Regisseur Jakob Peters-Messer hat uns folgenden Text überlassen, den er für das Programmheft der Coburger »Parsifal«-Neuinszenierung verfasst hat. Die Pressefotos stammen von Andrea Kremper.
Wer ist Parsifal? Wer ist es, der den kranken Amfortas heilt? Wagner beschreibt ihn in der Prophezeiung, die Amfortas zukommt: »Durch Mitleid wissend, der reine Tor.« Der utopische Mensch der Zukunft, der durch Mitleid, durch Empathie, durch Zuwendung zum Gegenüber, zur Natur, zur Schöpfung wissend wird. Die Entwicklung Parsifals innerhalb der drei Akte der Oper beschreibt fast ein Menschenleben, von unbedarfter Jugend bis zu geläuterter, aber auch ermüdeter, schwer erkämpfter Reife. Der Weg eines Heiligen. Der Weg Buddhas. »Wer ist der Gral?«, fragt Parsifal im 1. Akt. »Das sagt sich nicht« antwortet Gurnemanz. Ja, denn der Gral ist nicht nur ein Gegenstand, sondern auch eine Idee, das, was wir in ihm sehen, in ihm suchen. Und der Weg dahin ist ein Weg der Erkenntnis, ein spiritueller Weg. »Kein Weg führt zu ihm durch das Land, und niemand könnte ihn beschreiten, den er nicht selber möcht geleiten.« Ein Weg auch der Heilung. Heilung von Verletzungen. Heilung von persönlichen und ideologischen Zwängen. Diese innere Verwandlung, die Wagners letztes Werk in uns anstoßen will, ist faszinierend. Gleichwohl sollten wir uns davon nicht esoterisch vernebeln lassen.
Selig im Glauben
Am Ende des 1. Akts zeigt Richard Wagner so etwas wie eine Messe, die das Publikum lange dazu veranlasste, am Ende der Musik andächtig schweigend zu verharren, anstatt in Applaus auszubrechen. Was für ein Missverständnis. Denn es ist ein kranker Ritus, ein sinnentleerter Ritus, der uns hier vorgeführt wird. Eine Gemeinschaft von Männern – denn Frauen bleiben ausgeschlossen – hat zunächst hohe Ziele. Sie will das Gute in die Welt bringen, Bedrängten helfen. Aber können wir das Gute in die Welt bringen, wenn wir es mit Waffen tun? Denn es sind ja Glaubens-Kämpfer, es sind ja Ritter. Und das entspricht nicht dem, was Jesus von Nazareth ihnen vorlebt, ihnen vorgibt: Liebe deinen Feind mehr als dich selbst. Halte auch die andere Wange hin. Da ist gleich am Anfang ein Defizit. Sie kämpfen mit Waffen und sie schließen Frauen aus, müssen enthaltsam sein. Und zwar nicht aus freiem Willen, sondern weil es ein Gebot ist. Und natürlich: Wenn man die Sexualität ausschließt, dann entstehen Probleme. Amfortas wird bei dem sexuellen Abenteuer, bei dem er den Speer verliert, unheilbar verwundet. Diese Wunde ist das Symbol für Siechtum, für die Krankheit dieser Rittergemeinschaft, die in einem religiösen Rausch – das zeigt uns Wagner hier am Ende des 1. Akts – wie aus einer Droge Kraft saugt, um sich wieder zu einer Gottesarmee, zu Gotteskämpfern zu formieren. Man könnte sogar sagen, dass Wagner in der Enthüllung und im Aufglühen des Gral einen Akt der Ersatzsexualität zwanghaft keuscher Männer inszeniert. Nur hat der alte Zauberer alle Mittel aufgewandt, um diesen Vorgang sakral zu überhöhen. Also Vorsicht vor den falschen Fährten, auf die Wagner lockt. Es ist eine kranke Welt, die er hier zeigt, eine Welt, die erlöst, die geheilt werden muss.
