Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Dienstag 21ten [Dezember 1880] Die Nacht war erträglich; einiges, über Lusch[1] gesprochen, hatte uns auch erregt. Ob diese Haltung von Hans[2] nicht auf die Mädchen bedrückend wirkt, ob ihre Entwickelung dadurch nicht unsanft ihren Lauf nimmt? Die Schuld fiel wohl zuerst auf mich. Ailinos[3], das Gute siege! Am Vormittag ist das Wetter so schlecht, daß wir an kein[en] Spaziergang denken und R. recht gedrückt sich fühlt. Doch am Nachmittag wandern wir im Hofgarten umher, und da ich ihn sehr eingenommen von all dem Peinlichen, jüngst Erfahrenen sehe, so sage ich ihm, ich möchte mit ihm weit weit fort, damit er nichts mehr erführe, „Du willst ja nicht nach Madeira[4]“, – gibt er mir zur Antwort. Den Patronat-Verein[5] nennt er das ideale X, mit welchem Feustel[6] nicht rechne, er aber es täte. Konferenz um 5 – R. entschließt sich auf Anraten des Freundes Feustel, den Brief an W. Frege[7] nicht zu senden, damit es nicht aussähe, als sei das Schreiben in Folge der Altercation[8] zwischen Bülow und Groß[9] geschehen. Auch die Fragen wegen Aufführung des Parsifal werden geregelt. Die Freunde[10] bleiben zum Abendbrot, und nachher kommen ihre Frauen. Pepino[11] singt sehr hübsch in der Halle, und R. spielt mit ihm während des Gesanges zum Ergötzen der Anwesenden. Herr Jäger[12] singt uns das „Am stillen Herd“[13], nicht sehr zu R.’s Zufriedenheit, der nachher sagt: „Milde und Liebenswürdigkeit kennen die Deutschen nicht.“ Im Hofgarten sagte er mir, wenn ich ein Orchester zu meiner Disposition hätte, wäre es mir eine Freude, so etwas wie den letzten Satz der Es dur Symphonie[14] von Mozart einzustudieren, mit all seinen Feinheiten herauszubringen, und das im schnellsten Tempo.
Fußnoten
[1] Lusch = Lulu = Louoluo = Senta = Daniela von Bülow (1860–1940, ab 1886 verh. Thode), erste Tochter von Cosima und Hans von Bülow.
[2] Hans von Bülow, u.a. Vater von Lusch.
[3] = Klagelied (griechisch).
[4] Madeira kommt später nochmals in den Tagebüchern vor, zusammen mit Zante, der griechischen Insel Zakynthos, als konkrete Zielpunkte für RW’s große Sehnsucht nach südlich blauem Himmel.
[5] Der 1872 begründete Verein sollte durch den Verkauf von Patronatsscheinen die Festspiele vorfinanzieren, was mit nicht durchschlagendem Erfolg für 1876 und 1882 praktiziert wurde.
[6]Feustel, Friedrich (1824–1891), Bankier und Wagners Wegbereiter in Bayreuth, Mitglied im Verwaltungsrat des Festspielunternehmens, als Politiker sowohl auf lokaler, Landes- und Reichsebene tätig, wurde 1891 nobilitiert.
[7] Über diesen Brief wird seit 18. Dezember 1880 in Wahnfried immer wieder gesprochen.
[8] = Zank, Auseinandersetzung, Wechselrede (aus dem Lateinischen bzw. Englischen).
[9] Groß, Adolf von (1845–1931), Bankier und Schwiegersohn von Feustel, Verwaltungsrat der Festspiele in Rechts- und Finanzfragen, nach RWs Tod Vormund der Kinder und unverzichtbarer Mitarbeiter Cosimas.
[10] gemeint sind Feustel, Groß und Bürgermeister Theodor Muncker.
[11] Pepino war ein vermutlich ziemlich junger „Diener“ und Liebhaber Paul von Joukowskys [Parsifal-Bühnenbildner 1882, siehe Fußnoten in früheren Adventskalender-Einträgen], den letzterer nach dem 1880er Italienaufenthalt mit den Wagners dann auch nach Bayreuth mitgebracht hatte und der als neapolitanischer Volkssänger immer wieder auch im kalten Oberfranken für Furore sorgte. Schon P.’s erster Auftritt am 23. Januar 1880 in der Villa Angri in Neapel hatte die Wagners entzückt: „R. bewundert u.a., wie er mit dem Atem umzugehen weiß, auch die Sachen, die er singt, sind in ihrer wild zärtlichen, heiter einschmeichelnden, verführerisch sinnlichen Art einzig. Aber wie wird mir, wie der Sänger das Thema der Rheintöchter (er hat den Ring gehört) sich zu erinnern sucht! R. spielt es, und die ganze Schönheit der Natur ersteht vor uns, das begehrliche Tier hatten wir vor uns, nun den unschuldigen Menschen! … Pepino selbst höchst merkwürdig, wuchtig, gedrungen, schlicht und stolz – eine schöne Erfahrung! R. bemerkt, daß es richtig ist, daß die italienische Oper auf dem Volksgesang basiert ist, nur sich so entsetzlich verdorben hat.“ Pepino gehört dann irgendwie mit zur Familie, singt in Joukowskys Atelier zu Evas Geburtstag und hat, wie Cosima im November 1880 mitfühlend notiert, Heimweh. Dass Pepino nicht nur ein singender Diener ist, merkt sie erst später, aber immerhin, schriftlich an. Am 15. Februar 1881 notiert sie: „Nach Tisch kommt in eingehendster Weise die Sprache auf Jouk.’s Verhältnis zu Pepino, durch einen traurigen Liebschafts-Zwischenfall angeregt! Ich lasse mich so weit hinreißen, es als albern zu erklären, und bereue es! Wir sprechen darüber mit R., wie wir zusammen unter Schneeflocken zur Birk spazieren gehen, und es ist mir dieser Gegenstand beinahe lieber für R. als wie Semiten-Ag., Berlin u.s.w. […] R. sagte über das Verhältnis zu P.: „Es ist etwas, wovon ich den Verstand, dafür aber keinen Sinn habe. Übrigens ist das Beste an allen Verhältnissen das, was wir selbst hineinlegen. Alles ist Erscheinung.“ Mehr dazu und zu RWs Faible für Samt und Seide finden Sie in: Laurence Dreyfus Wagner and the Erotic Impulse
[12] Jäger, Ferdinand (1838–1902), Tenor, der zentrale Wagner-Partien wie Siegfried in Wien und andernorts schon gesungen hatte, war 1880 RWs Wunsch-Parsifal. 1882 sollte er diese Partie, alternierend mit Heinrich Gudehus, in der Uraufführungsproduktion singen.
[13] Walther von Stolzing in Die Meistersinger I, 3. Szene.
[14] Sinfonie Es-Dur Köchelverzeichnis 543.
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
Liebe Leser!
Sie können Beers Blog abonnieren – und Sie können für einen Jahresbeitrag von nur 25 Euro (Paare 40 Euro) Mitglied werden beim RWV Bamberg oder einfach etwas spenden auf unser Konto bei der Sparkasse Bamberg: DE85 7705 0000 0300 281441…
Ähnliche Beiträge
- Tagebuch-Adventskalender (24) 24. Dezember 2020
- Tagebuch-Adventskalender (18) 18. Dezember 2020
- Tagebuch-Adventskalender (20) 20. Dezember 2020
- Tagebuch-Adventskalender (8) 8. Dezember 2020
- Tagebuch-Adventskalender (23) 23. Dezember 2020