­was Ähn­li­ches ha­ben er­le­ben dürfen …
Hei­ner Mül­ler: Das ist schon rich­tig. Aber es hat na­tür­lich auch ei­nen an­de­ren Aspekt: da ist auch ein Ver­schleiß! Und man muß schon auf­pas­sen, daß man den Ver­schleiß nicht für Er­folg hält. Das war ei­gent­lich mei­ne Grund­er­fah­rung da­bei. Es gibt ge­ra­de am Thea­ter – ganz deut­lich ab­zu­le­sen an der Ge­schich­te des Ber­li­ner En­sem­bles und der Schau­büh­ne – eine Dif­fe­renz zwi­schen Er­folg und Wir­kung. Die Wir­kung kann nur dar­in lie­gen, daß man das Pu­bli­kum spal­tet. Wenn das Pu­bli­kum har­mo­nisch zu­sam­men­klingt, dann hat man Er­folg, aber da­mit ist die Wir­kung vor­bei. Das hat man in Bay­reuth ja auch er­lebt, mit Ché­reau. Sein „Ring“ war das Größ­te, was hier in den letz­ten Jahr­zehn­ten ge­macht wor­den ist, und das Pu­bli­kum war ab­so­lut ge­spal­ten. Wag­ner hat zum ersten­mal wie­der ge­wirkt – und es war zu­nächst eben kein Er­folg, der eine Ge­mein­de zu ei­ner An­dacht ver­eint. Der kam spä­ter, und das ist ganz nor­mal. Nach ei­ni­ger Zeit wird jede Wir­kung zum Er­folg. Dann muß man neue Wir­kungs­mög­lich­kei­ten suchen.

Su­chen und fin­den Sie für „Tris­tan“?
Hei­ner Mül­ler: Kei­ne Ah­nung. Aber es ist ein Un­sinn zu glau­ben, daß je­mand hier ei­nen Skan­dal pro­vo­zie­ren woll­te. Das hat Ché­reau nicht ge­macht, das käme auch mir nicht in den Sinn. Man will sei­ne Ar­beit ma­chen, so gut man kann – und wahr­schein­lich bleibt man im­mer ein biß­chen zu­rück hin­ter dem Traum, den man von ei­ner Sa­che hat. Das ist al­les. Man ist doch viel zu sehr mit der Sa­che be­schäf­tigt, um an die Au­ßen­wir­kung zu den­ken. Es gibt si­cher Re­gis­seu­re, die in­sze­nie­ren von vorn­her­ein mit ei­nem Sei­ten­blick auf be­stimm­te Kri­ti­ker und gu­cken gar nicht mehr so sehr auf das, was dann viel­leicht dar­über ge­sagt wird. Das ist na­tür­lich töd­lich fürs Theater!

Was un­ter­schei­det Sie denn von ei­nem rei­nen Regisseur?
Hei­ner Mül­ler: Ich wür­de im­mer dar­auf be­stehen, daß ich als Re­gis­seur ein Di­let­tant bin – und zwar in dem Sinn, daß ich nicht glau­be, daß Re­gis­seur ein Be­ruf ist. Das soll­te eher so et­was wie ein Ser­vice sein. Der Re­gis­seur als Star ist im­mer nur ent­stan­den aus ei­ner Kri­se der Tex­te oder der Wer­ke in be­zug auf das Publikum.

Sie ha­ben schon mehr­fach von ei­ner Kri­se des Thea­ters ge­spro­chen. Feh­len nicht ein­fach die rich­ti­gen Stücke?
Hei­ner Mül­ler: Nein, das hat mit dem Stü­cken nichts zu tun. Die Kri­se des Thea­ters ist die Kri­se der Gesellschaft.

