Sollte man nicht verpassen: Die Münchner „Freischütz“-Inszenierung von Dmitri Tcherniakov ist noch bis 15. März (17.59 Uhr) kostenlos auf Staatsoper.TV abrufbar.
Ja, auch ich kann Hotel- oder Firmen-Lobbys mit flexiblen Lamellenwänden in Holzoptik sowie in Hussen gehüllte Bistrotische als Einheitsbühnenbild langsam wirklich nicht mehr sehen. Ganz zu schweigen von Zigarre rauchenden und sonnenbrillten Bossen und Chormenschen in aktueller Business- oder Gala-Kleidung. Trotzdem ist Dmitri Tcherniakovs „Freischütz“-Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper, die im Bühnenbild des Regisseurs und den Kostümen von Elena Zaytseva am 13. Februar ihre Online-Premiere feierte, ein großer Wurf. Zumindest für mich.
Denn dieser Regisseur, der im Sommer mit dem „Fliegenden Holländer“ sein Bayreuth-Debüt geben wird, schafft etwas, was bei der Vergegenwärtigung von alten Opernstoffen nur selten so intensiv gelingt: Tcherniakov schaufelt in einem skeptischen, distanzierenden, ironisierenden und allzu bekannten, nämlich kompromisslos heutigen Setting aus der Tiefe der Figuren, aus der oft verborgenen Psyche der Protagonisten einen Kern frei, der auch uns Menschen des 21. Jahrhunderts direkt etwas an und unter die Haut gehen kann.
Dank einer präzisen, stets auch körperbewussten und psychologisch begründeten Personenregie, dank seiner bewundernswerten konzeptuellen Überzeugungskraft vermag er im Idealfall seine Sängerdarsteller so weit zu bringen, dass diese tatsächlich über das hinauszugehen vermögen, was sie selbst nicht in sich vermutet oder für möglich gehalten hätten. Dadurch entsteht an zentralen Stellen ein existenzieller Ernst, eine Wahrhaftigkeit, die eben nichts mehr mit Theater und schon gar nichts mehr mit Opernkonvention zu tun hat. Sondern unmittelbar wirkt. Unvergessen ist mir in dem Zusammenhang Tcherniakovs „Carmen“-Inszenierung 2017 in Aix-en-Provence, die ich zwar „nur“ bei der TV-Übertragung und noch mehrfach in späteren Streams erlebt habe, die aber dank der phänomenalen Leistungen der beiden Hauptprotagonisten eine geradezu bestürzende Intensität aund Authentizität ausstrahlte.
Dass diese Wirkung zwangsläufig nicht bei jeder Zuschauerin und jedem Zuschauer eintritt, geschweige denn willkommen ist, lässt sich zum einen auf die unterschiedlichen Erwartungen des Publikums an eine Repertoire-Oper und ihre Interpretation zurückführen, und zum anderen explizit auf die ebenso unterschiedlichen Frauen- und Männerbilder, die zumeist ziemlich fest in den Köpfen der Zuschauer stecken, so dass abweichende Muster teils auch unbewusst zurückgewiesen werden. Bei Tcherniakovs „Freischütz“-Inszenierung dürfte die Ablehnung unter männlichen Betrachtern eindeutig höher liegen als bei den weiblichen. Denn der Titelheld ist hier eben sichtlich kein Held und taugt deshalb nur bedingt zur Identifikation, die opernüblich zwar gerne den tragisch scheiternden Figuren gilt, aber nicht solchen, die man von vornherein als Schwächling einstuft.
Es geht also um Rollenbilder, natürlich auch um Klischees, die der Regisseur durchaus genüsslich auch in einigen Nebenfiguren ausbreitet. Worauf es ihm im „Freischütz“ ankommt, ist zum einen, dass das Übernatürliche, das Böse grundsätzlich in allen steckt und hervorbrechen kann. Zum anderen zeigt er gegensätzliche Modelle von Männlichkeit und Weiblichkeit in einem streng hierarchischen System, in dem Demütigungen an der Tagesordnung sind und Maskenpflicht nur für das Servicepersonal besteht. Max in seinem lindgrünen Cardigan ist ein klassischer Softie, ein eher verdruckster Untergebener, der zwar liebend gern die Tochter vom Chef heiraten, aber schon die eingeforderte erste Mutprobe nicht ausführen will. Kein Wunder: Er soll vom Hochhausfenster aus kein Wild, sondern – wie es ihm augentäuschend vorexerziert wird – einen Menschen erschießen, irgendeinen Passanten, wahllos, blindlings.