Nein, nicht die Wunde – das Sehnen ist’s
Klingsor und Amfortas: Beide leiden an einer Wunde, an einer Verletzung, die mit Sexualität zu tun hat. Ursprünglich ist auch die Wunde, die Klingsor Amfortas mit dem entwendeten Speer zufügt, die gleiche Kastrationswunde wie die, die Klingsor sich selbst zugefügt hat, um »die böse Lust« in sich zu töten. Wagner spricht in einem frühen Entwurf zu »Parsifal« von Amfortas’ Wunde »am Schenkel«, was mehr als deutlich macht, dass es sich um eine ähnliche Wunde handelt. Erst später im Entstehungsprozess der Oper ist sie dann zur Wunde an der Seite und zur christusgleichen Wunde geworden. Wie dem auch sei: es bleibt die Tatsache, dass die Verletzungen der beiden Männer ihren Grund in der zwanghaften Verweigerung von Sexualität haben. Klingsor und Amfortas gehen also eine eigenartige Symbiose ein, die im 2. Akt zu einer Verdichtung führen kann. Klingsor zwingt Kundry Parsifal zu verführen, so wie sie bereits vorher Amfortas verführt hat. In dem Moment des Kusses, der eigentlich Kundrys Sieg über Parsifal sein soll, erscheint Klingsor im Hintergrund, um Parsifal mit dem Speer zu treffen, genauso wie alle anderen Ritter und auch Amfortas vorher. Parsifal aber lässt sich nicht verführen. Im Gegenteil: Der Kuss wird zum Erweckungsmoment, der Parsifal zu einem anderen werden lässt. Er sieht den leidenden Amfortas vor sich. Und zwar ganz real: Denn Klingsor wird zu Amfortas. In der Stimme Kundrys hört er die Stimme der Verführung, wie sie auch Amfortas vernommen haben mag. Und nun blendet die Szene über in die Geschichte der Kundry, die sich plötzlich ihrer eigenen Existenz klar wird. Ihr Fluch ist, dass sie Jesus am Kreuz verlachte, den liebenden Blick des Erlösers nicht erwidern konnte. So will Wagner ihre Existenz begründet sehen. Deshalb ist sie dazu verdammt, in ewigen Kreisläufen immer wieder neu die Männer zu verführen, immer wieder Sex zu haben ohne Liebe. Parsifal sieht also die Verführung des Amfortas. Und für Kundry wird Amfortas Jesus. Den Gekreuzigten will sie liebkosen. Der Gekreuzigte verwandelt sich zurück in Amfortas, der – »ein Sünder sinkt mir in die Arme« – schwach wird, vernichtet ist und am Boden liegen bleibt. Und sie, auf der Suche nach dem nächsten Opfer, nach dem nächsten Erlöser, sieht einen neuen Jesus vor sich. Es kommt zur Szene der Kundry als Maria Magdalena am Fuß des Kreuzes. Und nun wacht Parsifal wie aus einer Trance auf, spricht zu ihr und es beginnt eine ziemlich konkrete Szene, in der sie seine Zuwendung als erotisches Angebot missversteht. Hier kann es noch zu keiner Lösung kommen. Kundry ruft um Hilfe. Amfortas verwandelt sich zurück in Klingsor und bedroht Parsifal mit dem Speer, der nun aber keine Gewalt mehr ausübt. Parsifal ergreift den Speer. Klingsor sinkt wie tot zu Boden. An ihm wirkt Parsifal seine erste Heilung. So wie später bei Amfortas.
Wie anders schreitet sie als sonst
Nach diesem psychedelischen Wahn gelangen wir benommen, erschöpft, aber auch geläutert in den 3. Akt. Wie Kundry. Eine Provokation Wagners liegt darin, dass sie zum Schweigen verdammt ist und nur zwei Worte herausbringt: »Dienen – dienen«. Das erscheint heute schwer erträglich. Es stellt sich dann aber heraus, dass sie eine vollkommen gleichberechtigte Partnerin in der Szene mit Parsifal und Gurnemanz ist. Wie eigenartig: Gurnemanz redet unablässig. Parsifal spricht wenig und ist mit sich selbst beschäftigt. Und Kundry spricht gar nicht. Wie gelingt es Wagner nun, dass wir uns dennoch irgendwann gar nicht mehr fragen, warum sie nicht spricht? Vielleicht, weil sie schon eine andere Bewusstseinsebene erreicht hat und einen Schritt weiter ist als alle anderen, weiter auch als Parsifal oder gar Gurnemanz. Der bemerkt gleich am Anfang »Wie anders schreitet sie als sonst«. Auch ist sie es, die Parsifal zuerst bemerkt, bevor Gurnemanz ihn sieht. Damit ist schon in Wagners Regieanweisung ein Hinweis darauf gegeben, dass sie in ihrem Denken, in ihrem Handeln einen Schritt voraus ist. Auf mystische Weise scheint sie mit der Zukunft schon eins zu sein und initiiert in gewisser Weise das, was im 3. Akt geschieht. Als bewusste und selbstbewusste Entscheidung verlieren dann auch Kundrys Worte »Dienen – dienen« alles Unterwürfige, obwohl sie vielleicht in dem Moment am Boden Laub zusammenrafft oder das Bett des Gurnemanz macht. Die Kunst des Loslassen-Könnens. Vielleicht muss es auch irgendwann einmal sein, dass man nichts mehr sagt. Der seine Umwelt mit unablässigen Monologen nervende Richard Wagner wird selbst am besten gewusst haben, was er da schreibt.
