Kein guter Tag für Beckmesser

Bei der Wie­der­auf­nah­me­pre­mie­re der „Meis­ter­sin­ger von Nürn­berg“ konn­te Jo­han­nes Mar­tin Kränz­le den Stadt­schrei­ber nur spie­len. Ba­ri­ton Bo Skov­hus über­nahm den Ge­sangs­part am Bühnenrand.

Jo­han­nes Mar­tin Kränz­le als Beck­mes­ser (lie­gend rechts), der im 2. Akt übel zu­ge­rich­tet wird. – Alle Sze­nen­fo­tos: En­ri­co Nawrath

Fest­spiel­all­tag in Bay­reuth? Von we­gen! Zwar stand am 26. Juli, dem Tag nach der Er­öff­nung, nur die Wie­der­auf­nah­me der „Meistersinger“-Inszenierung von Bar­rie Kos­ky aus dem Jahr 2017 auf dem Pro­gramm, aber von ei­nem rou­ti­nier­ten Ab­spu­len konn­te kei­ne Rede sein: So­wohl bei ei­nem Teil der Chor­sän­ger war – co­ro­nabe­dingt – stum­mes Syn­chron­s­in­gen an­ge­sagt als auch bei ei­nem krank­heits­be­dingt in­dis­po­nier­ten Hauptsolisten.

Die ers­te Fehl­stel­le of­fen­bar­te sich schon wäh­rend der Ou­ver­tü­re. Die Neu­fund­län­der Mar­ke und Mol­ly, die bis­her dem Ein­stieg ins in­sze­nier­te Dop­pel­spiel im Wahn­fried- und Ge­richts­saal (Büh­ne: Re­bec­ca Ringst) die be­son­de­re Wür­ze ga­ben, glänz­ten durch Ab­we­sen­heit. Gut mög­lich, dass ihr Auf­tritt, der in dem Ein­füh­rungs­text auf dem Vor­hang­schlei­er noch kon­kret an­ge­spro­chen wird, we­gen der Co­ro­na-Hy­gie­ne­maß­nah­men nicht stattfand.

Wie sich her­aus­stel­len soll­te, fiel zu­min­dest stimm­lich auch Jo­han­nes Mar­tin Kränz­le aus. Der ge­fei­er­te Beck­mes­ser-In­ter­pret, der in die­ser In­sze­nie­rung au­ßer­dem ein Al­ter Ego des jü­di­schen Di­ri­gen­ten Her­mann Levi ist und erst ko­mö­di­an­tisch, dann tief be­we­gend nicht nur Wag­ners schreck­li­chen An­ti­se­mi­tis­mus il­lus­triert, konn­te zwar mit der ihm ei­ge­nen dar­stel­le­ri­schen Di­stink­ti­on und Prä­zi­si­on auf­tre­ten, aber krank­heits­be­dingt die Par­tie nicht singen.

Eine thea­ter­üb­li­che An­sa­ge, wie sie frü­her stets Fest­spiel­lei­ter Wolf­gang Wag­ner selbst über­nom­men hat, auch wenn ihn bei­lei­be nicht mal alle deutsch­spra­chi­gen Be­su­cher ver­stan­den, fand nicht statt. Es gab auch kei­nen Aus­hang zur Um­be­set­zung. Ne­ben den Pres­se­ver­tre­tern er­fuhr über­haupt nur je­ner klei­ne Teil des Pu­bli­kums, der sich kurz vor Be­ginn der Vor­stel­lung zum Pro­gramm­heft den nach­ge­lie­fer­ten Be­set­zungs­zet­tel hol­te, dass Bo Skov­hus den Beck­mes­ser sin­gen würde.

Der wohl sehr kurz­fris­tig ein­ge­trof­fe­ne Ein­sprin­ger gab dem Mer­ker am Büh­nen­rand sei­ne Stim­me, mit Blick­kon­takt zum Di­ri­gen­ten pos­tiert, wäh­rend der auf der Büh­ne spie­len­de Kränz­le stumm und mög­lichst syn­chron so tat, als ob er sin­gen wür­de. Bei­de schlu­gen sich bra­vou­rös, schon für sich ge­nom­men war das eine Glanz­leis­tung an Kon­zen­tra­ti­on und Re­ak­ti­ons­schnel­lig­keit. Gleich­wohl fehl­te et­was, das der Er­satz­sän­ger nicht leis­ten konn­te: Kränz­les Beck­mes­ser hat spo­ra­disch auch sprach­lich ei­nen klei­nen jü­di­schen Ein­schlag. Und er hat den Mut, an ei­ner mar­kan­ten Stel­len haar­sträu­bend falsch zu singen.

