Tagebuch-Adventskalender (14)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Buch­co­ver der 1878 er­schie­ne­nen Wag­ner-Bio­gra­fie von Joa­quim Mar­sil­lach, die der ka­ta­la­ni­sche Wag­ner­en­thu­si­ast im Al­ter von neun­zehn Jah­ren ver­fasst hat.

Diens­tag 14ten [De­zem­ber 1880] R. hat­te kei­ne ganz schlech­te Nacht, doch stand er auf. – In der Frü­he er­zählt er, nur habe die Was­ser­lei­tung ein so an­ge­neh­mes Ge­räusch beim Trop­feln ge­macht, daß es völ­lig wie ein Stück von Cho­pin[1] ge­we­sen sei. – Um die Mit­tags­zeit kommt er zu mir her­auf und teilt mit gro­ßer Leb­haf­tig­keit die Ver­än­de­rung ei­nes Kom­mas in sei­nem Auf­satz [mit], und er läßt sich bei Tisch über den Un­ter­schied der Punk­tua­ti­on im Deut­schen und Fran­zö­si­schen aus. – Über die No­vel­le von Cer­van­tes[2] sagt er: „Es ist al­les da, aber es ist mir, als ob die­se Men­schen von ganz be­sond­rer Art wä­ren und sich be­son­ders an­mu­tig aus­neh­men“. Bei Tisch ruft er dem „Gobelin“-Wetter zu: „Ma­chen Sie’s nur so fort, ge­nie­ren Sie sich nicht“, was uns alle sehr hei­ter ge­gen die Un­bill des Wet­ters [stimmt]. Ein Buch über ihn von Mar­sil­lach[3], in das Ita­lie­ni­sche über­setzt, macht ihm Spaß, und wie wir beim Kaf­fee von sei­nen Freun­den spre­chen, ent­sinnt er sich Schuré’s[4], und daß er ihm ab­han­den ge­kom­men. Er er­zählt von sei­ner Lei­den­schaft zu ei­ner Grie­chin[5], und wie ich den Be­richt da­hin rek­ti­fi­zie­re, daß die Nei­gung ge­gen­sei­tig war, sagt er, nun, da wun­dert es mich nicht, daß ich auch et­was Or­dent­li­ches er­wischt habe – was uns gar hei­ter stimmt. Wir wan­dern, er und ich, im Saal und in der Hal­le, er ar­bei­tet auch abends und sagt, er habe heu­te was Gu­tes ge­macht, und ist über­mü­tig ent­rückt wie im­mer, wenn die Ar­beit ihm ge­nügt. – Von der „ge­walt­sam in­nigs­ten“ Um­ar­mung geht er zum wil­des­ten Scherz über und er­klärt es mir so: „Sonst wür­de man ver­rückt“, wor­auf [ich?]: „All­mäh­lich ver­ste­he ich dich.“ – – Er kommt auf den Ge­dan­ken, Par­si­fal uns vor­zu­le­sen, und tut es, Stein[6] den Ab­schied zu ge­ben. Nach­her wie ge­wöhn­lich be­reut er es, aber es fiel ihm leicht, und wenn auch ei­ni­ge trü­be Be­trach­tun­gen über sein Ver­hält­nis zu Freun­den und zur Welt ihm ent­schlüp­fen, so ist er doch hei­ter. – Die Zei­tungs­no­tiz[7] mir ge­bend sagt er: „Was man in der Ju­gend sich wünscht, hat das Al­ter die Fül­le, wenn die­se Auf­füh­rung mir ge­kom­men wäre, als ich z.B. K[apell]meister in Dres­den war, wie hät­te mich das er­regt, wie gleich­gül­tig läßt sie ei­nen jetzt.“ – Abends scheint der Mond hell und be­leuch­tet das Glas un­se­res Ober­licht-Fens­ters. – Es freut R. und sieht wirk­lich wie ein Zau­ber von Wahn­fried [aus], da am gan­zen Tag kein Eck­chen des Him­mels zu se­hen war.

