Tagebuch-Adventskalender (23)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Mit der „Parsifal“-Instrumentation war Wag­ner am 23. De­zem­ber 1880 fast schon beim be­rühm­ten „Durch Mit­leid wis­send“ angelangt …

Don­ners­tag 23ten [De­zem­ber 1880] R. hat gut ge­schla­fen, und wir bei­de ste­hen ziem­lich früh auf. R. er­zählt mir, Fidi[1] habe ihm bei der Dou­che ge­mel­det, das Wet­ter sei „scheuß­lich“. Und es ist es in der Tat. Im­mer wie­der Ve­ne­dig und trau­ri­ge Be­trach­tun­gen, ob man wirk­lich den Schwer­punkt des Le­bens au­ßer­halb Wahn­frieds ver­le­gen soll! Dazu im­mer Nöte; wie ich zu Mit­tag her­un­ter­kom­me, fin­de ich R. da­mit be­schäf­tigt, Herrn Batz[2] zu schrei­ben, was ihm Ver­stim­mung bringt. Wir ge­hen nicht aus, ich ma­che klei­ne Vor­keh­run­gen für mor­gen, ein le­ben­des Bild[3] mit den Kin­dern, h. Fa­mi­lie; wir sind fer­tig, doch noch in Be­spre­chun­gen be­grif­fen, wie R. die Türe lei­se öff­net. Ei­ni­ge Ver­le­gen­heit wird über­tüncht mit vie­lem Re­den. Im Saal zeigt er mir die Stel­le, die er so­eben in­stru­men­tier­te („schon nah’ dem Schlos­se, wird uns der Held ent­rückt“)[4], und frägt, ob ich wür­di­gen kön­ne, wie schön sie sei. Freu­de ist da, und wie abends Freund Wolz­o­gen[5] uns be­sucht, ent­spinnt sich ein ganz flie­ßen­des, an­ge­neh­mes Ge­spräch über al­les[6], die Boers im Trans­vaal-Land, wel­che R. sei­tens der Deut­schen un­ter­stützt ge­gen die Eng­län­der se­hen möch­te, über die Ju­den-Agi­ta­ti­on, über Ety­mo­lo­gie deut­scher Wor­te; auch über Jä­ger[7] sagt R. sei­ne of­fe­ne Mei­nung un­be­hin­dert Freund Wolz­o­gen.[8] – Beim Kaf­fee hat­te ich R. aus ei­nem Ro­man von Bal­zac eine schö­ne Epi­so­de von ei­ner Non­ne er­zählt, R. sagt: „Die Fran­zo­sen soll­ten mit Bal­zac ma­chen, was ich wün­sche, daß die Deut­schen mit Scho­pen­hau­er machen.“

Fuß­no­ten
[1] Fidi = Sieg­fried Wag­ner (1869–1930), ein­zi­ger Sohn von Co­si­ma und Ri­chard Wag­ner, spä­te­rer Dich­ter­kom­po­nist und Fest­spiel­lei­ter, zum ge­ge­be­nen Zeit­punkt zehn­ein­halb Jah­re alt.
[2] Batz, Carl Wil­helm (1853–1894), Schrift­stel­ler aus Wies­ba­den, und Voltz, Carl (1839–1897), Wein­händ­ler und Kauf­mann aus Mainz, hat­ten als Thea­ter­agen­ten mit RW ei­nen Ver­trag über die Auf­füh­rungs­rech­te sei­ner Opern von Ri­en­zi bis zu den Meis­ter­sin­gern ab­ge­schlos­sen, der sich als Quel­le stän­di­gen Är­gers ent­pupp­te. Die da­mit ver­bun­de­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zie­hen sich schier end­los durch Kor­re­spon­denz und Ta­ge­bü­cher und hör­ten nach RWs Tod noch bei­lei­be nicht auf.
[3] Als Ta­bleau vi­vant (frz. „le­ben­des Bild“, Plu­ral ta­bleaux vi­vants) be­zeich­net man eine Dar­stel­lung von Wer­ken der Ma­le­rei und Plas­tik durch le­ben­de Per­so­nen. Die­se Mode kam ge­gen Ende des 18. Jahr­hun­derts auf und wur­de auch bei den Wag­ners gepflegt.
[4] Gurn­emanz in Par­si­fal I, Takt 518 ff.
[5] Wolz­o­gen, Hans Frei­herr von (1848–1938), Mu­sik­schrift­stel­ler, Re­dak­teur und Her­aus­ge­ber der Bay­reu­ther Blät­ter, die er von de­ren Grün­dung 1878 bis zu sei­nem Tod re­di­gier­te und zu­neh­mend an­ti­se­mi­tisch, deutsch-völ­kisch und schließ­lich na­tio­nal­so­zia­lis­tisch aus­rich­te­te. Mehr über W. fin­den Sie hier.
[6] Was die ta­ges­po­li­ti­schen The­men be­trifft, möge sie ein je­der (frei nach Gurn­emanz) sich sel­ber finden …
[7] Jä­ger, Fer­di­nand (1838–1902), Te­nor, war der ein­zi­ge Be­wer­ber, der 1878 für die neue Bay­reu­ther Stil­schu­le vor­ge­sun­gen hat­te, sich da­für ei­gens dau­er­haft in Bay­reuth nie­der­ließ und un­ter der Lei­tung von RW und Ni­be­lun­gen­kanz­list An­ton Seidl die Sieg­fried-Par­tie ein­stu­dier­te. RW emp­fahl ihn er­folg­reich für die Ring-Auf­füh­run­gen in Wien und Ber­lin wei­ter. Trotz man­cher stimm­li­cher Pro­ble­me war J. dank sei­ner gro­ßen Auf­fas­sungs­ga­be und sei­nes dar­stel­le­ri­schen Ta­lents im Vor­feld auch RWs Wunsch-Par­si­fal, wur­de von ihm auch Kö­nig Lud­wig II. ge­gen­über pro­te­giert, dann aber fal­len ge­las­sen. 1882 durf­te er die Par­tie, al­ter­nie­rend mit Hein­rich Gu­de­hus, zwei­mal in der Ur­auf­füh­rungs­pro­duk­ti­on sin­gen, sei­ne Bay­reuth-Kar­rie­re, in die er mehr als je­der an­de­re in­ves­tiert hat­te, war da­mit fast schon zu Ende. Nur 1888 trat er noch­mals, al­ter­nie­rend mit Er­nest van Dyck, als Fest­spiel-Par­si­fal auf, Co­si­ma Wag­ner emp­fahl ihn spä­ter be­zeich­nen­der­wei­se als Re­gis­seur und nicht als Sän­ger wei­ter. Als In­ter­pret der Lie­der des da­mals noch un­be­kann­ten Hugo Wolf wür­dig­te ihn nach sei­nem frü­hen Tod Hans von Wolz­o­gen im Bay­reuth-Heft der Zeit­schrift Die Mu­sik.
[8] Zei­chen im Text, am Rand [nur der Voll­stän­dig­keit hal­ber und sie­he Fuß­no­te 6]: „Auch über Gam­bet­ta, von dem er wünscht, daß die Fran­zo­sen ihn los­wer­den, wäh­rend er gern Fer­ry und sei­nen Kol­le­gen zusieht.“

Fer­di­nand Jä­ger in ei­ner Auf­nah­me der Ham­bur­ger Fo­to­gra­fin Emi­lie Bieber

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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