Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Dienstag 7ten [Dezember 1880] Wir hatten eine bessere Nacht, und das Licht leuchtet uns. Unser Gespräch führt uns auf das Leben, von welchem ich sage, daß es mich gerecht bedünken will. R. sagt: „Gewiß, und wenn wir die Nöte in solch einer Existenz gewahren wie die des Cervantes[1], so können wir uns sagen, daß es dem Weltwillen auf etwas ganz anderes ankam, als daß er in Ehren und Wohlstand war.“ Ich denke, daß, wenn er sie gewollt, er sie auch erlangt hätte, und finde in seiner Heiterkeit, in dem Schmähen der Verzweifelung einen Zug des Adels. Was man will (nicht was man wünscht), hat man. – Der Wille habe es auch gewollt, daß er aushielt, deshalb habe er ihm ein gutes Weibchen gegeben und einen König (neulich hob er hervor, wie außergewöhnlich das Verhältnis sei, da der König gar nichts von ihm verlange). Um die Mittagszeit kommt R. zu mir herauf und erzählt mit der heitersten Wut, wie ihm beim Ausgang geworden sei, 1° zu warm gekleidet, wieder gewechselt, dann die Manschetten-Knöpfe verkehrt hineingebracht, endlich die Sonne, die sich versteckt im Moment, wo er hinauskommt. Nachmittags gehen wir aber noch zusammen aus, und zwar mit Stein[2] durch den Hofgarten zu Joukowsky[3] in Einrichtungs-Nöten. Eine Pracht-Ausgabe von Friedrich dem Gr.[4] gibt R. dort Veranlassung, sich über den „Unsinn“ auszulassen. „Über Gerste und Hopfen sieht man in prächtigen Lettern und das Wertvollste dürftig gedruckt.“ – Dann nimmt er uns zu Angermann[5], und bei Mondschein kehren wir durch den Hofgarten heim. – Abends trägt uns R. wieder seine kosmogonischen Gedanken vor, und dann gehen wir zu den Meistersingern über, zum 2ten Akt, den er uns zum größeren Teil vorträgt, mit uns eine unvergleichliche Freude daran nehmend. – Nachdem die Freunde sich entfernten, plaudern wir, R. und ich, und Boni[6] kommt dazu, von München heimgekehrt. Mancherlei Sorgenvolles betreffs der Kinder erfüllt uns, doch meine Empfindung des Segens wankt nicht. (Bei Tisch sagte heute R. das bedeutende Wort, der Mensch muß nichts sollen, aber alles müssen.)
Fußnoten
[1] Cervantes, Miguel de (1547–1616), spanischer Schriftsteller. Der auch von RW hochgeschätzte Autor des Don Quijote u.v.a. gilt als Spaniens Nationaldichter.
[2] Stein, Karl Heinrich von (1857–1887), Philosoph und Schriftsteller, Hauslehrer von Fidi = Siegfried Wagner 1879 bis 1880, anschließend Privatdozent in Halle. Zu seinem Buch Helden und Werk (1883) schrieb RW kurz vor seinem Tod noch das Vorwort.
[3] Joukowsky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pawel Wassiljewitsch Schukowkski, Maler und Parsifal-Bühnenbildner 1882, lernte RW Anfang 1880 in Neapel kennen, zog nach Bayreuth und wurde ein intimer Freund der Familie.
[4] Friedrich der Große = Friedrich II. (1712–1786), volkstümlich der „Alte Fritz“, berühmter Preußenkönig aus der Dynastie der Hohenzollern.
[5] Bevorzugtes Bayreuther Wirtshaus RWs in der Kanzleistraße (heute: ehemaliges Postgebäude).
[6] Boni = Ponsch = Blandine Elisabeth Veronica Theresia von Bülow (1863–1941, ab 1882 verh. Gräfin Gravina), zweite Tochter von Cosima und Hans von Bülow.
Quelle: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten
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