Fuß­no­ten
[1] Cho­pin, Fré­dé­ric (1810–1849), pol­ni­scher Kom­po­nist, ab 1830 Leh­rer und Pia­nist in Pa­ris. RW schätz­te Cho­pins Kla­vier­wer­ke, be­son­ders des­sen Pré­ludes und Po­lo­nai­sen, die in Wahn­fried abends des Öf­te­ren ge­spielt wur­den, auch beim Whist, vor­zugs­wei­se von Jo­seph Ru­bin­stein und Schwie­ger­va­ter Franz Liszt. RWs pia­nis­ti­schen Mög­lich­kei­ten wa­ren für Cho­pin in der Re­gel zu be­grenzt, nur scherz­haft im­pro­vi­sier­te er in sel­te­nen Fäl­len in „Chopin’s Ma­nier“. Die von Liszt auf Fran­zö­sisch ver­fass­te Cho­pin-Bio­gra­fie von 1851 moch­te er üb­ri­gens nicht, an­geb­lich we­gen der über­trie­be­nen Spra­che und der über­schwäng­li­chen Dar­stel­lungs­form. Aber das ist zwei­fel­los ein an­de­res und sehr wei­tes Feld …
[2] Cer­van­tes, Mi­guel de (1547–1616), spa­ni­scher Na­tio­nal­dich­ter und auch von RW hoch­ge­schätz­ter Au­tor des Don Qui­jo­te u.v.a. Sei­ne Pre­zio­sa-No­vel­le (Die Ge­schich­te des Zi­geu­ner­mäd­chens) war seit 5. De­zem­ber 1880 Abend­lek­tü­re in Wahn­fried ge­we­sen und wirk­te nach.
[3] Mar­sil­lach, Joa­quim (1859–1883), ka­ta­la­ni­scher Arzt, Mu­sik­kri­ti­ker und en­thu­si­as­ti­scher Wag­ne­ria­ner, grün­de­te u.a. mit sei­nem Freund und Men­tor José de Le­ta­men­di den ers­ten spa­ni­schen Wag­ner­ver­ein, be­such­te die Fest­spie­le 1876 und 1882, ver­fass­te im Al­ter von 19 Jah­ren mit Ri­car­do Wag­ner – en­sayo bio­grá­fi­co-cri­ti­co die ers­te spa­ni­sche Wag­ner-Bio­gra­fie, die 1878 in Bar­ce­lo­na er­schien und RW so gut ge­fielt, dass er ei­nen län­ge­ren Brief dar­über an M. rich­te­te: „An Vor­re­den von Cer­van­tes er­in­nert ihn das klei­ne Kunst­werk“, no­tier­te Co­si­ma, „und mit ei­nem tie­fen Seuf­zer ver­gleicht er es mit un­se­ren deut­schen form- und in­halt­lo­sen Pro­duk­ten. Dies bringt ihn auf die Ver­wandt­schaft zwi­schen Spa­ni­ern und Deut­schen, viel sicht­ba­rer als wie zwi­schen [Spa­ni­ern und] Ita­lie­nern, bei wel­chen die Ma­le­rei al­les ab­sor­biert hät­te, er glau­be nicht, daß ein Ita­lie­ner dies hät­te leis­ten kön­nen.“ Im Ok­to­ber 1881 kam M. auf Be­such zu den Wag­ners nach Bay­reuth, „mit wel­chem ein et­wa­iger Auf­ent­halt in Se­vil­la be­spro­chen wird! R. ist sehr freund­lich ge­gen den Frem­den, doch sagt er mit­ten [drin] zu uns: ‚Kin­der, das en­nuy­iert mich.‘ – Der Spa­ni­er nimmt Ab­schied von R., in­dem er ihm sagt: ‚Les gens du Nord sont faits pour cré­er, ceux du Midi pour ad­mi­rer.‘“ (Die Leu­te des Nor­dens sind ge­macht, um zu er­schaf­fen, die des Sü­dens, um zu be­wun­dern.) Viel Zeit hat­te er nicht da­für. Der zum Arzt aus­ge­bil­de­te Arzt­sohn M. starb im Al­ter von nur 24 Jah­ren an ei­ner schwe­ren Lun­gen­krank­heit. Sein ärzt­li­cher Men­tor und Freund José de Le­ta­men­di, der das Vor­wort zu sei­nem Wag­ner­buch ver­fasst hat­te, war üb­ri­gens der ers­te nicht-deut­sche Au­tor ei­nes Ar­ti­kels in den Bay­reu­ther Blät­tern, wo er im Sep­tem­ber 1878 mit sei­nen  „Ge­dan­ken über die Be­deu­tung der künst­le­ri­schen Be­stre­bun­gen Ri­chard Wagner’s“ ver­tre­ten war und spä­ter noch wei­te­re Bei­trä­ge veröffentlichte.
[4] Schu­ré, Edouard (1841–1929), fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler, Mu­sik­his­to­ri­ker und Kri­ti­ker, wirk­te für RW in Frankreich.
[5] Mar­ga­rí­ta Mat­thíl­di Al­vá­na bzw. Mar­gue­ri­te Al­ba­na Mi­gna­ty oder Mar­ga­rí­ta Mat­thíl­di Mi­niá­ti (1821–1887), grie­chi­sche Schrift­stel­le­rin und zeit­wei­li­ge Le­bens­ge­fähr­tin des ver­hei­ra­te­ten E. Schuré.
[6] Stein, Karl Hein­rich von (1857–1887), Phi­lo­soph, Schrift­stel­ler, Haus­leh­rer von Fidi 1879 bis 1880, mehr über ihn in Fuß­no­te 1 vom 11. Dezember.
[7] Nicht auf­ge­fun­de­nes Do­ku­ment. Da­her er­üb­rigt es sich auch, über die Punk­tua­ti­on sich nä­her auszulassen … !

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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