Max gerät schnell unter Druck, sein Gelächter, unter dem seine Angst erst recht erkennbar wird, sein einsamer und aggressiver Tanz um die Tische, seine ersten verzweifelten Tränen: All das ist nur der Beginn einer tragischen Entwicklung, die damit endet, dass er schießt und trifft. Maxens Kontrahent ist der aalglatte und knallharte Kriegsveteran Kaspar, der in der gespensterfreien, gleichwohl extrem gruseligen Wolfsschluchtszene nur sein dunkles Samiel-Alter Ego herauszulassen braucht. Durch Scheinerschießungen traumatisiert er Max so brutal, dass dieser sich ebenfalls nur in eine Bewusstseinsspaltung und letztlich in den Wahnsinn zu retten weiß.
Auch die weiblichen Hauptfiguren sind ein Gegensatzpaar. Agathe ist eine fast schon in sich ruhende und liebende junge Frau, die bewusst als künftigen Gatten das Gegenteil zu ihrem diktatorischen Vater und zu der ebenfalls dominanten lesbischen Freundin ausgesucht hat. Ännchen entspricht nicht der im Namen gegebenen Verkleinerungsform. Sie ist androgyn, spöttisch-taff und strahlt in ihrem perfekten hellblauen Complet genau jene Kälte aus, die es braucht, um zu verbergen, dass sie gerade verloren hat.
Das alles liest man ab aus kleinen und großen Gesten. Und ebenso aus den realen und inneren Dialogen, welchletztere der Regisseur teilweise über dem Geschehen gewissermaßen als hinzuerfundene Übertitel in unmissverständlichem Klartext ausbreitet. Natürlich steht das alles so nicht im Libretto, natürlich geht bei weitem nicht alles glatt auf in diesem radikalen Konzept, dessen überraschendes Ende sich vielleicht einfacher lesen lässt, wenn man die Produktion auf der Bühne des Nationaltheaters und in der Beleuchtung von Gleb Filshtin auch räumlich erlebt.
Und doch haben mich diese Figuren bei der Online-Premiere, allen voran Max und Kaspar, auf unerwartete Weise tief berührt – und das Nachdenken über sie hat noch lange nicht aufgehört. Wer missbraucht warum wen? Warum sollen Kraftmeierei und Gewalttätigkeit positive männliche Attribute sein, wenn sie nur in Sackgassen enden? Und sind es nicht überwiegend Frauen, die ihren Kindern derlei Rollenbilder beigebracht haben und immer noch beibringen? Und Männer, die das gut und richtig finden? Fragen über Fragen, die alle in einer romantischen Oper stecken können, wenn Dmitri Tcherniakov sich ihrer annimmt. Ich bin schon sehr gespannt auf seine „Holländer“-Interpretation. Schiffe und Spinnräder, mutmaße ich mal, werden wir nicht zu sehen bekommen. Oder doch?
Musikalisch ist der Münchner Jubiläums-„Freischütz“ – Carl Maria von Webers romantische Oper in drei Aufzügen wurde am 18. Juni 1821 in Berlin uraufgeführt – eine Wucht und darf deshalb auch jenen ans Herz gelegt werden, die mit Tcherniakovs Regietheater nichts anfangen können. Da sind zum einen die perfekt ausgewählten Solisten, die, sieht man ab von den gesprochenen Dialogen, die für eine internationale Besetzung natürlich eine Hürde sind, kaum Wünsche offen lassen.
Golda Schultz ist eine wunderbare Agathe, die mit ihrem subtil und sicher geführten Sopran dem Abend all den romantischen Flair und Glanz gibt, dem die Szene sich aus guten Gründen verweigert, während Anna Prohaska als Ännchen analog zur Regie eben nicht nur klingt wie die lebenslustige kleine Cousine. Sängerdarstellerisch Phänomenales leisten Kyle Ketelsen als Kaspar/Samiel und mehr noch Pavel Černoch als Max. Beide haben den Mut, so aus sich herauszugehen, dass es weh tut, beide haben das Können, das in vielen Facetten auch stimmlich umzusetzen. Eine bravouröse Leistung.
Auch die weiteren Solisten, der Chor und das Bayerische Staatsorchester unter dem sensibel und entschlossen unterschiedliche Klang-, Stimmen- und Instrumentenfarben herausarbeitenden Antonello Manacorda bieten eine musikalische Gesamtleistung, die mich lechzen lässt nach einer richtigen Aufführung im Nationaltheater mit Publikum. Alle, die für die Münchner Opernfestspiele und diesen „Freischütz“ in Premierenbesetzung Karten bekommen, sind schon jetzt zu beneiden.
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