Tagebuch-Adventskalender (16)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Al­bum­blatt von Jo­seph Ru­bin­stein mit dem Er­lö­sungs-Mo­tiv aus Wag­ners „Göt­ter­däm­me­rung“ vom 13. März 1884. Vor­la­ge: Wi­ki­me­dia Commons

Don­ners­tag 16ten [De­zem­ber] Wir ste­hen nach ei­ner un­ru­hi­gen Nacht sehr spät auf. Da das Wet­ter hell ist, ge­hen wir, R. und ich, vor Tisch spa­zie­ren. Er spricht mit im­mer zu­neh­men­der Em­pö­rung von Schelling’s Of­fen­ba­rung[1] und sagt, daß mit C. Frantz[2] nun auch kein Wort zu re­den sei. So sei­en wir Deut­sche, zum Tief­sinn an­ge­legt und je­der nun so eine Rau­pe für sich aus­bil­dend, die ihn zum Im­bé­cil­len und dann tü­ckisch macht. – R. ist et­was an­ge­grif­fen, nichts­des­to­we­ni­ger aber ge­hen wir bei­de aber­mals nach Tisch spa­zie­ren und las­sen uns in bes­ter Lau­ne über­reg­nen. R. zeigt mir von der Fer­ne ei­nen wan­deln­den Re­gen­schirm, denn als nichts and­res kann man die Fi­gur be­zeich­nen; wir bli­cken dann auf Mar­ke, und R. er­klärt un­se­re Freu­de an sei­ner Schön­heit da­hin, daß al­les da Na­tur ist; wenn man den Pelz fühlt, ist es, als ob man un­mit­tel­bar in die Na­tur tauch­te. – Er ar­bei­tet vor dem Abend­brot. Bei der Mahl­zeit er­gibt die De­mü­ti­gung von Hül­sen[3], der 30 Jah­re lang sich nicht gut ge­gen R. be­nom­men, Be­trach­tun­gen über das The­ma der Ge­rech­tig­keit, und R. sagt: „Jede Tat, gute oder schlech­te, hat ihre Fol­gen; das In­di­vi­du­um ist da­bei gleich­gül­tig, ob es es er­lebt oder nicht, hält man aus, so er­lebt man es“ (wie er jetzt mit Hül­sen). „Es ist et­was Er­ha­be­nes in die­ser Ge­rech­tig­keit des Schick­sals, denn die Men­schen sind es nicht.“ – Das an­de­re Er­geb­nis des Ge­sprächs ist der von un­se­ren Freun­den Wolz­o­gens[4] ad­op­tier­te Ve­ge­ta­ria­nis­mus; R. sieht dar­in sei­ne Ge­dan­ken ihm als Frat­ze wie­der­keh­ren und eine gro­ße Er­kennt­nis miß­ver­ständ­lich zu ei­ner klein­li­chen Pra­xis ver­wer­tet. – Er­ken­ner und Be­ken­ner viel­leicht die am tiefs­ten ge­schie­de­nen We­sen! Bei den ei­nen al­les groß, frei, ru­hig, bei den and­ren al­les eng, auf­ge­regt, be­schränkt, der eine für die Welt, der and­re für eine Sek­te wir­kend! – – – Rub.[5] spielt uns das cis moll Quartett.

