Zum Trost für alle, die den neuerlichen Lockdown fürchten: Auch Richard Wagner war in Quarantäne, sogar in einer selbstgewählten!
In der digitalisierten Wagner-Bibliothek aus dem Jahr 2004 (die leider, was die Briefausgabe betrifft, zwangsläufig noch sehr unvollständig ist, denn bis dahin waren erst vierzehn Bände der „Sämtliche Briefe“-Edition erschienen, die aktuell bei Band 25 angelangt ist und sich bei Fertigstellung auf insgesamt 35 Bände und Supplemente summieren wird) kommt das Wort Quarantäne immerhin einmal vor – sogar in zwei Sprachen!
Die Fundstelle stammt aus einem Brieffragment, aus der teilweisen Abschrift eines Briefes in französischer Sprache, den Wagner am 18. Dezember 1861 an einen leider bis dato nicht identifizierten Freund schickte wie folgt:
Paris. 18 Décembre 61
Dans la solitude
Mon ami,
je suis véritablement à Paris, et que je crois y rester quelque temps, mais - tout à fait retiré, sans tenter à rien qui s’apelle Paris. […] Je souffre du parler: il me faut absolument pour quelque temps éviter toute occasion qui m’excite de répéter pour la cinq centième fois les mêmes explications, les mêmes plaintes, etc. […]. Ainsi je me suis mis en quarantaine! […]
Paris. 18. Dezember 61
In der Einsamkeit
Mein Freund,
ich bin wirklich in Paris, und gedenke einige Zeit hier zu bleiben, aber – ganz zurückgezogen, ohne irgendeiner Versuchung nachzugeben, die sich Paris nennt […] Ich leide unter dem Sprechen: ich muß für einige Zeit unbedingt jede Gelegenheit meiden, die mich veranlaßt, zum fünfhundertsten Mal die gleichen Erklärungen, die gleichen Klagen usw. zu wiederholen […]. So habe ich mich selbst unter Quarantäne gestellt! […]
In Band 13 der Briefgesamtausgabe haben die Herausgeber Martin Dürrer und Isabel Kraft dazu einige weitere Textstellen gefunden, die Wagners momentane Abneigung zu gesprochener Kommunikation verdeutlichen. Zwar ist der Adressat dieses Quarantäne-Briefs unbekannt geblieben, der Inhalt jedoch gewinnt an Substanz, wenn man einige weitere Schreiben aus dieser Zeit gegenliest.
Zur Orientierung: In Paris war Wagner mehrfach für ein bis drei Monate und nahm dort von 1839 bis 1842 sowie von 1859 bis 1862 seinen festen Wohnsitz. Im Frühjahr 1861 hatte er in Paris den „Tannhäuser“-Skandal erlebt, danach hoffte er, die Proben für die zunächst in Wien geplante „Tristan“-Uraufführung beginnen zu können, was nicht klappt, weil der für die Titelpartie vorgesehene Sänger erkrankt. Dazu die üblichen Geld- und sonstigen Nöte mit der inzwischen wieder in Dresden lebenden Ehefrau Minna. Er schreibt ihr am 13. November noch aus Wien:
Wer bedenkt, dass ich täglich nicht nur Unangenehmes – nämlich Nicht-Gelingen – zu erfahren habe, sondern auch noch mit jedem Menschen dem ich begegne darüber zu sprechen habe, und demnach wohl 10 mal täglich dasselbe Unangenehme wiederholen muss, der wird begreifen, dass es nicht noch Freude macht, auch noch brieflich dasselbe stets wieder vorzunehmen. Wer bedenkt denn aber, wie es in Unser Einem aussieht!! – Jeder glaubt nächste Rechte zu haben! –
Am 15. Dezember beklagt er sich bei Minna unter anderem darüber, dass er nicht unerkannt bleiben kann:
