Senta rockt das Festspielhaus

As­mik Gri­go­ri­an, die neue Bay­reu­ther Sen­ta, ist ein Er­eig­nis, auch das De­büt von Oksa­na Ly­niv im Or­ches­ter­gra­ben ge­lingt. Die „Holländer“-Neuinszenierung Dmi­t­ri Tcher­nia­kovs hin­ge­gen ist eine Enttäuschung.

As­mik Gri­go­ri­an als Sen­ta singt ihre Bal­la­de – Alle Sze­nen­fo­tos: © En­ri­co Nawrath

Dass das Fest­spiel­pu­bli­kum vor Be­geis­te­rung tram­pelt, ist nicht un­ge­wöhn­lich. Dass es auf An­hieb fast ge­schlos­sen auf­steht, um eine So­lis­tin zu fei­ern, hin­ge­gen schon eher. Am Sonn­tag Abend schien es, als sei die enor­me En­er­gie, die die So­pra­nis­tin As­mik Gri­go­ri­an als Sen­ta im „Flie­gen­den Hol­län­der“ aus­ge­strahlt hat­te, aufs Pre­mie­ren­pu­bli­kum übergesprungen.

Die ste­hen­den Ova­tio­nen wa­ren na­tür­lich auch ein Aus­druck der Er­leich­te­rung und Freu­de: Nach der Co­ro­na-Zwangs­pau­se end­lich wie­der eine Wag­ner­oper im Bay­reu­ther Fest­spiel­haus er­le­ben zu dür­fen, hat si­cher eben­so zur Be­geis­te­rung bei­getra­gen wie die Tat­sa­che, dass man zu den rund 900 Kar­ten­be­sit­zern ge­hör­te, die zu­vor den zeit­auf­wän­di­gen Si­cher­heits­par­cours be­wäl­tigt hatten.

Es gab al­ler­dings nicht nur ei­tel Won­ne, das kun­di­ge Au­di­to­ri­um dif­fe­ren­zier­te deut­lich. Er­wart­bar muss­ten Dmi­t­ri Tcher­nia­kov und sein Team, die lei­der nur eine un­in­spi­rier­te Re­gie­thea­ter-Fließ­band­ar­beit ab­lie­fer­ten, die stärks­te Ab­leh­nung für sich ver­bu­chen, wäh­rend der Bei­fall für John Lund­gren in der Ti­tel­par­tie im Ver­gleich zum Sen­ta-Ju­bel bes­ten­falls höf­lich blieb.

Auch zum Chor ver­irr­ten sich ein paar Buh­ru­fe – un­be­rech­tigt, denn ge­ra­de des­sen Leis­tung war an­ge­sichts der ge­ge­be­nen Um­stän­de au­ßer­or­dent­lich. Der Klang des ge­teil­ten Chors – die eine Hälf­te singt im Chor­saal, die an­de­re bleibt zu­meist stumm, nur die Lip­pen be­we­gend, agie­rend auf der Büh­ne – wur­de gut wie­der­ge­ge­ben, wenn man be­denkt, dass selbst die bes­ten Über­tra­gungs­sys­te­me es nicht schaf­fen, die räum­li­che Wir­kung von Chor­ge­sang in al­len dy­na­mi­schen Stu­fen wiederzugeben.

Über­haupt klapp­te bis auf we­ni­ge Wack­ler schon bei der Pre­mie­re die we­gen der Co­ro­na-Maß­nah­men deut­lich er­schwer­te Ko­or­di­na­ti­on von So­lis­ten-, Chor- und Or­ches­ter­stim­men. Oksa­na Ly­niv, de­ren in­ter­na­tio­na­le Lauf­bahn mit ih­rem 3. Preis beim ers­ten Bam­ber­ger Mahler-Wett­be­werb 2004 be­gann und die als As­sis­ten­tin erst von Jo­na­than Nott, dann von Ky­rill Pe­tren­ko in die Kunst der Takt­stock­ma­gie ein­ge­führt wur­de, hat­te bei ih­rem Hü­gel-De­büt al­les fest im Griff.

Mit zü­gi­gen Tem­pi, ge­konnt flüs­si­gen Über­gän­gen und tän­ze­risch leich­ten Ein­spreng­seln sorg­te die Ma­es­tra im Fest­spiel­or­ches­ter für mu­si­ka­li­sche Hoch­span­nung, bei der nur ei­ni­ge Holz­blä­ser Ner­ven zeig­ten. Dem zu­sätz­li­chen Druck als ers­te Frau im Bay­reu­ther Or­ches­ter­gra­ben war Ly­niv eben­so ge­wach­sen wie den akus­ti­schen Be­son­der­hei­ten eben­dort. Man darf ge­spannt sein, wie sich ihr „Holländer“-Dirigat wei­ter­ent­wi­ckelt. Je­den­falls ge­lang ihr ein be­acht­li­ches De­büt, das auch ohne die vor­ab in den Me­di­en bis zum Ab­win­ken be­müh­te „Frau­en­power am Hü­gel“ glänzt.

