Tagebuch-Adventskalender (20)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Franz von Stuck: Her­mann Levi (Öl auf Lein­wand), Por­trät­samm­lung der Baye­ri­schen Staatsoper

Mon­tag 20ten [De­zem­ber 1880] Auch die­se Nacht ging es nicht zu gut her, wenn auch nicht durch­aus schlecht. In der Frü­he ge­denkt R. des Cho­res aus der „Zau­ber­flö­te“[1] am Schluß, wie Levi[2] ihn nicht ver­stan­den hät­te, zu schnell ge­nom­men und die Män­ner­stim­men hät­te plump den zar­ten Frau­en-Ge­sang über­tö­nen las­sen. Die Ka­pell­meis­ter küm­mer­ten sich eben nicht um das, was auf der Büh­ne vor­geht. Er schreibt sei­nen Brief an Fre­ge[3] ab und zeigt mir, wie er ihn feh­ler­los ge­schrie­ben, wäh­rend er an den Kö­nig[4] im­mer sich ver­schrie­be. Hier sei es ihm aber eine lie­be, wich­ti­ge Auf­ga­be, die ihm ganz na­tür­lich fal­le. – Bei Tisch müs­sen wir über ei­nen Aus­spruch von ihm sehr la­chen; es heißt, Vogl[5] habe ge­meint, K[apell]meister Levi wür­de irr­sin­nig; R. sagt, ich wäre dar­an schuld, aus ei­nem Juif errant[6] mach­te ich ei­nen Juif con­cen­tré[7], was uns in ein hel­les La­chen ver­setzt. Wir ge­hen bei star­kem Re­gen spa­zie­ren und sind den­noch hei­ter, vie­les im­mer ver­ges­send. Abends ar­bei­tet er an sei­ner Par­ti­tur und zeigt mir, wie sorg­fäl­tig er eine Stel­le ra­diert hat. Ich emp­fan­ge Freund Feus­tel[8], wel­cher mir mit­teilt, daß sein Schwie­ger­sohn[9] in Mei­nin­gen von Hans[10] mit ei­ner Flut von Aus­las­sun­gen ge­gen Bay­reuth emp­fan­gen wor­den sei, na­ment­lich ge­gen Wolz.[11], wel­cher ihn ver­lei­tet habe, die Ju­den-Pe­ti­ti­on[12] zu un­ter­schrei­ben, wäh­rend er sähe, daß R. sich zu­rück­zö­ge, gut mit den Ju­den stün­de. Er, Hans, bräch­te die Op­fer und wür­de dann aus­ge­zischt u.s.w. – Es stimmt recht trau­rig. Ich schla­ge vor zu le­sen, und wir be­gin­nen die No­vel­le von Cer­van­tes, „Der groß­mü­tig Lie­ben­de“, aber sol­che Tür­ken-Ge­schich­ten fes­seln uns we­nig. Wir blei­ben bei uns­rer Stim­mung und kom­men auf Re­mi­nis­zen­zen! Nun heißt es bei sich blei­ben, die Ge­rech­tig­keit von al­lem Schwe­ren empfinden! …

