Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Donnerstag 16ten [Dezember] Wir stehen nach einer unruhigen Nacht sehr spät auf. Da das Wetter hell ist, gehen wir, R. und ich, vor Tisch spazieren. Er spricht mit immer zunehmender Empörung von Schelling’s Offenbarung[1] und sagt, daß mit C. Frantz[2] nun auch kein Wort zu reden sei. So seien wir Deutsche, zum Tiefsinn angelegt und jeder nun so eine Raupe für sich ausbildend, die ihn zum Imbécillen und dann tückisch macht. – R. ist etwas angegriffen, nichtsdestoweniger aber gehen wir beide abermals nach Tisch spazieren und lassen uns in bester Laune überregnen. R. zeigt mir von der Ferne einen wandelnden Regenschirm, denn als nichts andres kann man die Figur bezeichnen; wir blicken dann auf Marke, und R. erklärt unsere Freude an seiner Schönheit dahin, daß alles da Natur ist; wenn man den Pelz fühlt, ist es, als ob man unmittelbar in die Natur tauchte. – Er arbeitet vor dem Abendbrot. Bei der Mahlzeit ergibt die Demütigung von Hülsen[3], der 30 Jahre lang sich nicht gut gegen R. benommen, Betrachtungen über das Thema der Gerechtigkeit, und R. sagt: „Jede Tat, gute oder schlechte, hat ihre Folgen; das Individuum ist dabei gleichgültig, ob es es erlebt oder nicht, hält man aus, so erlebt man es“ (wie er jetzt mit Hülsen). „Es ist etwas Erhabenes in dieser Gerechtigkeit des Schicksals, denn die Menschen sind es nicht.“ – Das andere Ergebnis des Gesprächs ist der von unseren Freunden Wolzogens[4] adoptierte Vegetarianismus; R. sieht darin seine Gedanken ihm als Fratze wiederkehren und eine große Erkenntnis mißverständlich zu einer kleinlichen Praxis verwertet. – Erkenner und Bekenner vielleicht die am tiefsten geschiedenen Wesen! Bei den einen alles groß, frei, ruhig, bei den andren alles eng, aufgeregt, beschränkt, der eine für die Welt, der andre für eine Sekte wirkend! – – – Rub.[5] spielt uns das cis moll Quartett.
Fußnoten
[1] Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854), Philosoph, Anthropologe, einer der Hauptvertreter des Deutschen Idealismus, der Offenbarungs- sowie der spekulativen Naturphilosophie; mit seinen Vorlesungen von 1841/42 unter dem Titel Philosophie der Offenbarung befasste sich RW parallel zu seiner Arbeit an der Reinschrift der Parsifal-Partitur.
[2] Frantz, Constantin (1817–1891), politischer Schriftsteller, ständestaatlich-konservativer Föderalist und Verfasser des Dreiteilers „Schellings positive Philosophie“, den er „Richard Wagner freundschaftlichst gewidmet“ hat, was aber nichts half, denn Wagner ärgerte sich über dieses Buch und über Schelling sowieso.
[3] Hülsen, Botho von (1815–1886), Intendant des Hoftheaters in Berlin sowie der preuß. Hoftheater in Hannover, Kassel und Wiesbaden und jahrzehntelang ein Gegner RWs, stand im Herbst/Winter 1880 in konkreten Verhandlungen mit RW über Wagner-Aufführungen. Was die erwähnte Demütigung betrifft, weiß ich leider keinen Rat. Oder anders gesagt: Mir fehlt die Neugier, auf der Stelle nachzuforschen …
[4] Wolzogen, Hans Paul Freiherr von (1848–1938), Musikschriftsteller, Redakteur, Vegetarier und Herausgeber der Bayreuther Blätter, die er von deren Gründung 1878 bis zu seinem Tod redigierte und zunehmend antisemitisch, deutsch-völkisch und schließlich nationalsozialistisch ausrichtete.
[5] Rubinstein, Joseph (1847–1884), aus Russland stammender jüdischer Pianist und einer früh glühender Wagnerianer, der einen Tag vor Wagners endgültiger Abreise nach Bayreuth erstmals nach Tribschen kam. Er wurde später unentgeltliches Mitglied der sog. Nibelungenkanzlei, die er nach kränkenden Äußerungen RWs 1876 verließ. Zwei Jahre darauf kehrte er zurück, wirkte als Kopist und Hauspianist der Familie in Wahnfried und auf Reisen. Nach Wagners Tod ging er als Pianist wieder auf Konzerttourneen, verfasste Bearbeitungen und Fantasien nach Wagner und nahm sich am 22. August 1884 im Alter von 36 Jahren das Leben. Sein Leichnam wurde nach Bayreuth überführt und auf dem Israelitischen Friedhof beigesetzt, sein Vater ließ auf seinem Grab einen schwarzen Obelisken aufstellen. Siegfried Wagner schreibt in seinen Erinnerungen unter anderem über ihn: „Er, der Spröde, Abwehrende, hatte das Herz eines weiblichen Wesens erobert: unsre englische Gouvernante verliebte sich in ihn. Wenn abends sein Mantel im Vorplatz hing, umarmte sie diesen, ungeachtet, ob wir freche kleine Bande herumstanden und sie verspotteten. Im Gegenteil, das bestärkte sie nur in ihren Gefühlen, denn sie rief zu meiner Schwester: O Eva, tell him, that I love him! Meine Schwestern hatten aber doch nicht den Mut, den Liebesboten zu spielen, und es blieb bei der Mantelumarmung.“ Ach, der Arme!
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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