Mit Kanonendonner in die neue Ära

Jens Da­ni­el Her­zog und Jo­a­na Mall­witz ge­lingt als neu­em Lei­tungs­team des Staats­thea­ters Nürn­berg mit der Pro­kof­jew-Oper „Krieg und Frie­den“ ein ful­mi­nan­ter Auftakt.

Eleo­no­re Mar­guer­re als Na­ta­scha in der gro­ßen Ball­sze­ne von „Krieg und Frie­den“ in Nürn­berg Foto: Lud­wig Olah

Wenn ein in­sze­nie­ren­der In­ten­dant sei­ne An­tritts­auf­füh­rung plant, hat er im Prin­zip zwei Mög­lich­kei­ten: Ent­we­der nimmt er sich ein be­kann­tes Werk vor, um zu zei­gen, dass und wie er es  an­ders kann. Oder er wählt eine Oper, die das Pu­bli­kum noch nicht kennt und dar­über hin­aus Au­ßer­ge­wöhn­li­ches bie­tet. Jens Da­ni­el Her­zog hat sich für das Fas­zi­no­sum des Neu­en und durch­aus auch sper­rig Un­be­kann­ten ent­schie­den. Mit gro­ßem Erfolg.

Nach dem Mot­to „Nicht kle­ckern, son­dern klot­zen“ wähl­te der neue Ge­ne­ral­inten­dant des Staats­thea­ters Nürn­berg ein dort noch nie ge­spiel­tes, schon in sei­nen blo­ßen Aus­ma­ßen un­kon­ven­tio­nel­les Mu­sik­thea­ter­stück. Ser­gej Pro­kof­jews 1944 ur­auf­ge­führ­te und spä­ter mehr­fach über­ar­bei­te­te Oper „Krieg und Frie­den“ nach dem gleich­na­mi­gen Ro­man von Leo Tol­s­toj ist un­ge­kürzt fast so lang wie Ri­chard Wag­ners „Meis­ter­sin­ger“, über­trifft letz­te­re aber in ei­nem Punkt  bei wei­tem: 72 Per­so­nen zählt die Fas­sung von letz­ter Hand aus dem Jahr 1959.

Na­tür­lich ha­ben Her­zog, sei­ne Dra­ma­tur­gen und Jo­a­na Mall­witz, die neue Ge­ne­ral­mu­sik­di­rek­to­rin, ge­kürzt, vor al­lem im zwei­ten kriegs­las­ti­gen Teil. Her­aus­ge­kom­men ist da­bei ein gro­ßes his­to­ri­sches Sta­tio­nen­dra­ma, des­sen Hand­lung in meh­re­ren Zeit­ebe­nen spielt: In ei­ner zeit­los wir­ken­den Ge­gen­wart wer­den nicht nur die Jah­re vor und bei Na­po­le­ons Russ­land­feld­zug von 1812 ge­spie­gelt, son­dern auch die Ent­ste­hungs­zeit so­wohl des Ro­mans (mit den 60er-Jah­ren des 19. Jahr­hun­derts) als auch der po­li­tisch durch­aus heik­len Oper (mit den 40er-Jah­ren des 20. Jahrhunderts).

Text­ein­blen­dun­gen zu Be­ginn der drei­zehn Bil­der ge­ben Ori­en­tie­rung, die seit­li­chen Über­ti­tel sind im rus­sisch ge­sun­ge­nen Ori­gi­nal eine zu­sätz­li­che Ver­ständ­nis­hil­fe an die­sem auch fürs Pu­bli­kum an­stren­gen­den Abend. Schon al­lein die Leis­tung der Aus­stat­ter und der da­hin­ter ste­hen­den Werk­stät­ten ist gran­di­os. Si­byl­le Gä­de­ke lässt in ih­ren meh­re­ren hun­dert zeit­ge­nös­si­schen Kos­tü­men ge­konnt his­to­ri­sche Be­zü­ge auf­schei­nen, und wie Ma­this Neid­hardt auf sei­ner schwar­zen Bret­ter­klapp­büh­ne im vir­tuo­sen Licht von Kai Luc­zak in Null­kom­ma­nichts mit we­ni­gen Tei­len die tolls­ten Ver­wand­lun­gen zau­bert, ist sehenswert.

In die­sen schein­bar ein­fa­chen und doch aus­drucks­star­ken Ta­bleaux führt Jens Da­ni­el Her­zog ein Heer an So­lis­ten, Cho­ris­ten und Sta­tis­ten ab­wechs­lungs­reich, gut kon­tu­riert, be­we­gend und mit viel Be­we­gung. Die in­ner­halb von rund drei Jah­ren spie­len­de Hand­lung kreist im Kern um drei Fi­gu­ren: Na­ta­scha, An­drej und Pierre su­chen sich selbst, ihr Glück und ih­ren Platz in ei­ner Ge­sell­schaft, die ge­spal­ten und in Auf­lö­sung be­grif­fen ist.

