Frank Castorf hat im Münchner Nationaltheater die dreiaktige Oper „Aus einem Totenhaus“ von Leoš Janáček inszeniert. Das Premierenpublikum feierte die Mitwirkenden und reagierte gespalten auf das Regieteam.
Frank Castorf, dessen abgespielter Bayreuther „Ring“ von 2013 heuer durch drei „Walküre“-Vorstellungen noch eine merkwürdige Resteverwertung erfahren wird, hat wieder zugeschlagen. Diesmal an der Bayerischen Staatsoper, mit der 1930 posthum uraufgeführten dreiaktigen Oper „Aus einem Totenhaus“ von Leoš Janáček – ein Werk, von dem man annehmen konnte, dass Castorf, der Dostojewski-Spezialist, Funken schlagen würde. Es sind aber leider nur ein paar Fünkchen geworden. Oder anders gesagt: Bloß weil einer sein Ding macht, ist es noch lange nicht Kunst.
Warum sich an diesem Regisseur die Geister scheiden, liegt auf der Hand. Seine Inszenierungen sind erstens nicht nur optisch so überfrachtet, dass der Zuschauer per se überfordert ist – wogegen vom Ansatz her nichts zu sagen wäre, wenn nicht gleichzeitig so viel nur Beliebiges und Oberflächliches geboten würde: ein hektischer Leerlauf und Wirrwarr, der das nichtssagende bloße Rampentheater kaum kaschiert. Zudem verweigert Castorf das, was er eigentlich leisten müsste. Er erzählt nicht die Handlung, sondern benutzt das Werk, um eine Flut an Assoziationen auf die Bühne zu kippen.
Unübersehbar sind es nicht nur seine eigenen Einfälle, sondern auch die seiner Ausstatter. Drehbühnenweltmeister Aleksandar Denic hat unter großem Materialeinsatz ein verschachteltes Gefangenenlager mit all den Ingredienzen gebaut, wie sie ähnlich auch in der Bayreuther „Walküre“ zu finden sind. Darin lassen sich zwar prima Videos (Andreas Deinert, Jens Krull) drehen und zeigen, aber die akustischen und räumlichen Defizite sind, vor allem was den Chor betrifft, nicht von Pappe. Adriana Braga Peretzki hat wieder einen Paradiesvogel ausstaffiert, steckt ansonsten viele Männer in Unterhosen und kostümiert Statisten für einen mexikanischen Totentanz, wofür es dramaturgische Volten im Programmheft braucht, damit es in ein russisches Straflager passt.
Dass die meisten Lagerinsassen nicht nur tätowiert sind, sondern Narben und Verletzungen haben, unterstreicht zwar die Leistungsfähigkeit der Maskenbildnerei der Bayerischen Staatsoper, ist aber in den Großaufnahmen der Live-Kamera kontraproduktiv, weil es zu sehr „gemacht“ wirkt. Man kommt sich vor wie auf einem Jahrmarkt anno da zumal, wo es im Monstrositätenkabinett die vom Blitz erschlagene Jungfrau, den vom Galgen abgehängten Mörder und missgebildete Kinder zu schauen gab – und jeder wusste, dass das nur Wachsfiguren waren.
Menageriedirektor Castorf gibt dem Affen Zucker, indem er erneut auf die Tierwelt setzt: Im Stall mümmeln müde drei Hasen, mal wird ein großer Schwertfisch vorbeigetragen, mal sieht man einen getöteten Leoparden hängen. Immerhin – das ist ein Fünkchen! – ist der Adler als Freiheitssymbol nicht nur in zaristischem Gold vorhanden, sondern wird unter anderem sehr vital gleichgesetzt mit dem jungen Tataren Aljeja (Evgeniya Sotnikova), der hier eine verführerisch singende, gefiederte Frau ist.
Mit ihren Episoden sind die zumeist verbrecherischen Lagerinsassen regielich ziemlich allein gelassen, und die Chöre, die Sören Eckhoff zum Teil direkt auf der Bühne leitet, degradiert der Regisseur von vornherein zu Randfiguren. Er ignoriert, dass es in dieser Oper um den Alltag und die Seelenzustände in einem Männer-Kollektiv geht. Wenn nach nicht mal hundert Minuten Spieldauer das Alter Ego Dostojewskis, von dem die literarische Vorlage der Oper stammt, das Lager wieder verlassen darf, bekommt er demonstrativ eine Adidas-Jacke mit auf den Weg. Kapitalismus-Kritik à la Castorf.
Die zwanzig Solisten – allen voran Bo Skovhus, Peter Rose, Charles Workman und Ales Briscein – gaben bei der Premiere am Pfingstmontag ihr Bestes, wurden auch zu Recht gefeiert, aber es fehlte ihnen genau das, wofür das Publikum eigentlich in die Oper geht: Frank Castorfs Theaterwelt ist so angelegt, dass möglichst keine Rührung entstehen kann. So bleibt einem nur das Tröstliche der Musik, das auch in dem zuweilen martialisch klingenden Werk zart aufschimmert: Das Orchester unter der kompetenten Simone Young überzeugt mit der neuen kritischen Ausgabe von John Tyrell. Großer Jubel für die Dirigentin und die Solisten, Buh- und Bravorufe für das Regieteam.
Besuchte Premiere am 21. Mai 2018, Erstveröffentlichung im Feuilleton des Fränkischen Tags vom 25. Mai 2018. Weitere Vorstellungen am 26. und 30. Mai, bis Saisonende und im Oktober, kostenloser Livestream am 26. Mai um 19 Uhr auf der Homepage der Staatsoper
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