Adventskalender 1871 (5)

Dies­mal hat Ta­ge­buch­schrei­be­rin Co­si­ma Wag­ner fast gar nichts zu be­rich­ten. Aber es gibt ei­nen Be­such, der si­cher Ge­füh­le und alte Wun­den aufreißt.

Mat­hil­de und Otto We­sen­don­ck in Re­li­efs von Jo­sef Kopf aus dem Jahr 1864 bzw. 1865 – Vor­la­ge: Ju­li­us Kapp (Hg.): Ri­chard Wag­ner an Mat­hil­de und Otto Wesendonck

Diens­tag, 5ten [De­zem­ber 1871] Kei­ne Brie­fe, we­der er­hal­ten noch ge­schrie­ben; R. ar­bei­tet. Um 2 Uhr Be­such der Fa­mi­lie We­sen­don­ck[1]; er, der gute Mann, recht schwer und läs­tig, sie aber freund­lich und gut, wir ver­spre­chen, das Neu­jahr bei ih­nen zu­zu­brin­gen. Abends sind wir müde und kön­nen nur ein we­nig von Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft sprechen.

[1] Die „Fa­mi­lie We­sen­don­ck“ meint hier zwei Per­so­nen: Otto We­sen­don­ck (1815–1896), ein aus El­ber­feld stam­men­der Sei­den­händ­ler, der es in New York zu Reich­tum ge­bracht hat­te, und des­sen zwei­te Frau Mat­hil­de We­sen­don­ck, geb. Agnes Lu­cke­mey­er (1828–1902), eben­falls aus El­ber­feld stam­mend, die bei ih­rer Hei­rat den Vor­na­men der früh ver­stor­be­nen ers­ten Frau ih­res Gat­ten an­nahm. Das Paar be­kam ins­ge­samt fünf Kin­der, von de­nen zwei schon im Kin­des­al­ter star­ben. Die We­sen­don­cks lie­ßen sich in Zü­rich nie­der und lern­ten Wag­ner 1852 bei ei­nem Kon­zert ken­nen. Rasch ent­wi­ckel­te sich eine un­ter­schied­lich tie­fe Freund­schaft. Otto, der welt­of­fe­ne und kunst­af­fi­ne Ge­schäfts­mann, wird zum bis­her größ­ten Mä­zen Wag­ners, wor­in ihn nur noch Kö­nig Lud­wig II. von Bay­ern über­tref­fen wird. Er för­dert Wag­ner fi­nan­zi­ell jah­re­lang ganz er­heb­lich und stellt ihm und sei­ner ers­ten Frau Min­na im April 1857 das als „Asyl“ be­zeich­ne­te ein­fa­che Fach­werk­haus (Gab­ler­stras­se 14, wo die heu­ti­ge Vil­la Schön­berg steht) in un­mit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft der erst Mo­na­te spä­ter fer­tig ge­stell­ten, stan­des­ge­mä­ßen We­sen­don­ck-Vil­la (Gab­ler­stras­se 15, heu­te das Mu­se­um Riet­berg) für eine ge­rin­ge Jah­res­mie­te zur Ver­fü­gung, ob­wohl sich längst eine Lie­bes­be­zie­hung zwi­schen Wag­ner und Mat­hil­de ent­wi­ckelt hat. Mat­hil­de ist zu die­sem Zeit­punkt be­reits Wag­ners be­deu­tends­te Muse, wie es so schön heißt. Sie ge­hört ne­ben Min­na und Co­si­ma zu den wich­tigs­ten Frau­en in sei­nem Le­ben, was sich nicht nur kon­kret in „Tris­tan und Isol­de“ nie­der­schlägt, son­dern vor al­lem in den We­sen­don­ck-Lie­dern, die Wag­ner auf Tex­te von Mat­hil­de ver­tont. Wie weit die­se Be­zie­hung wirk­lich ging, weiß heu­te nie­mand. Je­den­falls tat sei­ner­zeit die ge­ge­be­ne räum­li­che Nähe das Ih­ri­ge, um erst bei den We­sen­don­cks und dann bei den Wag­ners je­weils eine Ehe­kri­se aus­zu­lö­sen. Als Min­na Wag­ner ei­nen der zahl­lo­sen glü­hen­den Lie­bes­brie­fe Wag­ners an Mat­hil­de ab­fängt, kommt es zum Eklat. Vier Mo­na­te spä­ter ver­lässt Wag­ner end­gül­tig sein „Asyl“ und for­ciert die Tren­nung (aber nicht die Schei­dung) von sei­ner ers­ten Frau Min­na. Mat­hil­de bleibt bei Otto und ih­ren Kin­dern. Spä­ter, nach­dem er Co­si­ma für sich ge­won­nen hat, wird Wag­ner ver­su­chen, die Af­fä­re zu mar­gi­na­li­sie­ren. Und erst recht wird es Co­si­ma tun, was al­ler­dings nicht ganz klappt. Diet­rich Mack schreibt in sei­nem Buch „Wag­ners Frau­en“: Mat­hil­de „hat ih­ren Nach­lass ge­ord­net und ver­fügt, dass Wag­ners Brie­fe an sie, die in Ab­schrif­ten er­hal­ten sind, ver­öf­fent­licht wer­den. Ver­geb­lich ver­sucht Co­si­ma, dies zu ver­hin­dern. Die We­sen­don­ck-Brie­fe, die die Lei­den­schaft und Be­deu­tung die­ser Be­zie­hung für Wag­ners Le­ben und vie­le sei­ner Wer­ke do­ku­men­tie­ren, wer­den so po­pu­lär wie kein an­de­res Buch von oder über Wag­ner. Co­si­ma muss sich mit der Tat­sa­che ab­fin­den, dass es vor ih­rer Zeit in Wag­ners Le­ben eine an­de­re gro­ße Lie­be gab.“ Um zu­rück­zu­kom­men auf den 5. De­zem­ber 1871: Neu­jahr ha­ben die Wag­ners na­tür­lich nicht bei den We­sen­don­cks ver­bracht, son­dern zu­hau­se in Trib­schen. Erst an Syl­ves­ter, no­tiert Co­si­ma, hat­te R. „zu sei­nem Schre­cken be­merkt, daß er acht Tage lang ei­nen Brief von mir an Frau We­sen­don­ck (Ab­sa­ge) hat­te lie­gen­las­sen, wes­halb ich noch ein­mal schrei­be“. Man be­ach­te ers­tens, den In­halt die­ser Aus­sa­ge und zwei­tens, wie schnell die Post da­mals ge­we­sen sein muss.

Quel­len: Co­si­ma Wag­ner: Die Ta­ge­bü­cher: Band I, S. 1564. Di­gi­ta­le Bi­blio­thek Band 107: Ri­chard Wag­ner: Wer­ke, Schrif­ten und Brie­fe, S. 34725 (vgl. Co­si­ma-Ta­ge­bü­cher 1, S. 465-466); Das Wag­ner-Le­xi­kon, hgg. im Auf­trag des For­schungs­in­sti­tuts für Mu­sik­thea­ter Thur­n­au; Bern­hard Han­g­art­ner: Durch Ri­chard Wag­ners Zü­rich; Chris­ti­an Bühr­le, Mar­kus Kie­sel, Joa­chim Mild­ner: Pracht­ge­mäu­er. Wag­ner-Ort in Zü­rich, Lu­zern, Trib­schen und Ve­ne­dig; Diet­rich Mack: Wag­ners Frauen.

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