Ich sah sie welken, die einst mir lachten
Der Karfreitagszauber ist für Parsifal der Moment, in dem nun endlich der Staub und damit die ganze Last seines Weges von ihm abfällt. Und gerade hier erinnert er sich an die Blumenmädchen: »Ob sie wohl auch nach Erlösung schmachten?« Wir hatten diese Blumenmädchen im 2. Akt als kindliche Verführerinnen, als kleine Lolitas mit rosa Kuschelhasen gesehen, wie sie »im kindlichen Spiele«, aber auch ein bisschen krank – es sind ja Zauberfiguren, Geschöpfe des Klingsor – versuchten, Parsifal zu verführen. Wagner hat hier sicher auch eigene Obsessionen ins Bild gebracht. Um sich dann davon zu reinigen. Im 3. Akt findet Parsifal in den herumliegenden Mülltüten einen verrotteten Hasen, wie eine Erinnerung an eine ferne Vergangenheit, an ein möglicherweise anderes Leben, in dem diese Kindfrauen ihn bedrängten. Und nun erscheinen im Karfreitagszauber, in der Verwandlung, im Aufleben der Natur, diese Frauen, genau wie Kundry völlig verändert. Sie heben das tote Laub auf, die Reste der abgestorbenen Natur und tragen sie wie etwas Wertvolles, wie Reliquien in einem mystischen Zug nach hinten von der Bühne. Auch sie sind – befreit von sexistischen Klischees – schon einen Schritt weiter als die Männer, die noch der Heilung bedürfen.
Erlösung dem Erlöser
Die ganz heruntergekommenen Gralsritter schleppen sich mit dem Sarg Titurels auf die Bühne. Amfortas taumelt hinter ihnen her mit dem Gral. Ein Gang nach Golgatha. Aber Parsifal schließt die Wunde des Amfortas und erlöst damit symbolisch den Erlöser. »Erlösung dem Erlöser«. Jesus muss nicht mehr am Kreuz für uns bluten. Es muss keinen Erlöser, keinen Heiland mehr geben, der unsere Schuld trägt, der für uns stirbt und das Leid der Welt auf sich nimmt. Weil wir alle Jesus oder ein Teil von Jesus werden? Die letzte Aktion, die in der realen Handlung der Oper stattfindet, ist die Heilung des Amfortas durch Parsifal mit dem Speer. Dann setzt auch die Heilung der Ritter ein, die sich langsam zurückziehen. Die Bühne leert sich immer mehr. Gral und Speer, die Symbole des Weiblichen und des Männlichen, werden zusammengeführt, die Gegensätze vereint. Damit ist der Heilungsprozess dieser »Parsifal«-Welt, in der wir uns die ganze Zeit befanden, abgeschlossen. Die Musik schwingt sich ein in zielloser Harmonie, die endlos so weiterklingen könnte. Die Lanze kann Kundry ablegen. Parsifal folgt mit dem Gral. Alles wird am Sarg des Titurel niedergelegt. Und Kundry geht vor, gefolgt von Parsifal. Beide verlassen den Raum, in dem die Reste, die Reliquien dieser »Parsifal«-Welt übrig bleiben. Sie gehen weiter auf einem Weg, der vielleicht nie zu einem endgültigen Ziel führen kann. Und während sie die Bühne verlassen, erklingt von fern »Erlösung dem Erlöser«. Sopran, Alt, Tenor, Bass: Zum ersten Mal überhaupt in der Oper singen alle weiblichen und männlichen Stimmen ineinander verschlungen zusammen. So heilt Wagner die Welt. Und ein wenig auch sich selbst. In der Überwindung von Zwang und Trennung öffnen sich Wege zu (Er)Lösung und Befreiung.
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