Dass der Aus­fall ei­nes Haupt­so­lis­ten den di­rekt Be­trof­fe­nen Zu­sätz­li­ches ab­for­dert, liegt auf der Hand. Zu­min­dest im ers­ten Akt wirk­te sich die Um­be­set­zung auch bei meh­re­ren Kol­le­gen aus, die Ner­ven zeig­ten und nach den Meis­ter­re­geln glatt ver­sun­gen und ver­tan hät­ten. Da­nach aber wur­de die letz­te Wie­der­auf­nah­me-Pre­mie­re der der­zeit äl­tes­ten Fest­spiel­pro­duk­ti­on zu ei­nem gro­ßen Mu­sik­thea­ter­abend. Mit der ge­ge­be­nen Aus­nah­me wa­ren die Haupt­so­lis­ten hör­bar in bes­ter Ver­fas­sung. Mi­cha­el Vol­le, der Jahr­hun­dert-Sachs, wur­de vom Pu­bli­kum mit rhyth­mi­schem Klat­schen und ste­hen­den Ova­tio­nen ge­fei­ert. Er meis­ter­te sei­ne eben­falls als Dop­pel­fi­gur an­ge­leg­te Rol­le, als wäre Hans Sachs kei­ne Mons­ter­par­tie, die man sich klug ein­tei­len muss, und als wäre ein Kin­der­spiel, den cha­ris­ma­ti­schen Ego­ma­nen Ri­chard Wag­ner, der fast al­les und alle in sei­nen Bann zieht, so dar­zu­stel­len, dass sich das selbst auf den Ga­le­rie­plät­zen noch mitteilt.

Wag­ner, Wag­ner und noch­mal Wag­ner: Sze­ne aus dem 1. Akt mit So­lis­ten und Kinderstatisten

Auch Klaus Flo­ri­an Vogt, seit 2007 in Bay­reuth der Stolz­ing vom Dienst, hat die Co­ro­na-Zwangs­pau­se gut ge­tan. Sei­ne im­mer noch hell tim­brier­te, aber durch­schlags­kräf­ti­ge Te­nor­stim­me leuch­tet wie­der ohne Ab­nut­zungs­er­schei­nun­gen, sein sel­ten ge­for­der­tes ko­mö­di­an­ti­sches Ta­lent darf in die­ser In­sze­nie­rung end­lich mehr als auf­blit­zen. Ein Stolz­ing wie Vogt ist ein­fach ein Ge­nuss! Eine wei­te­re Lu­xus­be­set­zung ist Da­ni­el Beh­le als Da­vid. Ne­ben der Ein­sprin­ger­pro­ble­ma­tik bei in­ten­siv ge­führ­ten Prot­ago­nis­ten wird hier, bei die­ser Per­so­na­lie, am ehes­ten ver­ständ­lich, dass jede noch so ge­lun­ge­ne Fest­spiel­pro­duk­ti­on ein Ver­falls­da­tum hat. War­um? Weil die­ser Lehr­bub längst das Zeug zum Hel­den hat!

Mi­cha­el Vol­le als Sachs und Ca­mil­la Ny­lund als Eva im 2. Akt

Ein Lob­lied sei auch Ca­mil­la Ny­lund ge­sun­gen, die nach Anne Schwa­ne­wilms und Emi­ly Ma­gee den heik­len Spa­gat zwi­schen dem her­um­flir­ren­den Ev­chen und der soi­gnier­ten Co­si­ma am ehes­ten hin­be­kommt, auch wenn sie mehr an Wag­ners ers­te Frau Min­na er­in­nert. Gleich­wohl bleibt Eva sze­nisch ein Schwach­punkt der In­sze­nie­rung. Zu die­ser Frau­en­fi­gur ist Bar­rie Kos­ky au­ßer gän­gi­gen Kli­schees aus­nahms­wei­se nichts ein­ge­fal­len. Chris­ta May­er, die als Mag­da­le­ne auf Pre­mie­ren­be­set­zung Wieb­ke Lehm­kuhl folgt, blieb in die­ser klei­nen, aber heik­len Par­tie stimm­lich lei­der eine Enttäuschung.