Meine Anwesenheit in Paris ist allerdings doch nicht so verborgen geblieben: doch bleibe ich dabei, dass ich nur vorübergehend auf kurze Zeit mich hier aufhalte. Da ich sehr erkältet war, musste ich mir Abreibungen im nassen Tuch geben lassen, die ich, gut und bequem, nur in der Wasserheilanstalt in der rue de la Victoire nehmen kann; (Oh, das hatte ich einst auch bequemer! –) Ueber den Boulevard gehen, heisst für mich soviel, als von ganz Paris erkannt werden. So begegnete mir auch die unglückliche Eberty: das L. liess nicht los, und lud mich partout für dieser Tage einen zu Tisch ein. Zu Hause schrieb ich ihr aber dann ein Briefchen, und entschuldigte mich: ich sei krank vom vielen Sprechen, schade mir überhaupt durch mein Reden, und hätte mir vorgenommen, längere Zeit jetzt nirgends mehr hin zu gehen, wo ich reden müsste. Somit war ich die Dame los. –
Praktiziert der unermüdliche Networker Wagner da nicht auch eine Art von Social Distancing? Am 17. Dezember schreibt er an Hans von Bülow in Berlin über seine weiteren Pläne unter anderem:
Mein Leben ist eigentlich jetzt so gemacht, dass ich den ganzen Tag nichts andres mehr zu thun hätte als reden und Briefe schreiben. Da muss denn etwas Gewalt geschehen, wenn ich nicht meine kostbaren Jahre so ganz vertrödeln soll.
Tags darauf schreibt er seinen Quarantäne-Brief an den unbekannten französischen Freund, und am 21. Dezember berichtet er auch Mathilde Wesendonck in Zürich über seinen Pariser Alltag:
Hier gebe ich mir die grösste Mühe, mich zu verläugnen. Gelingt mir’s nicht ganz, so stelle ich mich doch wenigstens vor mir so, als wüsste man nichts von meiner Anwesenheit. Jetzt gelang mir’s doch schon drei Tage hintereinander, mit Niemand sprechen zu müssen. (Das böse Sprechen!) Beim Restaurant sah ich Royer, den Director der grossen Oper; stellte mich aber, als bemerkte ich ihn nicht. Als ich ihn bald darauf wieder sah, hatte ich während dem die Anzeige einer von ihm erschienenen Uebersetzung verschollener Theaterstücke des Cervantes gelesen: plötzlich interessirte mich der Mensch. Nun war es drollig, dass ich auf ihn zuging, mich eine volle halbe Stunde mit ihm unterhielt, und dabei den Opern-Director so vollständig ignorirte, dass zwischen uns nur einzig von Cervantes die Rede war. Er schickte mir andren Tages sein Buch. Ueber alle Maassen rührte mich die Vorrede des Dichters. Welch tiefe Resignation!
Weil Wagner bei diesem seinem zweiten längeren Paris-Aufenthalt auch mit der Aufzeichnung der Urschrift der „Meistersinger“-Dichtung beginnt, hebt sich zumindest gegen Jahresende seine Laune. An Minna schreibt er am 28. Dezember:
Im Uebrigen bin ich jetzt in meinem Arbeitseifer: Du weisst, da darf kein Tag hingehen, wo ich nicht dabei war. Um 10 Uhr frühstücke ich: dann von 11 oder 11 ½ bis gegen 3-4 Uhr sitz’ ich über meinen Reimen, die mich doch immer erheitern. Dann ein kleiner Spatziergang, eine Besorgung, Speisen, wonach gewöhnlich wieder zu Haus in mein 10 Fuss langes und 9 Fuss breites Stübchen, wo ich dann Briefe schreibe – wie soeben – oder lese. Manchmal bin ich auch in die kleinen Theater gegangen, um mir guten Schlaf zu verschaffen. Vor Allem vermeide ich das viele Sprechen, und suche deshalb nur sehr selten Jemand auf.
Eine selbstgewählte Kontaktsperre, allerdings – und bitte nur zum besseren Einschlafen! – noch garniert mit ein paar Theaterbesuchen. Aber wenig bis gar keine Aerosole. Könnte auch der Wagnerianerin Angela Merkel sehr gut gefallen.
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