Fuß­no­ten
[1] Schel­ling, Fried­rich Wil­helm Jo­seph (1775–1854), Phi­lo­soph, An­thro­po­lo­ge, ei­ner der Haupt­ver­tre­ter des Deut­schen Idea­lis­mus, der Of­fen­ba­rungs- so­wie der spe­ku­la­ti­ven Na­tur­phi­lo­so­phie; mit sei­nen Vor­le­sun­gen von 1841/42 un­ter dem Ti­tel Phi­lo­so­phie der Of­fen­ba­rung be­fass­te sich RW par­al­lel zu sei­ner Ar­beit an der Rein­schrift der Par­si­fal-Par­ti­tur.
[2] Frantz, Con­stan­tin (1817–1891), po­li­ti­scher Schrift­stel­ler, stän­de­staat­lich-kon­ser­va­ti­ver Fö­de­ra­list und Ver­fas­ser des Drei­tei­lers „Schel­lings po­si­ti­ve Phi­lo­so­phie“, den er „Ri­chard Wag­ner freund­schaft­lichst ge­wid­met“ hat, was aber nichts half, denn Wag­ner är­ger­te sich über die­ses Buch und über Schel­ling sowieso.
[3] Hül­sen, Bo­tho von (1815–1886), In­ten­dant des Hof­thea­ters in Ber­lin so­wie der preuß. Hof­thea­ter in Han­no­ver, Kas­sel und Wies­ba­den und jahr­zehn­te­lang ein Geg­ner RWs, stand im Herbst/​Winter 1880 in kon­kre­ten Ver­hand­lun­gen mit RW über Wag­ner-Auf­füh­run­gen. Was die er­wähn­te De­mü­ti­gung be­trifft, weiß ich lei­der kei­nen Rat. Oder an­ders ge­sagt: Mir fehlt die Neu­gier, auf der Stel­le nachzuforschen …
[4] Wolz­o­gen, Hans Paul Frei­herr von (1848–1938), Mu­sik­schrift­stel­ler, Re­dak­teur, Ve­ge­ta­ri­er und Her­aus­ge­ber der Bay­reu­ther Blät­ter, die er von de­ren Grün­dung 1878 bis zu sei­nem Tod re­di­gier­te und zu­neh­mend an­ti­se­mi­tisch, deutsch-völ­kisch und schließ­lich na­tio­nal­so­zia­lis­tisch ausrichtete.
[5] Ru­bin­stein, Jo­seph (1847–1884), aus Russ­land stam­men­der jü­di­scher Pia­nist und ei­ner früh glü­hen­der Wag­ne­ria­ner, der ei­nen Tag vor Wag­ners end­gül­ti­ger Ab­rei­se nach Bay­reuth erst­mals nach Trib­schen kam. Er wur­de spä­ter un­ent­gelt­li­ches Mit­glied der sog. Ni­be­lun­gen­kanz­lei, die er nach krän­ken­den Äu­ße­run­gen RWs 1876 ver­ließ. Zwei Jah­re dar­auf kehr­te er zu­rück, wirk­te als Ko­pist und Haus­pia­nist der Fa­mi­lie in Wahn­fried und auf Rei­sen. Nach Wag­ners Tod ging er als Pia­nist wie­der auf Kon­zert­tour­neen, ver­fass­te Be­ar­bei­tun­gen und Fan­ta­sien nach Wag­ner und nahm sich am 22. Au­gust 1884 im Al­ter von 36 Jah­ren das Le­ben. Sein Leich­nam wur­de nach Bay­reuth über­führt und auf dem Is­rae­li­ti­schen Fried­hof bei­gesetzt, sein Va­ter ließ auf sei­nem Grab ei­nen schwar­zen Obe­lis­ken auf­stel­len. Sieg­fried Wag­ner schreibt in sei­nen Er­in­ne­run­gen un­ter an­de­rem über ihn: „Er, der Sprö­de, Ab­weh­ren­de, hat­te das Herz ei­nes weib­li­chen We­sens er­obert: uns­re eng­li­sche Gou­ver­nan­te ver­lieb­te sich in ihn. Wenn abends sein Man­tel im Vor­platz hing, um­arm­te sie die­sen, un­ge­ach­tet, ob wir fre­che klei­ne Ban­de her­um­stan­den und sie ver­spot­te­ten. Im Ge­gen­teil, das be­stärk­te sie nur in ih­ren Ge­füh­len, denn sie rief zu mei­ner Schwes­ter: O Eva, tell him, that I love him! Mei­ne Schwes­tern hat­ten aber doch nicht den Mut, den Lie­bes­bo­ten zu spie­len, und es blieb bei der Man­telum­ar­mung.“ Ach, der Arme!

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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