Fuß­no­ten
[1] Schluss­chor der Mo­zart-Oper Die Zau­ber­flö­te, wie folgt: „Heil sey euch Geweihten!/ Ihr drangt durch die Nacht,/ Dank sey dir, Osi­ris und Isis, gebracht!/ Es sieg­te die Stär­ke, und krö­net zum Lohn/​ Die Schön­heit und Weis­heit mit ewi­ger Kron’.“
[2] Levi, Her­mann (1839–1900), Sohn ei­nes Rab­bi­ners, Mo­zart­über­set­zer und Goe­the­her­aus­ge­ber, Kom­po­nist und ei­ner der be­deu­tends­ten Di­ri­gen­ten des 19. Jahr­hun­derts, Hof­ka­pell­meis­ter in Karls­ru­he 1864 –1872 und Mün­chen 1872–1896, Di­ri­gent der Par­si­fal-Ur­auf­füh­rung 1882 in Bay­reuth und vie­ler wei­te­rer Auf­füh­run­gen dort bis 1894. We­gen sei­ner Ab­stam­mung muss­te so­wohl von den Wag­ners als auch dem Fest­spiel­um­feld im­mer wie­der an­ti­se­mi­ti­sche Aus­gren­zung und Ab­leh­nung er­fah­ren. Bei Wag­ners Be­er­di­gung 1883 war L. ei­ner der Sarg­trä­ger, sein ei­ge­nes Grab­mal in Par­ten­kir­chen wur­de von den Na­zis zer­stört. Wer sich in den An­ti­se­mi­tis­mus der Wag­ners spe­zi­ell auch in Hin­blick auf Levi ein­le­sen will, dem sei das fünf­te Ka­pi­tel in Wei­he, Werk­statt, Wirk­lich­keit von Ste­phan Mösch emp­foh­len – be­stimmt kei­ne leich­te Lek­tü­re, aber wen wun­der­te das?
[3] Fre­ge, Ar­nold von F.-Wetzing (1841–1916), Reichs­tags­mit­glied und Reichs­tags-Vi­ze­prä­si­dent von 1898–1901, Sohn von Li­via F., geb. Ger­hardt (1818–1891), Sän­ge­rin, und Prof. Wol­de­mar F., Tan­te und On­kel Hans von Bülows.
[4] Lud­wig II. von Bay­ern (1845–1886), le­bens­lan­ger zen­tra­ler Mä­zen RWs, ohne den es die Bay­reu­ther Fest­spie­le nicht gäbe. Das letz­te per­sön­li­che Tref­fen fand im No­vem­ber 1880 ?? in Mün­chen statt.
[5] Vogl, Hein­rich (1845–1900), aus Mün­chen stam­men­der Te­nor, nach sei­nem Lo­hen­grin-De­büt 1867 ei­ner der in­ter­na­tio­nal füh­ren­den Hel­den­te­nö­re, u.a. als Rhein­gold-Loge bei der UA in Mün­chen und in Bay­reuth, Sieg­mund bei der Wal­kü­re-UA in Mün­chen (mit sei­ner Frau The­re­se als Sieg­lin­de), spä­ter in die­ser Par­tie so­wie als Tris­tan, Sieg­fried und Par­si­fal auch bei den Bay­reu­ther Festspielen.
[6] Juif errant = der ewi­ge Jude.
[7] Juif con­cen­tré = hoch­gra­di­ger Jude.
[8] Feus­tel, Fried­rich (1824–1891), Bay­reu­ther Ban­kier, als Po­li­ti­ker so­wohl auf lo­ka­ler, Lan­des- und Reichs­ebe­ne tä­tig, wur­de 1891 no­bi­li­tiert. Auch in der Bay­reu­ther Frei­mau­rer­lo­ge ak­tiv war er ein ent­schie­de­ner För­de­rer von RWs An­sied­lung in Bay­reuth und Mit­glied im Ver­wal­tungs­rat des Festspielunternehmens.
[9] Adolf von Groß (1845-1931), ver­hei­ra­tet mit Ma­rie geb. Feus­tel, Ban­kier und Ver­wal­tungs­rat der Fest­spie­le in Rechts- und Fi­nanz­fra­gen, nach RWs Tod Vor­mund der Kin­der und un­ver­zicht­ba­rer Mit­ar­bei­ter Cosimas.
[10] Hans von Bülow (1830–1894), Liszt-Schü­ler, ers­ter Ehe­mann von Co­si­ma, Di­ri­gent der Tris­tan- und Meis­ter­sin­ger-Ur­auf­füh­run­gen in Mün­chen und der ers­te ech­te mo­der­ne Ma­es­tro.
[11] Wolz­o­gen, Hans Frei­herr von (1848–1938), Mu­sik­schrift­stel­ler, Re­dak­teur und Her­aus­ge­ber der Bay­reu­ther Blät­ter, die er von de­ren Grün­dung 1878 bis zu sei­nem Tod re­di­gier­te und zu­neh­mend an­ti­se­mi­tisch, deutsch-völ­kisch und schließ­lich na­tio­nal­so­zia­lis­tisch ausrichtete.
[12] Die Pe­ti­ti­on „ge­gen das Über­hand­neh­men des Ju­den­tums“ 1880 wur­de mit­in­iti­iert von Dr. Bern­hard Förs­ter, dem spä­te­ren Schwa­ger von Fried­rich Nietz­sche. Der Gym­na­si­al­leh­rer und ra­bia­te An­ti­se­mit hei­ra­te­te 1885 Eli­sa­beth Nietz­sche (1846–1935), wan­der­te mit ihr nach Pa­ra­gu­ay aus, wo er sich im Al­ter von 46 Jah­ren um­brach­te. RW lehn­te es ab, die Förs­ter-Pe­ti­ti­on zu unterschreiben.

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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