Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Freitag 17ten [Dezember 1880] R. hatte eine bessere Nacht, stand nur ein Mal auf, doch mediziniert er, und das greift ihn an. Beim Frühstück gedenkt er seiner Instrumentation und sagt, er habe sich in den Wirkungen nie getäuscht, etwas überladen habe er früher die Begleitung der Sänger, aber er habe sich nie in den Instrumenten geirrt. Wir gehen am Nachmittag wieder im Hofgarten spazieren, und R. spricht mir von seinem Wunsch, in den Evangelien ganz klar zu sehen, was ächt und was eingeschoben wäre, „förmlich mit Farben angegeben, das eine rot, das andere schwarz“. – – Er habe neulich in Bhagavad-gita[1] hineingeschaut, und da sei er erschreckt gewesen über den Wust von Zusätzen; wer da das Ursprüngliche einem zeigte! – – Er arbeitet an seiner Partitur, klagt aber über Zerstreutheit. Abends nimmt er Freund Wolz.[2] in ernstlich-väterlich ermahnender Weise wegen des Vegetarianismus vor, dieser hört zu – ob es nützt? Freund Rub.[3] spielt uns den amerikanischen Marsch sehr schön und zu unsrer aller Freude, auch R.’s. – – – Wir gedenken Beethovens’s Geburtstag[4], und ich lese Erinnerungen eines Herrn Louis Schlösser[5] an ihn, die, an die Novelle von R.[6] gemahnend, uns trotz manchem Verwunderlichen sehr fesseln. – R. sagt, wie wir es mit Bewunderung erwähnen, daß Beeth. zu dem jungen Mann ging: „Es hat ihn unendlich gefreut, daß der ihm die Subskription des Herzogs brachte, die Menschen bringen einem immer Unnützes, das war mal was. So sind wir.“ – Wie wir uns zum ersten Abschied umarmen, singt R. das Jubel-Thema des Wiedersehens von Tristan & Isolde und sagt dann: „Das ist zwar nicht Freude über Bestehen und erfochtene Siege, es ist doch Freude.“ – „Eher Freude über ein Unterliegen“, – meine ich[7].
Fußnoten
[1] Bhagavadgítá, Sanskrit, Des Erhabenen Sang, das berühmteste religiös-philosophische Dichtwerk der Inder, im 6. Buch des Mahábhárata, in Europa durch die engl. Übersetzung von Charles Wilkins, 1785, bekannt; latein. von August Wilhelm von Schlegel, 1823; dt. in der von Cosima benutzten Schreibweise des Titels von R. Boxberger, Berlin 1870.
[2] Wolzogen, Hans Paul Freiherr von (1848–1938), Musikschriftsteller, Redakteur und Herausgeber der Bayreuther Blätter, die er von deren Gründung 1878 bis zu seinem Tod redigierte und zunehmend antisemitisch, deutsch-völkisch und schließlich nationalsozialistisch ausrichtete.
[3] Rubinstein, Joseph (1847–1884), aus Russland stammender jüdischer Pianist und glühender Wagnerianer, der u.a. als Hauspianist in Wahnfried wirkte; mehr Infos in Fußnote 5 im Tagebuch-Adventskalender vom 16.Dezember.
[4] Beethoven, Ludwig van (1770–1827), Komponist, wurde am 17. Dezember 1770 in Bonn getauft.
[5] Schlösser, Louis, (1800–1886), Kapellmeister, Komponist und Musikkritiker, schrieb Erinnerungen an Beethoven in der Allgemeinen Musikzeitung.
[6] Mehr über RWs Novelle Eine Pilgerfahrt zu Beethoven (1840) sowie Auszüge aus diesem Text finden Sie hier.
[7] Was mag Cosima da wohl meinen? Mit dem absichtsvoll gesetzten Gedankenstrich ist das plötzlich ein weites Feld …
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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