Das ist eine ein­fa­che Antwort.
Hei­ner Mül­ler: Viel­leicht. Aber es ist so. Wenn Au­toren in der Kri­se sind, was ich ja nicht leug­ne, dann ist die­se Kri­se aber ge­ra­de ein Kraft­quell der In­spi­ra­ti­on. Ohne Kri­se ent­steht nichts – zu­min­dest was Tex­te an­geht. Wenn aber das Thea­ter in der Kri­se ist, dann ist das was an­de­res, denn das Thea­ter ist ein Dienst­leis­tungs­be­trieb, also eine Art Ver­mitt­lung. Und wenn die Ver­mitt­lung in der Kri­se ist, hat das nichts zu tun mit dem, was zu ver­mit­teln ist.

Ist der In­ten­dan­ten­job nicht auch eine Mög­lich­keit, Macht auszuüben?
Hei­ner Mül­ler: Si­cher, aber das hält sich sehr in Gren­zen. Der Macht­fak­tor ist im­mer das Geld, die Macht ist also bei de­nen, die es ge­ben oder nicht ge­ben. Die sit­zen in je­dem Fall am län­ge­ren He­bel. Wenn der Kohl jetzt er­klärt, „ei­sern spa­ren ohne je­des Tabu“ – eine rei­ne DDR-Lo­sung! Oder noch äl­ter, das „ei­sern“ vor al­lem, „ei­sern spa­ren!“ … Da­ge­gen ist ja nichts zu sa­gen. Zu­min­dest ist das dau­ern­de Ge­schrei ge­ra­de der deut­schen In­ten­dan­ten über­trie­ben. Kei­ne Thea­ter­struk­tur hat so­viel Geld vom Staat ge­kriegt wie die deut­sche – in der DDR und in der Bun­des­re­pu­blik, auch jetzt noch. In an­de­ren Län­dern kön­nen die von so­was nur träu­men. Man soll­te also über­le­gen, wie man an­de­re Äs­the­ti­ken ent­wi­ckelt, die we­ni­ger kos­ten. Man muß ja nicht im­mer gleich eine Be­leuch­tungs­tech­nik ha­ben, die so­und­so­vie­le Mil­lio­nen kos­tet. Viel­leicht soll­te man es mal mit Ker­zen ver­su­chen? Kann auch wie­der in­ter­es­sant sein.

Auf die Macht-Fra­ge ha­ben Sie ei­gent­lich nicht re­agiert. Ist das ein Fremd­wort für Sie?
Hei­ner Mül­ler: Wor­in be­steht denn die Macht ei­nes In­ten­dan­ten? Das ist doch eher eine Ohn­machts­si­tua­ti­on, weil plötz­lich ist man ver­ant­wort­lich für die letz­te Putz­frau, Gar­de­ro­bie­re und für je­den Be­sen, der im Thea­ter ver­wen­det wird. Das sind al­les Pos­ten, die zäh­len. Ich weiß nicht, was das mit Macht zu tun hat. Es ist eher eine Ein­bin­dung in Zwän­ge. Macht ist, jetzt, in die­ser Ge­sell­schaft, so­wie­so die zu­neh­men­de Ein­bin­dung in zu­neh­men­de Zwän­ge. Daß ich mich auf die­se Sa­che ein­ge­las­sen habe, hat na­tür­lich auch et­was mit den Ar­beits­mög­lich­kei­ten zu tun. Wo man selbst ver­ant­wort­lich ist, kann man viel­leicht Din­ge ma­chen, die wo­an­ders nicht mög­lich sind. Es geht also vor al­lem um die Ver­wirk­li­chung von Ideen und Träu­men. Ob das klappt, ist eine an­de­re Frage.