Der wir­kungs­mäch­tigs­te, weil nicht nur hör­ba­re weib­li­che Auf­tritt im neu­en Bay­reu­ther „Hol­län­der“ bleibt je­doch der Sen­ta-Prot­ago­nis­tin vor­be­hal­ten. As­mik Gri­go­ri­an ist eine groß­ar­ti­ge Sän­ger­dar­stel­le­rin, die sich ihre Rol­len psy­chisch und phy­sisch so sehr ein­zu­ver­lei­ben weiß, dass sie in den Au­gen der Zu­schau­er stets au­then­tisch, di­rekt und glaub­haft an­kommt. Sie ist ein so cha­ris­ma­ti­sches Büh­nen­tier, dass ei­nem selbst Opern­ge­sang plötz­lich ganz nor­mal und kei­nes­falls künst­lich vor­kommt. Und zwar un­ab­hän­gig da­von, ob die In­sze­nie­rung plau­si­bel ist.

Dmi­t­ri Tcher­nia­kov ne­giert im ei­ge­nen Büh­nen­bild Schau­plät­ze und Hand­lung von Wag­ners ro­man­ti­scher Oper, de­ren See­fah­rer-Mi­lieu nur an­ge­deu­tet wird – in den was­ser­fest-ro­bus­ten Kos­tü­men Ele­na Zay­ts­evas, die mit ei­nem Schuss Re­tro­chic heu­tig sind, und in den nor­di­schen Klin­ker­häus­chen samt Kir­che, die trotz des war­men Lichts (Gleb Fils­ht­in­sky), das durch die merk­wür­dig blin­den Fens­ter dringt, zu kalt, ab­wei­send und wie ge­leckt wir­ken. Als wä­ren sie rie­sen­haf­tes Kin­der­spiel­zeug wer­den die Häu­ser wie von Geis­ter­hand hin- und her­ge­scho­ben und sind am Ende tat­säch­lich ge­spens­tisch, wenn sie von den Hol­län­der-Man­nen ab­ge­fa­ckelt werden.

Das Dorf­mi­lieu ist klein­bür­ger­lich und sicht­lich spie­ßig, was sich so­wohl in der na­tu­ra­lis­ti­schen Knei­pe spie­gelt (de­ren aus­ge­fah­re­ne Mar­ki­se al­ler­dings schon in den hin­ters­ten Par­kett­rei­hen die Sicht aufs Ge­sche­hen am Tre­sen ver­sperrt) und erst recht im Win­ter­gar­ten-Ess­zim­mer bei Dalands.

Der Plu­ral ist hier an­ge­mes­sen, denn zu Da­land ge­hört nicht nur Toch­ter Sen­ta. Der Re­gis­seur in­ter­es­siert sich näm­lich in ers­ter Li­nie für das Be­zie­hungs­ge­flecht der ge­ge­be­nen be­zie­hungs­wei­se hin­zu­er­fun­de­nen Fi­gu­ren. Er in­sze­niert eine Fa­mi­li­en­auf­stel­lung, die sich vom par­odis­ti­schen An­satz der ge­ra­de ur­auf­ge­führ­ten „Holländer“-Adaption der Stu­dio­büh­ne Bay­reuth kaum unterscheidet.

Schon die Ou­ver­tü­re wird mit ei­ner Be­haup­tung be­bil­dert, die zu kei­ner neu­en Er­kennt­nis führt. Dass der als Kind trau­ma­ti­sier­te Hol­län­der in sein Dorf zu­rück­kehrt, um sich für den Selbst­mord sei­ner Mut­ter zu rä­chen, die mit Da­land ein Ver­hält­nis hat und aus der Ge­mein­schaft aus­ge­sto­ßen wird, sorgt zwar am Schluss für ein­drucks­vol­le Sze­nen, geht aber am Stück und den ihm in­ne­woh­nen­den tie­fe­ren Schich­ten vor­bei, die mit Psy­cho­lo­gie al­lein nicht zu fas­sen sind.

