Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Dienstag 14ten [Dezember 1880] R. hatte keine ganz schlechte Nacht, doch stand er auf. – In der Frühe erzählt er, nur habe die Wasserleitung ein so angenehmes Geräusch beim Tropfeln gemacht, daß es völlig wie ein Stück von Chopin[1] gewesen sei. – Um die Mittagszeit kommt er zu mir herauf und teilt mit großer Lebhaftigkeit die Veränderung eines Kommas in seinem Aufsatz [mit], und er läßt sich bei Tisch über den Unterschied der Punktuation im Deutschen und Französischen aus. – Über die Novelle von Cervantes[2] sagt er: „Es ist alles da, aber es ist mir, als ob diese Menschen von ganz besondrer Art wären und sich besonders anmutig ausnehmen“. Bei Tisch ruft er dem „Gobelin“-Wetter zu: „Machen Sie’s nur so fort, genieren Sie sich nicht“, was uns alle sehr heiter gegen die Unbill des Wetters [stimmt]. Ein Buch über ihn von Marsillach[3], in das Italienische übersetzt, macht ihm Spaß, und wie wir beim Kaffee von seinen Freunden sprechen, entsinnt er sich Schuré’s[4], und daß er ihm abhanden gekommen. Er erzählt von seiner Leidenschaft zu einer Griechin[5], und wie ich den Bericht dahin rektifiziere, daß die Neigung gegenseitig war, sagt er, nun, da wundert es mich nicht, daß ich auch etwas Ordentliches erwischt habe – was uns gar heiter stimmt. Wir wandern, er und ich, im Saal und in der Halle, er arbeitet auch abends und sagt, er habe heute was Gutes gemacht, und ist übermütig entrückt wie immer, wenn die Arbeit ihm genügt. – Von der „gewaltsam innigsten“ Umarmung geht er zum wildesten Scherz über und erklärt es mir so: „Sonst würde man verrückt“, worauf [ich?]: „Allmählich verstehe ich dich.“ – – Er kommt auf den Gedanken, Parsifal uns vorzulesen, und tut es, Stein[6] den Abschied zu geben. Nachher wie gewöhnlich bereut er es, aber es fiel ihm leicht, und wenn auch einige trübe Betrachtungen über sein Verhältnis zu Freunden und zur Welt ihm entschlüpfen, so ist er doch heiter. – Die Zeitungsnotiz[7] mir gebend sagt er: „Was man in der Jugend sich wünscht, hat das Alter die Fülle, wenn diese Aufführung mir gekommen wäre, als ich z.B. K[apell]meister in Dresden war, wie hätte mich das erregt, wie gleichgültig läßt sie einen jetzt.“ – Abends scheint der Mond hell und beleuchtet das Glas unseres Oberlicht-Fensters. – Es freut R. und sieht wirklich wie ein Zauber von Wahnfried [aus], da am ganzen Tag kein Eckchen des Himmels zu sehen war.
Fußnoten
[1] Chopin, Frédéric (1810–1849), polnischer Komponist, ab 1830 Lehrer und Pianist in Paris. RW schätzte Chopins Klavierwerke, besonders dessen Préludes und Polonaisen, die in Wahnfried abends des Öfteren gespielt wurden, auch beim Whist, vorzugsweise von Joseph Rubinstein und Schwiegervater Franz Liszt. RWs pianistischen Möglichkeiten waren für Chopin in der Regel zu begrenzt, nur scherzhaft improvisierte er in seltenen Fällen in „Chopin’s Manier“. Die von Liszt auf Französisch verfasste Chopin-Biografie von 1851 mochte er übrigens nicht, angeblich wegen der übertriebenen Sprache und der überschwänglichen Darstellungsform. Aber das ist zweifellos ein anderes und sehr weites Feld …
[2] Cervantes, Miguel de (1547–1616), spanischer Nationaldichter und auch von RW hochgeschätzter Autor des Don Quijote u.v.a. Seine Preziosa-Novelle (Die Geschichte des Zigeunermädchens) war seit 5. Dezember 1880 Abendlektüre in Wahnfried gewesen und wirkte nach.
[3] Marsillach, Joaquim (1859–1883), katalanischer Arzt, Musikkritiker und enthusiastischer Wagnerianer, gründete u.a. mit seinem Freund und Mentor José de Letamendi den ersten spanischen Wagnerverein, besuchte die Festspiele 1876 und 1882, verfasste im Alter von 19 Jahren mit Ricardo Wagner – ensayo biográfico-critico die erste spanische Wagner-Biografie, die 1878 in Barcelona erschien und RW so gut gefielt, dass er einen längeren Brief darüber an M. richtete: „An Vorreden von Cervantes erinnert ihn das kleine Kunstwerk“, notierte Cosima, „und mit einem tiefen Seufzer vergleicht er es mit unseren deutschen form- und inhaltlosen Produkten. Dies bringt ihn auf die Verwandtschaft zwischen Spaniern und Deutschen, viel sichtbarer als wie zwischen [Spaniern und] Italienern, bei welchen die Malerei alles absorbiert hätte, er glaube nicht, daß ein Italiener dies hätte leisten können.“ Im Oktober 1881 kam M. auf Besuch zu den Wagners nach Bayreuth, „mit welchem ein etwaiger Aufenthalt in Sevilla besprochen wird! R. ist sehr freundlich gegen den Fremden, doch sagt er mitten [drin] zu uns: ‚Kinder, das ennuyiert mich.‘ – Der Spanier nimmt Abschied von R., indem er ihm sagt: ‚Les gens du Nord sont faits pour créer, ceux du Midi pour admirer.‘“ (Die Leute des Nordens sind gemacht, um zu erschaffen, die des Südens, um zu bewundern.) Viel Zeit hatte er nicht dafür. Der zum Arzt ausgebildete Arztsohn M. starb im Alter von nur 24 Jahren an einer schweren Lungenkrankheit. Sein ärztlicher Mentor und Freund José de Letamendi, der das Vorwort zu seinem Wagnerbuch verfasst hatte, war übrigens der erste nicht-deutsche Autor eines Artikels in den Bayreuther Blättern, wo er im September 1878 mit seinen „Gedanken über die Bedeutung der künstlerischen Bestrebungen Richard Wagner’s“ vertreten war und später noch weitere Beiträge veröffentlichte.
[4] Schuré, Edouard (1841–1929), französischer Schriftsteller, Musikhistoriker und Kritiker, wirkte für RW in Frankreich.
[5] Margaríta Matthíldi Alvána bzw. Marguerite Albana Mignaty oder Margaríta Matthíldi Miniáti (1821–1887), griechische Schriftstellerin und zeitweilige Lebensgefährtin des verheirateten E. Schuré.
[6] Stein, Karl Heinrich von (1857–1887), Philosoph, Schriftsteller, Hauslehrer von Fidi 1879 bis 1880, mehr über ihn in Fußnote 1 vom 11. Dezember.
[7] Nicht aufgefundenes Dokument. Daher erübrigt es sich auch, über die Punktuation sich näher auszulassen … !
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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