Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Donnerstag 23ten [Dezember 1880] R. hat gut geschlafen, und wir beide stehen ziemlich früh auf. R. erzählt mir, Fidi[1] habe ihm bei der Douche gemeldet, das Wetter sei „scheußlich“. Und es ist es in der Tat. Immer wieder Venedig und traurige Betrachtungen, ob man wirklich den Schwerpunkt des Lebens außerhalb Wahnfrieds verlegen soll! Dazu immer Nöte; wie ich zu Mittag herunterkomme, finde ich R. damit beschäftigt, Herrn Batz[2] zu schreiben, was ihm Verstimmung bringt. Wir gehen nicht aus, ich mache kleine Vorkehrungen für morgen, ein lebendes Bild[3] mit den Kindern, h. Familie; wir sind fertig, doch noch in Besprechungen begriffen, wie R. die Türe leise öffnet. Einige Verlegenheit wird übertüncht mit vielem Reden. Im Saal zeigt er mir die Stelle, die er soeben instrumentierte („schon nah’ dem Schlosse, wird uns der Held entrückt“)[4], und frägt, ob ich würdigen könne, wie schön sie sei. Freude ist da, und wie abends Freund Wolzogen[5] uns besucht, entspinnt sich ein ganz fließendes, angenehmes Gespräch über alles[6], die Boers im Transvaal-Land, welche R. seitens der Deutschen unterstützt gegen die Engländer sehen möchte, über die Juden-Agitation, über Etymologie deutscher Worte; auch über Jäger[7] sagt R. seine offene Meinung unbehindert Freund Wolzogen.[8] – Beim Kaffee hatte ich R. aus einem Roman von Balzac eine schöne Episode von einer Nonne erzählt, R. sagt: „Die Franzosen sollten mit Balzac machen, was ich wünsche, daß die Deutschen mit Schopenhauer machen.“
Fußnoten
[1] Fidi = Siegfried Wagner (1869–1930), einziger Sohn von Cosima und Richard Wagner, späterer Dichterkomponist und Festspielleiter, zum gegebenen Zeitpunkt zehneinhalb Jahre alt.
[2] Batz, Carl Wilhelm (1853–1894), Schriftsteller aus Wiesbaden, und Voltz, Carl (1839–1897), Weinhändler und Kaufmann aus Mainz, hatten als Theateragenten mit RW einen Vertrag über die Aufführungsrechte seiner Opern von Rienzi bis zu den Meistersingern abgeschlossen, der sich als Quelle ständigen Ärgers entpuppte. Die damit verbundenen Auseinandersetzungen ziehen sich schier endlos durch Korrespondenz und Tagebücher und hörten nach RWs Tod noch beileibe nicht auf.
[3] Als Tableau vivant (frz. „lebendes Bild“, Plural tableaux vivants) bezeichnet man eine Darstellung von Werken der Malerei und Plastik durch lebende Personen. Diese Mode kam gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf und wurde auch bei den Wagners gepflegt.
[4] Gurnemanz in Parsifal I, Takt 518 ff.
[5] Wolzogen, Hans Freiherr von (1848–1938), Musikschriftsteller, Redakteur und Herausgeber der Bayreuther Blätter, die er von deren Gründung 1878 bis zu seinem Tod redigierte und zunehmend antisemitisch, deutsch-völkisch und schließlich nationalsozialistisch ausrichtete. Mehr über W. finden Sie hier.
[6] Was die tagespolitischen Themen betrifft, möge sie ein jeder (frei nach Gurnemanz) sich selber finden …
[7] Jäger, Ferdinand (1838–1902), Tenor, war der einzige Bewerber, der 1878 für die neue Bayreuther Stilschule vorgesungen hatte, sich dafür eigens dauerhaft in Bayreuth niederließ und unter der Leitung von RW und Nibelungenkanzlist Anton Seidl die Siegfried-Partie einstudierte. RW empfahl ihn erfolgreich für die Ring-Aufführungen in Wien und Berlin weiter. Trotz mancher stimmlicher Probleme war J. dank seiner großen Auffassungsgabe und seines darstellerischen Talents im Vorfeld auch RWs Wunsch-Parsifal, wurde von ihm auch König Ludwig II. gegenüber protegiert, dann aber fallen gelassen. 1882 durfte er die Partie, alternierend mit Heinrich Gudehus, zweimal in der Uraufführungsproduktion singen, seine Bayreuth-Karriere, in die er mehr als jeder andere investiert hatte, war damit fast schon zu Ende. Nur 1888 trat er nochmals, alternierend mit Ernest van Dyck, als Festspiel-Parsifal auf, Cosima Wagner empfahl ihn später bezeichnenderweise als Regisseur und nicht als Sänger weiter. Als Interpret der Lieder des damals noch unbekannten Hugo Wolf würdigte ihn nach seinem frühen Tod Hans von Wolzogen im Bayreuth-Heft der Zeitschrift Die Musik.
[8] Zeichen im Text, am Rand [nur der Vollständigkeit halber und siehe Fußnote 6]: „Auch über Gambetta, von dem er wünscht, daß die Franzosen ihn loswerden, während er gern Ferry und seinen Kollegen zusieht.“
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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