Das ist scha­de, denn hand­werk­lich, in der Per­so­nen­füh­rung, in der Cho­reo­gra­phie der Auf­trit­te und Ab­gän­ge, ist Tcher­nia­kov zwei­fel­los ein Kön­ner (des­sen „Carmen“-Inszenierung in mei­ner Bes­ten­lis­te un­ter den ers­ten Zehn ran­giert). Viel­leicht ver­hält es sich mit Re­gis­seu­ren, die an der Spit­ze an­ge­kom­men sind, fast ge­nau­so wie mit Sän­gern. Wenn sie zu viel ma­chen, kann es schnell und gründ­lich schief gehen.

Ob das trotz Co­ro­na-Zwangs­pau­se auch bei John Lund­gren der Fall ist? Zu­min­dest bei der Pre­mie­re war der schwe­di­sche Ba­ri­ton stimm­lich nicht gut dis­po­niert, was umso mehr auf­fiel, als er dar­stel­le­risch über­wie­gend de­zent, ja ge­ra­de­zu blass blei­ben muss­te, was bei ei­nem Manns­bild wie Lund­gren gar nicht so ein­fach ist.

Der Hol­län­der ist hier fast schon eine Ne­ben­fi­gur – und das ist für den Ti­tel­hel­den denn doch ein biss­chen we­nig. Zum Platz­hir­schen auf­ge­wer­tet hat Tcher­nia­kov viel­mehr Da­land, der of­fen­bar der ein­zi­ge Un­to­te zu sein scheint: Al­ters­mä­ßig war zwi­schen sei­nen Auf­trit­ten in der Ou­ver­tü­re und am Schluss kein Al­ters­un­ter­schied zu er­ken­nen, wäh­rend der Hol­län­der erst als Sta­tis­ten­kind prä­sent ist und dann durch den Sän­ger ver­kör­pert wird, wo­bei be­stimmt nicht nur sie­ben Jah­re ver­gan­gen sind.

Für Ge­org Zep­pe­n­feld ist das na­tür­lich ein ge­fun­den­des Fres­sen, mal kei­ne lang­wei­li­ge Gut­men­schen­rol­le ver­kör­pern zu müs­sen. Er hat sicht­lich Spaß an die­ser In­ter­pre­ta­ti­on und ist sän­ge­risch ein­mal mehr die si­chers­te Wag­ner-Bas­sis­ten-Bank der Welt. Sei­ne Wort­ver­ständ­lich­keit ist zum Hin­knien, sei­ne Stimm­far­ben und -nu­an­cen wei­sen ihn als wis­sen­den Sän­ger aus, der nicht nur brav sei­ne No­ten singt, son­dern dem Aus­druck ver­leiht, was der In­halt ist, was hin­ter den Wor­ten steht.

An sän­ger­dar­stel­le­ri­scher Klas­se ihm durch­aus eben­bür­tig ist Ma­ri­na Pru­den­ska­ya als Mary, die vie­le hie­si­ge Opern­freun­de noch aus ih­rer Zeit am Opern­haus Nürn­berg in bes­ten Er­in­ne­rung ha­ben. Dass aus Sen­tas Amme hier eine Stief­mut­ter wird, die erst mit Aplomb den Chor der Frau­en di­ri­giert und spä­ter zur Be­wah­rung des zwei­fel­haf­ten Fa­mi­li­en­glücks zum Ge­wehr greift und den Hol­län­der er­schießt, ist eine Re­gie­thea­ter­vol­te, die man nur mit viel gu­tem Wil­len auch als eine Er­lö­sungs­tat an­se­hen kann.

Eric Cut­ler als Erik lässt er­freu­li­cher­wei­se al­les Wei­ner­li­che sein, singt sich da­mit zwar nicht in Sen­tas Herz, aber in das vie­ler Zu­hö­rer, auch das Bay­reuth-De­büt von At­ti­lio Gla­ser ge­lingt. Bleibt noch­mals As­mik Gri­go­ri­an zu be­ju­beln, die hier mit Ver­ve eine trot­zi­ge, pun­ki­ge Göre mimt als stün­de, stampf­te und rock­te Pat­ti Smith leib­haf­tig auf der Büh­ne des Fest­spiel­hau­ses. Ihre Sen­ta ist, trotz ih­rer stimm­li­chen Gren­zen, ein­fach ein Mu­sik­thea­ter-Er­eig­nis, das man sich nicht ent­ge­hen las­sen soll­te. Im On­line-So­fort­kauf gibt es im­mer noch und/​oder im­mer wie­der Kar­ten. Hof­fent­lich bleibt die welt­weit ge­frag­te Gri­go­ri­an der Pro­duk­ti­on auch in den Fol­ge­jah­ren erhalten!

Lang­ver­si­on der Kri­tik, die zu­erst auf www​.fraen​ki​scher​tag​.de ver­öf­fent­licht wur­de und ge­druckt im Frän­ki­schen Tag vom 27. Juli 2021 er­schie­nen ist.