Tagebuch-Adventskalender (15)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.
Mar­ke und Mol­ly, zwei an vor­ma­li­ge Wahn­fried-Vier­bei­ner er­in­nern­de Neu­fund­län­der, spie­len auch in Bar­rie Kos­kys ak­tu­el­ler „Meistersinger“-Inszenierung eine ge­wich­ti­ge Rol­le. Foto von 2017: Ul­ri­ke Müller

Mitt­woch 15ten [De­zem­ber 1880] R. hat­te eine gute Nacht. Beim Früh­stück sagt er mir, er habe viel an R. III.[1] ge­dacht, und des­sen Mo­no­log, und wie merk­wür­dig dies sei, daß er in Ver­ach­tung die­je­ni­gen habe, wel­che nun beim „ver­bo­te­nen Klang der Lau­te“ sich er­göt­zen nach all den blu­ti­gen Din­gen. – Wir ge­hen bei gu­tem Wet­ter vor Tisch aus, die Chaus­see nach Kon­ners­reuth; nach Tisch aber ist es schon trü­be; im Hof­gar­ten er­göt­zen uns Be­geg­nun­gen, ein Bür­ger, den R. mir be­zeich­net, wel­cher mit schwarz baum­wol­len be­schuh­tem Fin­ger an die Nase drückt, um sei­ner Rede mehr Ge­wicht zu ge­ben. Dann, von ei­nem al­ten Mann in Müt­ze und Man­tel sagt er, das ist der Grün-Un­ter aus den deut­schen al­ten Kar­ten. Am meis­ten Ver­gnü­gen macht im­mer Mar­ke[2] mit dem „on­du­lan­ten[3] Gang“, wie R. be­merkt, noch die Form des Wur­mes dar­in. – Wir ha­ben um Mit­tag Ab­schied von un­se­rem Freund Stein[4] ge­nom­men, uns auf ein Wie­der­se­hen freu­end. Von sei­ner noch un­voll­kom­me­nen Art vor­zu­le­sen sagt R., er wer­fe die Ver­se her­aus wie Spitz­bu­ben aus ir­gend­ei­nem Lo­kal: Du – – dich ken­ne ich, und dich auch – – u.s.w. … Abends Be­such un­se­res Freun­des Feus­tel[5], der in ko­mischs­ter Wei­se das Zer­würf­nis zwi­schen Voltz und Batz[6] er­zählt, wel­ches zur Fol­ge hat­te, daß die Bü­cher nun an neu­tra­lem Bo­den nie­der­ge­legt wur­den. Die bei­den Da­men (Schwes­tern) ver­tru­gen sich nicht, kei­ne gönn­te der an­de­ren, daß der Mann zum and­ren ging! Und Batz, mit sei­nem Va­ter ent­zweit, ist nun wie­der­um mit die­sem ver­söhnt, weil er sich mit sei­ner Mut­ter – wel­che von die­sem Zucht­haus­päch­ter ge­trennt lebt – über­wor­fen hat. Bal­zac[7]! – Dann spricht er von der Wäh­rungs-Ver­än­de­rung[8] und daß Deutsch­land kei­nen fal­schen Schritt mehr tun dür­fe, weil es zu arm sei.

