Tagebuch-Adventskalender (7)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Ri­chard Wag­ner bei An­ger­mann mit dem Te­nor Al­bert Nie­mann und dem Ba­ri­ton Eu­gen Gura. Vor­la­ge: Wal­ter Bron­nen­mey­er „Ri­chard Wag­ner Bür­ger in Bay­reuth“, Ell­wan­ger Verlag.

Diens­tag 7ten [De­zem­ber 1880] Wir hat­ten eine bes­se­re Nacht, und das Licht leuch­tet uns. Un­ser Ge­spräch führt uns auf das Le­ben, von wel­chem ich sage, daß es mich ge­recht be­dün­ken will. R. sagt: „Ge­wiß, und wenn wir die Nöte in solch ei­ner Exis­tenz ge­wah­ren wie die des Cer­van­tes[1], so kön­nen wir uns sa­gen, daß es dem Welt­wil­len auf et­was ganz an­de­res an­kam, als daß er in Eh­ren und Wohl­stand war.“ Ich den­ke, daß, wenn er sie ge­wollt, er sie auch er­langt hät­te, und fin­de in sei­ner Hei­ter­keit, in dem Schmä­hen der Ver­zwei­fe­lung ei­nen Zug des Adels. Was man will (nicht was man wünscht), hat man. – Der Wil­le habe es auch ge­wollt, daß er aus­hielt, des­halb habe er ihm ein gu­tes Weib­chen ge­ge­ben und ei­nen Kö­nig (neu­lich hob er her­vor, wie au­ßer­ge­wöhn­lich das Ver­hält­nis sei, da der Kö­nig gar nichts von ihm ver­lan­ge). Um die Mit­tags­zeit kommt R. zu mir her­auf und er­zählt mit der hei­ters­ten Wut, wie ihm beim Aus­gang ge­wor­den sei, 1° zu warm ge­klei­det, wie­der ge­wech­selt, dann die Man­schet­ten-Knöp­fe ver­kehrt hin­ein­ge­bracht, end­lich die Son­ne, die sich ver­steckt im Mo­ment, wo er hin­aus­kommt. Nach­mit­tags ge­hen wir aber noch zu­sam­men aus, und zwar mit Stein[2] durch den Hof­gar­ten zu Jou­kow­sky[3] in Ein­rich­tungs-Nö­ten. Eine Pracht-Aus­ga­be von Fried­rich dem Gr.[4] gibt R. dort Ver­an­las­sung, sich über den „Un­sinn“ aus­zu­las­sen. „Über Gers­te und Hop­fen sieht man in präch­ti­gen Let­tern und das Wert­volls­te dürf­tig ge­druckt.“ – Dann nimmt er uns zu An­ger­mann[5], und bei Mond­schein keh­ren wir durch den Hof­gar­ten heim. – Abends trägt uns R. wie­der sei­ne kosmo­go­ni­schen Ge­dan­ken vor, und dann ge­hen wir zu den Meis­ter­sin­gern über, zum 2ten Akt, den er uns zum grö­ße­ren Teil vor­trägt, mit uns eine un­ver­gleich­li­che Freu­de dar­an neh­mend. – Nach­dem die Freun­de sich ent­fern­ten, plau­dern wir, R. und ich, und Boni[6] kommt dazu, von Mün­chen heim­ge­kehrt. Man­cher­lei Sor­gen­vol­les be­treffs der Kin­der er­füllt uns, doch mei­ne Emp­fin­dung des Se­gens wankt nicht. (Bei Tisch sag­te heu­te R. das be­deu­ten­de Wort, der Mensch muß nichts sol­len, aber al­les müssen.)

Fuß­no­ten
[1] Cer­van­tes, Mi­guel de (1547–1616), spa­ni­scher Schrift­stel­ler. Der auch von RW hoch­ge­schätz­te Au­tor des Don Qui­jo­te u.v.a. gilt als Spa­ni­ens Nationaldichter.
[2] Stein, Karl Hein­rich von (1857–1887), Phi­lo­soph und Schrift­stel­ler, Haus­leh­rer von Fidi = Sieg­fried Wag­ner 1879 bis 1880, an­schlie­ßend Pri­vat­do­zent in Hal­le. Zu sei­nem Buch Hel­den und Werk (1883) schrieb RW kurz vor sei­nem Tod noch das Vorwort.
[3] Jou­kow­sky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pa­wel Was­sil­je­witsch Schu­kowk­ski, Ma­ler und Par­si­fal-Büh­nen­bild­ner 1882, lern­te RW An­fang 1880 in Nea­pel ken­nen, zog nach Bay­reuth und wur­de ein in­ti­mer Freund der Familie.
[4] Fried­rich der Gro­ße = Fried­rich II. (1712–1786), volks­tüm­lich der „Alte Fritz“, be­rühm­ter Preu­ßen­kö­nig aus der Dy­nas­tie der Hohenzollern.
[5] Be­vor­zug­tes Bay­reu­ther Wirts­haus RWs in der Kanz­lei­stra­ße (heu­te: ehe­ma­li­ges Postgebäude).
[6] Boni = Ponsch = Blan­di­ne Eli­sa­beth Ve­ro­ni­ca The­re­sia von Bülow (1863–1941, ab 1882 verh. Grä­fin Gra­vina), zwei­te Toch­ter von Co­si­ma und Hans von Bülow.

Quel­le: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fußnoten

Gast­stät­te Wei­ßes Lamm und Re­stau­ra­ti­on An­ger­mann in der Bay­reu­ther Kanz­lei­stra­ße 1896 Vor­la­ge: Jörg Mai­er u. a. „Bay­reuth. Eine Stadt ver­än­dert ihr Ge­sicht“, Druck­haus Bayreuth.

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