Als Wagner Glucks „Iphigenie“ übermalte

Chris­toph Wil­li­bald Rit­ter von Gluck, 1775 ge­malt von Jo­seph Siff­red Duplessis

Heut­zu­ta­ge, wo je­der Di­ri­gent, der et­was auf sich hält, sei­ne Nase be­son­ders tief in die je­wei­li­ge Ori­gi­nal­par­ti­tur steckt und ge­ge­be­nen­falls so­wohl die Ur­fas­sung als auch die Ver­si­on von letz­ter Hand stu­diert hat, be­vor er den ers­ten Ton er­klin­gen lässt, kann man gar nicht mehr ver­ste­hen, dass man frü­her ganz an­ders und ge­wiss nicht werk­treu vor­ging. Be­ar­bei­tun­gen von äl­te­ren Wer­ken wa­ren an der Ta­ges­ord­nung – und so kommt es nicht von un­ge­fähr, dass der­lei auch Ri­chard Wag­ner (1813–1883) ver­fasst hat.

Vor al­lem wäh­rend sei­ner Ka­pell­meis­ter­jah­re über­ar­bei­te­te er un­ter an­de­rem Opern an­de­rer Kom­po­nis­ten. Am in­ten­sivs­ten be­fass­te er sich mit „Iphi­gé­nie en Au­li­de“ (Iphi­ge­nia in Au­lis) von Chris­toph Wil­li­bald Gluck (1714–1787), die im 19. und bis ins spä­te 20. Jahr­hun­dert fast nur in sei­ner Ver­si­on auf­ge­führt und zu­wei­len so­gar als vier­zehn­te voll­ende­te Oper Wag­ners be­zeich­net wur­de. Grund ge­nug für den Ri­chard-Wag­ner-Ver­band Bam­berg, sich zum ge­ra­de aus­ge­klun­ge­nen Gluck-Ju­bi­lä­ums­jahr ge­nau­er dar­über zu informieren.

Frank Piontek aus Bay­reuth, der sich zwar seit Jahr­zehn­ten mit dem „Meis­ter“ be­schäf­tigt, aber un­ter an­de­rem auf dem Li­te­ra­tur­por­tal Bay­ern ein in­spi­rie­ren­der Jean-Paul-Blog­ger war, er­wies sich mit sei­nem Vor­trag „Ein gu­ter Meis­ter…“ im Ho­tel Bam­ber­ger Hof beim Auf­takt der RWV-Ver­an­stal­tungs­rei­he 2015 als gro­ßer Ken­ner und elo­quen­ter Red­ner, der mit fei­ner Iro­nie auch ver­meint­lich tro­cke­ne Kost auf­zu­pep­pen weiß. Und mit pas­sen­den Mu­sik­bei­spie­len nicht geizte.

Dass Wag­ner durch E.T.A. Hoff­mann auf Gluck auf­merk­sam wur­de, ver­steht sich fast schon von selbst. Die durch die Lek­tü­re ge­weck­ten ho­hen Er­war­tun­gen lös­te der ers­te Be­such ei­ner Gluck-Oper in Wien bis auf eine gro­ße Sze­ne frei­lich nicht ein: „Der Ein­druck al­les üb­ri­gen blieb fei­er­lich span­nend auf eine Wir­kung, zu wel­cher es nie kam“, er­in­ner­te sich Wag­ner spä­ter. Was ihn nicht dar­an hin­der­te, sich in sei­nen Schwei­zer Exil­jah­ren auch mu­sik­theo­re­tisch mit Gluck zu befassen.

Dem jun­gen Wag­ner ge­fiel an Gluck vor al­lem der mu­sik­dra­ma­ti­sche Im­pe­tus, und in sei­ner Schrift „Über die Ou­ver­tü­re“ soll­te er 1840 ge­nau jene aus „Iphi­ge­nia in Au­lis“ über den grü­nen Klee lo­ben, für die er vier­zehn Jah­re spä­ter ei­gens noch ei­nen Kon­zert­schluss kom­po­nie­ren soll­te, nach­dem er 1847 in Dres­den be­reits sei­ne kom­plet­te Be­ar­bei­tung die­ser Oper selbst auf­ge­führt hat­te: „In mäch­ti­gen Zü­gen zeich­net hier der Meis­ter den Haupt­ge­dan­ken des Dra­mas mit ei­ner fast er­sicht­li­chen Deutlichkeit.“

Wo­mit klar ist, dass Wag­ner Gluck als eine Art Vor­läu­fer für sich selbst ein­ord­ne­te. Was wie­der­um heißt, dass er sich bei sei­ner Be­ar­bei­tung als ers­tes die Über­set­zung des Li­bret­tos vor­nahm. Mu­si­ka­lisch brach­te er schon durch das er­wei­ter­te In­stru­men­ta­ri­um neue Klang­far­ben ein, er „über­mal­te“ Glucks Ar­beit, ver­än­der­te teil­wei­se die Har­mo­nien und kürz­te das Werk um Fi­gu­ren und Stü­cke. „Der be­ar­bei­te­te Gluck“, so Piontek, „bot ihm so­zu­sa­gen die Schüt­zen­hil­fe, um sein Kon­zept ei­ner durch­kom­po­nier­ten Oper voranzutreiben.“

Kurz ge­sagt: „Wag­ners Gluck ist eine äu­ßerst viel­fäl­ti­ge Fi­gur. Sie ist den viel­fäl­ti­gen, theo­re­ti­schen wie thea­ter­prak­ti­schen, äs­the­ti­schen wie aus­bil­dungs­tech­ni­schen In­ter­es­sen des Mu­sik­dra­ma­ti­kers un­ter­tan.“ Dass die in­ten­si­ve Be­schäf­ti­gung mit Gluck auch im Schaf­fen Wag­ners sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen wür­de, liegt auf der Hand. Dank ent­spre­chen­der Mu­sik­bei­spie­le konn­ten die Zu­hö­rer das un­ter an­de­rem be­son­ders nach­drück­lich aus dem ame­ri­ka­ni­schen Fest­marsch von 1876 her­aus­hö­ren, in den Wag­ner ein Haupt­mo­tiv aus der „Iphigenien“-Ouvertüre ein­ge­baut hat. Na­tür­lich ohne das Vor­bild groß in die Welt zu posaunen.

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