Fuß­no­ten
[1] Nein, das ist jetzt aus­nahms­wei­se nix Fa­mi­liä­res, son­dern das Dra­ma Ri­chard III. von Wil­liam Shake­speare.
[2] Neu­fund­län­der der Wag­ners, sie­he auch Ta­ge­buch-Ad­vents­ka­len­der vom 10. De­zem­ber, Fuß­no­te 5.
[3] on­du­lant (frz.) = wie­gend, wal­lend, sanft wo­gend, wel­len­för­mig ver­lau­fend. Kurz ge­sagt: Es scheint, dass Mar­ke ei­nen vom Rhein­töch­ter­sang ge­präg­ten Gang drauf hat­te, wäh­rend R. dar­in schon den sich rin­geln­den Rie­sen­wurm sah, oder?
[4] Stein, Karl Hein­rich von (1857–1887), Phi­lo­soph, Schrift­stel­ler, von 1879 bis 1880 Haus­leh­rer von Fidi ( =Sieg­fried Wag­ner), mehr über St. in Fuß­no­te 1 des Ta­ge­buch-Ad­vents­ka­len­ders vom 11. Dezember.
[5] Feus­tel, Fried­rich von Feus­tel, Fried­rich (1824–1891), Bay­reu­ther Ban­kier, Po­li­ti­ker und ei­ner der wich­tigs­ten För­de­rer RWs in Bay­reuth; et­was mehr über ihn in Fuß­no­te 2 des Ta­ge­buch-Ad­vents­ka­len­ders vom 9. Dezember.
[6] Sie­he Fuß­no­te 1 vom 9. Dezember.
[7] Bal­zac, Ho­no­ré de (1799–1850), fran­zö­si­scher Ro­man­cier, hoch­ge­schätzt bei bei­den Wag­ners, die im­mer wie­der in sei­nen Wer­ken le­sen. „Ich habe“, schreibt Co­si­ma zum Bei­spiel am 17. Juli 1878, „zur Zer­streu­ung mei­nes Un­wohl­seins den Ro­man von Bal­zac wie­der in die Hand ge­nom­men, den ich bei­nah al­len vor­zie­he, ein ein­ge­hen­des Lob, wel­ches R. neu­lich dem gro­ßen Schrift­stel­ler zoll­te, brach­te mich dar­auf; R. liest mir dann abends aus die­sem Curé de vil­la­ge (Der Land­pfar­rer) die Sce­ne, in wel­cher die Die­ner von Vé­ro­ni­que ihr in ih­rer ei­ge­nen Wei­se das Le­ben von ‚Farr­a­be­sche‘ er­zäh­len, wir müs­sen über den volks­tüm­li­chen Ton herz­lich la­chen, ‚was das für ein be­gab­ter Mensch ist‘, ruft in­mit­ten der Lek­tü­re R. aus. Er liest mir ganz flie­ßend vor. Selbst sein ex­klu­siv ka­tho­li­sches Ge­prä­ge“, trägt sie als Rand­be­mer­kung nach, „dünkt mich be­rech­tigt; es bil­det den fes­ten Rah­men, ohne wel­chen es kein Kunst­werk gibt.“ Be­deu­ten­der als Wal­ter Scott be­fin­det R. Bal­zac und be­wun­dert des­sen Gabe, sich auch „in das De­tail ei­nes an­schei­nend un­be­deu­ten­den We­sens zu ver­set­zen.“ Co­si­ma er­gänzt, „selbst die Be­wäs­se­rungs-An­ge­le­gen­heit [im Land­pfar­rer] in­ter­es­siert ihn, nur die lan­gen Be­schrei­bun­gen von Ge­gen­den und Häu­sern liebt er nicht.“
[8] Die Ein­füh­rung der Mark als Wäh­rung im da­ma­li­gen Deut­schen Kai­ser­reich wur­de am 4. De­zem­ber 1871 fest­ge­legt und schritt­wei­se und galt 1. Ja­nu­ar 1876 als das ein­zi­ge ge­setz­li­che Zah­lungs­mit­tel. Als eine der we­ni­gen Aus­nah­men blie­ben in Bay­ern (!) die al­ten 1-Hel­ler-Mün­zen im Wert ei­nen hal­ben Pfen­nigs we­gen der Bier­steu­er (!!) noch ge­rau­me Zeit über 1878 hin­aus in Bay­ern gül­tig. Der Um­lauf der baye­ri­schen Hel­ler­mün­zen ver­lor sich dann in den 1880er Jah­ren, so­dass zu­nächst kein Ge­setz zu ih­rer Au­ßer­kurs­set­zung er­las­sen wur­de; das end­gül­ti­ge Aus er­folg­te erst mit dem neu­en Münz­ge­setz von 1924. Was ge­nau RW mit sei­ner An­spie­lung auf die Wäh­rungs­ver­än­de­rung meint, ist un­klar. Sie dürf­te je­den­falls nichts zu tun ha­ben mit der Aus­zah­lung der al­ler­höchs­ten Zu­wen­dung aus der kö­nig­li­chen Ka­bi­netts­kas­se in Höhe von 40 000 Gul­den in Form von Münz­geld am 2. Ok­to­ber 1865 an Co­si­ma. Denn wenn das nicht Sil­ber­mün­zen, son­dern Bier­hel­ler ge­we­sen wä­ren, wä­ren das si­cher nicht nur zwei Drosch­ken ge­we­sen, de­rer es dazu be­durf­te hät­te, um den Heim­weg nicht all­zu on­du­lant aus­fal­len zu lassen.

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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