Tagebuch-Adventskalender (13)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Ein Freund der Wag­ner­fa­mi­lie, der sich auch man­chen Spaß er­lau­ben durf­te: Franz von Len­bach, hier in ei­nem Selbst­por­trät von 1879. Vor­la­ge: Wi­ki­me­dia Commons

Mon­tag 13ten [De­zem­ber 1880] Die Nacht ist schlimm und lang; der Tag graut zwölf Stun­den über! R. be­haup­tet, alle Flüs­se der Höl­le habe er in Aug‘ und Nase, Styx, Ache­ron u.s.w.[1] Ganz deut­lich sag­ten ihm die Göt­ter: Fort, wenn du noch et­was schaf­fen willst und le­ben. Die Kin­der mel­den den Ge­burts­tag von Len­bach[2], und R. re­di­giert eine De­pe­sche an ihn (sie­he Map­pe 1). Er ar­bei­tet, und mit dem Abend stellt sich doch Hei­ter­keit ein, und wir müs­sen sehr la­chen, wie er von Spa­ni­en, von der Stadt Xe­res spre­chend, sagt: „Wie Xer­xes ein X, eine un­be­kann­te Grö­ße ver­lor.“ – (Ges­tern ließ er sich von Stein[3] das Rech­nen mit un­be­kann­ten Grö­ßen er­klä­ren.) Wir be­en­di­gen die No­vel­le von Cer­van­tes[4]; schon in der Frü­he hat­te R. die Vor­lie­be für die Zi­geu­ner sei­tens Cer­van­tes’ her­vor­ge­ho­ben, er sagt: „Alle ha­ben die Sehn­sucht emp­fun­den, au­ßer der Welt gleich­sam eine Zu­flucht sich zu schaf­fen. Beim Maul­esel tritt der Zi­geu­ner für das Tier ein, den der Edel­mann op­fert, um sich zu ret­ten. Al­les wird ge­se­hen, ge­zeigt, aber nichts aus­ge­spro­chen –.“ – – Abends sagt er mir, wie be­deu­tungs­voll das wäre, wenn Stein wirk­lich ei­nen Plan für die Er­zie­hung des Kna­ben durch­führ­te. – Das Ge­spräch führ­te uns abends auf N.[apoleon] III., und R. sag­te: Sol­che Men­schen, die sol­che Sa­chen voll­brin­gen wie den 2ten Dez.[5], wer­den dann wei­se Herr­scher, Wohl­tä­ter ih­res Lan­des. – Und vom deut­schen Kai­ser[6] sagt er, er kön­ne in den En­thu­si­as­mus für sein Wohl­wol­len schon des­halb nicht ein­stim­men, weil er wis­se, daß er zu den Un­er­bitt­lichs­ten ge­gen die Re­ak­tio­nä­re* ge­hört habe.