Hans Kit­tel­mann als Herr de Be­aus­set, Chef der Pa­ri­ser Hof­hal­tung Na­po­le­ons, und Iri­na Mats­eva als Hé­lè­ne Be­such­o­wa Foto: Lud­wig Olah

Die­ses Pan­ora­ma zwi­schen Ball­saal, Bor­dell und Bo­tox­sprit­zen, Schlacht­en­don­ner, Ster­be­bett und rus­si­scher See­le ist vor al­lem des­halb so ein­drück­lich, weil die in­di­vi­du­el­len Schick­sals­schlä­ge zu­neh­mend und be­klem­mend auf­ge­hen in gro­ßen Mas­sen­sze­nen (Chö­re: Tar­mo Vaask) und im Kriegs­ge­sche­hen. Das Eine be­dingt das an­de­re, kei­ner kann sich dem Sog ent­zie­hen – schon gar nicht, wenn Mos­kau auch ohne Feu­er auf der Büh­ne so über­wäl­ti­gend brennt wie hier.

Über­dies ist „Krieg und Frie­den“ von den So­lis­ten her ein Coup. Die für Nürn­berg neu­en Sän­ge­rin­nen und Sän­ger über­zeu­gen durch die Bank und we­cken Vor­freu­de auf die noch kom­men­den Pro­duk­tio­nen, al­len vor­an der aus­drucks- und kon­di­ti­ons­star­ke Te­nor Zu­rab Zu­ra­bish­vi­li als Pierre Be­such­ow und die wun­der­ba­re So­pra­nis­tin Eleo­no­re Mar­guer­re als Na­ta­scha Ros­to­wa, bei der man den kost­ba­ren und sel­te­nen Ein­druck hat, dass es ein­fach aus ihr singt.

Zu­rab Zu­ra­bish­vi­li als grü­beln­der Pierre Be­such­ow, wei­te­re So­lis­ten und der Chor ge­gen Ende des drei­zehn­tei­li­gen Bil­der­rei­gens in  Pro­kof­jews „Krieg und Frie­den“ Foto: Lud­wig Olah

Stell­ver­tre­tend für die am Opern­haus ver­blie­be­nen En­sem­ble­mit­glie­der sei Kam­mer­sän­ger Jo­chen Kup­fer her­vor­ge­ho­ben, der als Fürst An­drej Bol­kon­ski ein­mal mehr sän­ger­dar­stel­le­risch eine  Ide­al­be­set­zung ist. Sein Tanz mit der jun­gen Na­ta­scha (Cho­reo­gra­fie: Ram­ses Sigl) und die Ster­be­sze­ne sind schon al­lein die Fahrt nach Nürn­berg wert. Ganz gro­ßer Ju­bel auch für ihn.

Dass Di­ri­gen­tin Jo­a­na Mall­witz das Nürn­ber­ger Pu­bli­kum schon beim 1. Phil­har­mo­ni­schen Kon­zert eine Wo­che zu­vor im Sturm ge­nom­men hat, war dem An­tritts­ap­plaus zu ent­neh­men. Ihr ent­schlos­se­ner Zu­griff, ihre Ver­ve und Ein­fühl­sam­keit, ihre Über­sicht und Prä­zi­si­on sorg­ten da­für, dass das Or­ches­ter die zu­wei­len his­to­ri­en­schin­ken­schwe­re Schick­sals­mu­sik fast kom­plett un­fall­frei be­wäl­tig­te. Nach ei­ner Spiel­dau­er von fast drei­ein­halb Stun­den mit Pau­se trüb­te kein ein­zi­ges Buh den lan­gen be­geis­ter­ten Pre­mie­ren­bei­fall am Sonntag.

Be­such­te Pre­mie­re am 30. Sep­tem­ber 2018, Erst­ver­öf­fent­li­chung im Feuil­le­ton des Frän­ki­schen Tags vom 3. Ok­to­ber 2018. Wei­te­re Vor­stel­lun­gen (Be­ginn 18 Uhr) am 3., 7., 13., 21. und 27. Ok­to­ber so­wie am 1., 11. (Be­ginn 15.30 Uhr) und 17. No­vem­ber. Kar­ten te­le­fo­nisch un­ter 0180/1-344-276, per E-Mail: info@staatstheater.nuernberg.de und on­line un­ter https://​www​.staats​thea​ter​-nuern​berg​.de/

Zwei her­aus­ra­gen­de Sän­ger­dar­stel­ler der Nürn­ber­ger Erst­auf­füh­rung der Pro­kof­jew-Oper „Krieg und Frie­den“: Eleo­no­re Mar­guer­re als Na­ta­scha und Jo­chen Kup­fer als Fürst An­drej Bol­kon­ski. Foto: Lud­wig Olah

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