Sein letztes Weihnachtsfest erlebte Richard Wagner 1882 in Venedig. Am 24. Dezember dirigierte er als Geburtstagsgeschenk für Cosima im Teatro La Fenice in einer privaten Aufführung seine vor fünfzig Jahren entstandene Sinfonie in C-Dur.
Zwar gelangen Richard Wagner immer wieder auch musikalische Geburtstagsüberraschungen für seine Frau. Die Wiederaufführung seiner Symphonie in C-Dur (WWV 29) zu ihrem 45. Geburtstag blieb jedoch nicht geheim, weil er sich selber verplapperte. Am 14. Dezember 1882 schreibt Cosima in ihr Tagebuch: „Leider wird unser Mittagstisch etwas verspätet durch meinen Vater, R. sehr ärgerlich darüber, weil er versprochen hat, in das Lyceo mit meinem Vater zu gehen. Beim Abendbrot teilt er mit, daß er seine Krämpfe dort gehabt; wie er aber meldet, er müsse morgen wieder hin, sie hätten keinen Dirigenten, auf mein leises Staunen hierüber, bricht es bei ihm heraus, daß er zu meinem Geburtstag mir seine Symphonie aufführen wolle! … Großes Gelächter von Loldi und Fidi. […] Er erzählt mir alle Mühseligkeiten, die er mit den mangelnden Stimmen, mit Seidl‘s Ausbleiben für die Proben gehabt; nun telegraphierte er an Humperdinck in Paris, den er hofft, hier bei dieser Gelegenheit angestellt zu haben. Mich rührt es zum Schweigen! …“
Er hatte an diesem Tag mit dem Geiger Rafaele Frontali und Musikern des Liceo Benedetto Marcello mit den Proben zu seiner seit fünfzig Jahren nicht mehr gespielten Jugend-Symphonie in C-Dur begonnen. Die vermutlich zwischen April und Juni 1832 entstandene Komposition wurde erstmals im November 1832 am Ständischen Konservatorium Prag gespielt, von Schülern des Konservatoriums unter Dionys Weber. Die erste öffentliche Aufführung erfolgte am 15. Dezember 1832 in der Musikgesellschaft Euterpe in Leipzig, die wiederum als Probe diente für die Aufführung am 10. Januar 1833 bei einem Abonnementkonzert im Leipziger Gewandhaus. Am 27. August 1833 dirigierte Wagner selbst seine erste Sinfonie außerdem in einem Konzert des Würzburger Musikvereins. Danach sollten fast fünfzig Jahre vergehen, bis sie wieder erklang.
Was unter anderem damit zu tun hatte, dass Wagner 1836 das Manuskript der Partitur in der Hoffnung auf weitere Aufführungen als Geschenk an Felix Mendelssohn Bartholdy schickte; seither war sie verschollen. 1878 beauftragte er Anton Seidl, einen seiner Assistenten aus der Nibelungenkanzlei, aufgrund eines wieder aufgefundenen Stimmensatzes die Partitur wiederherzustellen, welche Wagner überarbeitete. Wahrscheinlich kamen in Venedig schon aus aufführungspraktischen Gründen weitere kleine Änderungen hinzu. Über die Aufführung am 24. Dezember 1882 im Teatro La Fenice schreibt Cosima am 24. Dezember 1882 in ihr Tagebuch:
Gegen 6 Uhr wird der Baum in der Sala [des Mezzanin im Palazzo Vendramin] angezündet, und eine sehr heitere Bescherung, an welcher auch unsere italienischen Leute den herzlichsten Anteil nehmen, wird begangen. Auch mein Vater, den wir eigentlich für diesen Dingen entfremdet hielten, ist mit ganzem Herzen dabei. Gegen 7 ½ Uhr fahren wir bei herrlichstem Mondschein und unter Glockengeläute in die Fenice, drei Gondeln. Eva darf mit uns sein! Der Saal festlich erleuchtet; der Vater, die Kinder, ich zuerst [hin]ein, freundlich empfangen. Etwas später R., jubelnd empfangen. Die zwei ersten Sätze werden ziemlich rasch hintereinander gespielt, dann entsteht eine Pause, R. kommt zu mir und zu meinem Vater, spricht sehr heiter mit mir. Ich lasse den Orchester-Mitgliedern danken, was mir ein Evviva einbringt. Am Schluß kommen die Musiker zu uns, man trinkt auf mein Wohl. Dann sagt R. meinem Vater in’s Ohr: „Hast du deine Tochter lieb?“ Dieser erschrickt; „dann setze dich an das Klavier und spiele“. Mein Vater tut es sofort zur jubelnden Freude aller. Dann erzählt R. französisch die Geschichte seiner Symphonie; gegen elf Uhr fahren wir heim, Venedig wie in blauer Verklärung! Die Kinder entzückt von dem Abend, R. sehr befriedigt!