Fuß­no­ten
[1] Styx ist in der grie­chi­schen My­tho­lo­gie ne­ben Ache­ron, Le­the, Ko­ky­tos, Phle­ge­thon und Eri­danus ein Fluss der Un­ter­welt und eine Fluss­göt­tin. Im Grie­chi­schen ist die Styx weib­lich, was für grie­chi­sche Fluss­na­men sel­ten ist. Im Deut­schen sind bei­de Ge­ne­ra – so­wohl der als auch die Styx – geläufig.
[2] Len­bach, Franz Se­raph von (1836–1904), Ma­ler, 1863–68 in Ita­li­en und Spa­ni­en, da­nach Mün­chen; er­folg­reichs­ter Por­trä­tist sei­ner Zeit und spe­zi­ell der Wag­ner-Fa­mi­lie. Über die in Be­zug auf ihn er­wähn­te Map­pe 1 schwei­gen sich die Ta­ge­buch­her­aus­ge­ber lei­der aus, und bis RWs kom­plet­te Brief­aus­ga­be bei 1880 an­ge­langt ist (von Co­si­mas noch un­ge­ho­be­nen Brief­schaf­ten ganz zu schwei­gen), kann es auch noch dau­ern. L. hat zahl­rei­che Bild­nis­se von RW (mehr als ein Dut­zend!) und Co­si­ma ge­schaf­fen, bei­de sa­ßen ihm in sei­nem Münch­ner Ate­lier auch mehr­fach Mo­dell; L. be­such­te sie in Trib­schen und Bay­reuth, ge­hör­te zum en­ge­ren Freun­des­kreis der Fa­mi­lie, ob­wohl er be­stimmt kein Wag­ne­ria­ner war, wie fol­gen­des Bon­mot be­legt: „Ihre Mu­sik – “, soll er RW ge­sagt ha­ben, „ach was, dö is ja a Last­wa­gen nach dem Him­mel­reich“. Dem aus Ita­li­en zu­rück­keh­ren­den Clan hat­te er üb­ri­gens am 6. No­vem­ber 1880 ei­nen gro­ßen Emp­fang in Mün­chen aus­ge­rich­tet, wor­über er bei ei­ner Freun­din wie folgt ab­läs­ter­te: „habe […] den Wag­ner­fe­xen und sonst Leu­ten, wel­che den Kas­perl von Bay­reuth se­hen woll­ten, ei­nen Abend ge­ge­ben.“ Um­ge­kehrt ließ auch RW manch­mal kaum ein gu­tes Haar an L., schätz­te aber den­noch vor al­lem sei­ne Co­si­ma-Por­träts: „Er fin­det“, no­tier­te C. im Ok­to­ber 1879, „das Merk­wür­di­ge bei Len­bach, daß beim ers­ten Blick sei­ne Bil­der uns wie ein Idee frap­pie­ren, man kön­ne dann die­ses oder je­nes nicht gut fin­den, aber der Ge­samt-Ein­druck sei im­mer ein über­zeu­gen­der.“ Sie­he auch die Skiz­ze wei­ter unten …
[3] Stein, Karl Hein­rich von (1857–1887), Phi­lo­soph, Schrift­stel­ler, Haus­leh­rer von Fidi 1879 bis 1880, mehr über ihn in Fuß­no­te 1 vom 11. Dezember
[4] Le­se­pro­be hier
[5] Staats­streich Na­po­le­ons III. am 2. Dez. 1851, am 20. Dez. zum Prä­si­den­ten er­nannt, am 2. Dez. 1852 zum Kai­ser proklamiert.
[6] Wil­helm I., mit vol­lem Na­men Wil­helm Fried­rich Lud­wig von Preu­ßen (1797–1888), aus dem Haus Ho­hen­zol­lern, war von 1861 bis zu sei­nem Tod Kö­nig von Preu­ßen und seit der Reichs­grün­dung 1871 ers­ter Deut­scher Kaiser.

*So zu le­sen, muß wohl ein­deu­tig „Re­vo­lu­tio­nä­re“ hei­ßen! [An­mer­kung der Tagebuch-Editoren]

Franz von Len­bach: Co­si­ma und Ri­chard Wag­ner, im No­vem­ber 1874 skiz­ziert auf der Rück­sei­te ei­nes Pa­tro­nats­scheins für die Fest­spie­le 1876 – Erst­ver­öf­fent­li­chung aus Ul­rich Drü­ners Buch „Ri­chard Wag­ner. Die In­sze­nie­rung ei­nes Le­bens“, Vor­la­ge: © Ul­rich Drüner

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit stark er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

Lie­be Leser! 
Sie kön­nen Beers Blog abon­nie­ren – und Sie kön­nen für ei­nen Jah­res­bei­trag von nur 25 Euro (Paa­re 40 Euro) Mit­glied wer­den beim RWV Bam­berg oder ein­fach et­was spen­den auf un­ser Kon­to bei der Spar­kas­se Bam­berg: DE85 7705 0000 0300 2814 41

Ähnliche Beiträge