Sou­ve­rän das Gros der wei­te­ren So­lis­ten. Ge­org Zep­pe­n­feld ist selbst­ver­ständ­lich auch als Po­gner eine Bank, un­ter den jetzt zu pau­schal quir­li­gen Meis­tern lässt Wer­ner Van Me­chelens Koth­ner auf­hor­chen. Dass Gün­ther Groiss­böck den Nacht­wäch­ter selbst im Schlaf sin­gen könn­te, war bei die­sem sei­nen ers­ten Auf­tritt nach sei­ner be­dau­er­li­chen Wo­tan-Ab­sa­ge so­wie­so klar. Und der Chor un­ter Eber­hard Fried­rich weiß trotz der we­gen Co­ro­na auf­er­leg­ten teil­wei­sen Über­tra­gung ge­schickt sei­ne Qua­li­tä­ten zu zei­gen. Ak­tu­ell nicht mög­lich ist der For­te-Raum­klang des kom­plet­ten Chors plus zu­sätz­li­chem Son­der­chor, der ei­nen sonst bei der „Wach-auf“-Nummer auf der Fest­wie­se fast vom Sitz zu he­ben vermag.

Ca­mil­la Ny­lund als Eva und Klaus Flo­ri­an Vogt als Stolz­ing im 3. Akt

Di­ri­gent Phil­ip­pe Jor­dan hat in sein vier­tes „Meistersinger“-Jahr nicht nur sei­ne kon­zer­tan­ten „Ring“-Erfahrungen aus Pa­ris ein­ge­bracht. Das Or­ches­ter mu­si­ziert jetzt als Gan­zes wie in den ein­zel­nen In­stru­men­ten­grup­pen noch ge­schmei­di­ger, an den pas­sen­den Stel­len klingt deut­lich so­gar Iro­nie an. Noch fas­zi­nie­ren­der ist, wie mo­dern sich bei ihm in Um­keh­rung von Sach­sens Flie­der­mo­no­log die vor 153 Jah­ren ur­auf­ge­führ­te Mu­sik an­hö­ren kann: „Es klang so alt, – und war doch so neu, – wie Vo­gel­sang im sü­ßen Mai!“

Für Jor­dan und vor al­lem Re­gis­seur Bar­rie Kos­ky gab es am Schluss et­li­che Buh­ru­fe. Da­bei ist die­se ge­nia­le Ver­qui­ckung der Hand­lung mit der Bio­gra­fie des Kom­po­nis­ten und der heik­len Re­zep­ti­ons­ge­schich­te des Werks un­ter der mu­si­ka­li­schen Lei­tung ei­nes dra­ma­tur­gisch mit­den­ken­den Di­ri­gen­ten ein Mei­len­stein in der Ge­schich­te Neu­bay­reuths. Die preis­ge­krön­te „Meistersinger“-Produktion ist am 24. Au­gust zum letz­ten Mal im Fest­spiel­haus zu erleben.

Lang­ver­si­on der Kri­tik, die zu­erst auf www​.fraen​ki​scher​tag​.de ver­öf­fent­licht wur­de und ge­druckt im Frän­ki­schen Tag vom 28. Juli 2021 er­schie­nen ist.

„Meistersinger“-Kritik der Pre­mie­re 2017
„Meistersinger“-Kritik der Wie­der­auf­nah­me 2018
„Meistersinger“-Kritik der Wie­der­auf­nah­me 2019

Mi­cha­el Vol­le, der Wagnersachs

Nach­trag: Bo Skov­hus singt und spielt den Beck­mes­ser auch in der Vor­stel­lung vom 1. Au­gust, wie die Fest­spie­le auf ih­rer Home­page mit­ge­teilt haben.