Noch­mal zu­rück nach Bay­reuth. Hät­ten Sie au­ßer „Tris­tan“ auch et­was an­de­res inszeniert?
Hei­ner Mül­ler: Ich glau­be nicht. Als Ba­ren­bo­im mich zu­erst frag­te, fand ich das oh­ne­hin ganz ab­surd. Da ich aber aber­glä­bisch bin und an Schick­sal oder was auch im­mer, aber nicht an Zu­fall glau­be, konn­te ich ei­gent­lich nur ja sa­gen. Spä­ter hat er mir er­zählt, daß er Ché­reau ge­fragt hät­te. Und der hat­te ihm ge­sagt, „Tris­tan“ kann man nicht in­sze­nie­ren, das ist ein Hör­spiel – was ich in­zwi­schen gut verstehe.

Ché­reau hat nicht „Tris­tan“, aber Hei­ner Mül­ler inszeniert.
Hei­ner Mül­ler: Ja, er hat „Quar­tett“ in Pa­ris in­sze­niert. „Quar­tett“ ist na­tür­lich, wenn man ein Hap­py­end vor­aus­setzt, eine Fort­set­zung von „Tris­tan“. Wenn die sich ge­kriegt hät­ten, wäre es zehn oder zwan­zig Jah­re spä­ter so zu­ge­gan­gen wie in „Quar­tett“. Ché­reau hat das, auch von sei­ner Be­set­zung her, so in­sze­niert – das fand ich sehr schön.

Wie sind Sie auf Yos­h­ji Ya­ma­mo­to gekommen?
Hei­ner Mül­ler: Ganz ein­fach. Ich hat­te ihn nur in dem Film von Wim Wen­ders ge­se­hen – und ich hat­te Angst vor kel­tisch-ger­ma­ni­schen Kos­tü­men. Das war ein Ver­such, je­man­den zu neh­men, wo die­se Ge­fahr nicht besteht.

Mit Erich Won­der ar­bei­ten Sie schon lan­ge zusammen.
Hei­ner Mül­ler: Was ich bei ihm toll fin­de, daß sei­ne Räu­me im­mer eine be­stimm­te Geo­me­trie er­zwin­gen. Es sind nie Räu­me, die ein­fach nur et­was ab­bil­den, sei­ne Räu­me sind –was ich ganz gern habe – ein Wi­der­stand. Thea­ter oder Oper fin­det im­mer statt zwi­schen den Ko­or­di­na­ten von Angst und Geo­me­trie. Geo­me­trie ist im­mer gut als Auf­fang­be­cken für die Angst – die Angst der Schau­spie­ler, die Angst der Sän­ger, auch die Angst der Regisseure.

Sie ha­ben schon Un­men­gen von In­ter­views ge­ge­ben. Gibt es eine Fra­ge, die Sie sich im­mer ge­wünscht ha­ben, die aber nie ge­stellt wurde?
Hei­ner Mül­ler: Hm. Ich er­in­ne­re mich an das ers­te In­ter­view über­haupt, das war 1958 vor der  Pre­mie­re von „Lohn­drü­cker“ im Ma­xim Gor­ki Thea­ter. Eine Dame vom „Spie­gel“ frag­te mich: „Was ma­chen Sie am liebs­ten?“ Und da hab ich die ge­ni­als­te Ant­wort ge­fun­den, zu der ich heu­te nicht mehr fä­hig wäre, näm­lich: „So sit­zen!“ Im Grund is­ses das. In Ruhe ge­las­sen wer­den. Wenn man erst­mal in den Kul­tur­be­trieb rein­ge­ra­ten ist, wird man im­mer un­fä­hi­ger, so eine ein­fa­che Fra­ge ein­fach zu be­ant­wor­ten. Man fängt ge­wal­tig an nach­zu­den­ken, an­statt ein­fach zu sa­gen, was im Mo­ment mit ei­nem los ist.

Man wird Sie nicht in Ruhe lassen!
Hei­ner Mül­ler: Nee. Aber ab Ok­to­ber gibt’s kei­ne In­ter­views mehr. Da ver­schwin­de ich, um ein Stück zu schreiben.

Erst­ver­öf­fent­li­chung in Gon­droms Fest­spiel­ma­ga­zin 1993