Vier Tage später wandelt die Familie um die Mittagszeit „bei herrlichstem Sonnenschein“ auf der Piazetta: „Auch ist R. besonders gut gestimmt, weil er seine Arbeit – Bericht über die Symphonie – beginnen konnte. Das schwemmt bei ihm stets allen Ärger weg. Venedig gefällt ihm, und der Aufführung seiner Symphonie gedenkend geht er über zu seinem Leben, zu unsrer Vereinigung, und sehr übermütig-heiter sagt er: Wir hätten doch sehr recht getan, die baumwollenen Handschuhe nicht zu erwarten. (Er denkt dabei an den segnenden Bischof, den Ed. Devrient im Lohengrin 2ten Akt eingeführt hatte!)“
Besagten Bericht über die Wiederaufführung eines Jugendwerkes. An den Herausgeber des „Musikalischen Wochenblattes“ vollendet Wagner noch im alten Jahr. Am 31. Dezember 1882 schickt er das Manuskript an den Leipziger Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch, der ihn später in Band 10 von Wagners Gesammelten Schriften veröffentlichte. Darin heißt es unter anderem:
Ich habe am vergangenen Weihnachtsabend, hier in Venedig, ein Familien-Jubiläum der vor gerade fünfzig Jahren stattgefundenen ersten Aufführung einer, in meinem neunzehnten Lebensjahre von mir eigenhändig komponirten Symphonie begangen, indem ich dieselbe, nach einer uneigenhändigen Partitur, von dem Orchester der Professoren und Zöglinge des hiesigen Lyceums St. Marcello, unter meiner Direction, meiner Frau zur Feier ihres Geburtstages vorspielen ließ. Ich betonte: uneigenhändig; und damit hat es eben die besondere Bewandniß, welche diese Angelegenheit in das ganz Geheimnißvolle zieht, weßhalb ich sie denn auch nur Ihnen mittheile.
Wagner beschreibt zunächst die Entstehungsgeschichte der Sinfonie, warum und wie er die Partitur verschenkte, dass sie anhand der wieder aufgefundenen Orchesterstimmen rekonstruiert werden konnte und wie er das Werk „nur als Familien-Geheimniß“ noch einmal zum Ertönen bringen ließ:
Dieß geschah nun hier in höchst freundlicher Weise, vor einigen Tagen in Venedig, und die Erfahrungen, die hierbei zu machen waren, seien Ihnen jetzt noch in Kürze mitgetheilt. Vor Allem bezeuge ich, daß die Aufführung von Seiten des Orchesters des Lyceum’s mich sehr befriedigte, wozu jedenfalls auch eine starke Anzahl von Proben verhalf, welche man mir seiner Zeit in Leipzig nicht zur Verfügung stellen konnte. Die guten Anlagen des italienischen Musikers für Ton und Vortrag dürften zu vortrefflichen Bildungen benützt werden können, wenn deutsche Instrumentalmusik im Interesse des italienischen Musikgeschmackes läge. Meine Symphonie schien wirklich zu gefallen. Mich im Besonderen belehrte das Befassen mit diesem meinem Jugendwerke über den charakteristischen Gang in der Ausbildung einer musikalisch produktiven Begabung zum Gewinn wirklicher Selbständigkeit. […]
Daß ich nun aber das Symphonieschreiben aufgab, hatte wohl seinen ernstlichen Grund, über welchen ich mich nach der neuerlichen Wiederauffindung dieser Arbeit aufzuklären Gelegenheit nahm. Meiner Frau, welcher die vorbereitete Aufführung derselben als Überraschung gelten sollte, glaubte ich im Voraus jede Hoffnung benehmen zu müssen, in meiner Symphonie einem Zuge von Sentimentalität begegnen zu können; wenn etwas darin vom Richard Wagner zu erkennen sein würde, so durfte dieß höchstens die grenzenlose Zuversicht sein, mit der dieser schon damals sich um nichts kümmerte, und von der bald nachher aufkommenden, den Deutschen so unwiderstehlich gewordenen Duckmäuserei sich unberührt erhielt.
Diese Zuversicht beruhte damals, außer auf meiner kontrapunktischen Sicherheit, welche mir später der Hofmusiker Strauß in München dennoch wieder bestritt, auf einem großen Vortheile, den ich vor Beethoven hatte: als ich mich nämlich etwa auf den Standpunkt von dessen zweiter Symphonie stellte, kannte ich doch schon die Eroica, die C moll- und die A dur-Symphonie, die um die Zeit der Abfassung jener zweiten dem Meister noch unbekannt waren, oder doch höchstens nur in großer Undeutlichkeit erst vorschweben konnten. Wie sehr dieser glückliche Umstand meiner Symphonie zu Statten kam, entging weder mir, noch meinem theuren Franz Liszt, der in der Eigenschaft meines Schwiegervaters mit der Familie der Aufführung im Liceo beiwohnen durfte. Trotz Hauptthemen, mit denen sich gut kontrapunktiren, aber wenig sagen läßt, wurde meine Arbeit als „Jugendwerk“, dem ich leider das Epitheton „altmodisch“ geben zu müssen glaubte, gelten gelassen, dem somit bezeichneten „altmodischen Jugendwerke“ stellte ein heimlicher Antisemit meiner Bekanntschaft das „neumodische Judenwerk“ entgegen; worüber es glücklicher Weise zu keinen weiteren Kontroversen kam.
Damit Sie aber einen Begriff davon erhalten, wie weit ich es vor fünfzig Jahren doch bereits auch im Elegischen gebracht hatte, gebe ich Ihnen hiermit das Thema – nein! wollen wir sagen – die Melodie des zweiten Satzes (Andante) zum Besten, welche, obwohl sie ohne das Andante der C moll- und das Allegretto der A dur-Symphonie wohl nicht das Licht der Welt erblickt hätte, mir seiner Zeit so sehr gefiel, daß ich sie in einem zu Magdeburg veranstalteten Neujahrsfestspiel als melodramatische Begleitung des trauernd auftretenden und Abschied nehmenden alten Jahres wieder benützte. Mit der Bedeutung dieser Verwendung bezeichne es dießmal meinen Abschied auch von Ihnen. Venedig, Sylvester 1882. Richard Wagner.
Erstveröffentlichung in dem Blog „Mein Wagner-Jahr“ 2013 auf www.infranken.de
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