Achtung: Suchtgefahr!

Wag­ner­ken­ner und Kri­ti­ker Alex­an­der Dick hat den bril­lan­ten 900-Sei­ten-Schmö­ker „Die Welt nach Wag­ner“ von Alex Ross für die Ba­di­sche Zei­tung re­zen­siert – und auch für uns.

Os­kar Pa­niz­za hat­te es so auf den Punkt ge­bracht: „Die Ri­chard-Wag­ner-Mu­sik ver­hal­te sich so wie eine Men­ge an­de­rer spe­zi­fi­scher Ge­hirn­gif­te, Al­ko­hol, Mor­phi­um, Ab­sinth“. Die­se Wor­te leg­te der Psych­ia­ter, Re­li­gi­ons­kri­ti­ker und spä­te­re Au­tor des Skan­dal­dra­mas „Das Lie­bes­kon­zil“ von 1894 schon drei Jah­re zu­vor ei­ner li­te­ra­ri­schen Fi­gur na­mens Gott­lieb Freund­lich in den Mund. Mit an­de­ren Wor­ten – die Ge­fahr ei­ner Sucht ist groß. Theo­dor Fon­ta­ne, Deutsch­lands be­deu­tends­ter li­te­ra­ri­scher Rea­list, war weit ent­fernt da­von, hat­te bei sei­nem Be­such ei­ner Bay­reu­ther Vor­stel­lung von Wag­ners „Par­si­fal“ 1889 gleich zu Be­ginn ei­nen klaus­tro­pho­bi­schen An­fall und ver­ließ das Fest­spiel­haus nach dem Vor­spiel des Werks. Im Brief an sei­ne Frau schil­dert er – in Bay­reuth be­gin­nen die Auf­füh­run­gen schon am Nach­mit­tag –, wie er den rest­li­chen Tag ver­brach­te: Spa­zier­gän­ge, Le­sen, Brie­fe­schrei­ben, wie­der Spa­zier­gän­ge. „Par­si­fal“ aber war „trotz­dem noch lan­ge nicht aus“. Wie auch? Al­lein die mu­si­ka­li­sche Dau­er die­ses letz­ten mu­sik­dra­ma­ti­schen Werks (Büh­nen­weih­fest­spiel) Wag­ners be­trägt, je nach Di­ri­gier­tem­po, gute vier­ein­halb Stunden.

Da­mit ist schon an­ge­deu­tet: Wag­ner ist spe­zi­ell. Weit spe­zi­el­ler als vie­le gro­ße Meis­ter vor und nach ihm. Denn der klei­ne, nur 1,66 Me­ter gro­ße Kom­po­nist aus Sach­sen war nicht zu­frie­den mit mu­si­ka­li­scher Grö­ße; un­be­schei­den, wie er war, be­an­spruch­te er eine Welt­deu­tungs­ho­heit für sich und sein 19. Jahr­hun­dert. Und das soll­te Fol­gen ha­ben – min­des­tens bis in das spä­te 20. Jahr­hun­dert hin­ein. Da­von er­zählt Alex Ross auf über 900 Sei­ten in „Die Welt nach Wag­ner“. Mu­tet über­di­men­sio­nal an, ist es aber nicht. Die Erst­fas­sung, ver­riet der US-ame­ri­ka­ni­sche Mu­sik­jour­na­list un­längst in ei­nem In­ter­view, sei gut um die Hälf­te län­ger ge­we­sen – „ich muss­te 100 000 Wör­ter kür­zen“. Fast möch­te man es bedauern.

Denn Ross legt mit sei­ner viel­schich­ti­gen, in­ter­dis­zi­pli­nä­ren Be­trach­tung den ein­drucks­vol­len Be­weis da­für vor, dass Wag­ner in all sei­ner Hy­bris und auch Men­schen­ver­ach­tung – man den­ke an sei­nen An­ti­se­mi­tis­mus – in Al­li­anz mit ei­ner eben­falls von Ver­mes­sen­heit zeu­gen­den – ge­nia­len – Mu­sik das zu­künf­ti­ge Den­ken in vie­len Be­rei­chen ge­för­dert und im­mer wie­der her­aus­ge­for­dert hat. Der „Ex­tre­mist“ Wag­ner hat viel In­put für die fort­schrei­ten­de Po­la­ri­sie­rung von Welt­bil­dern ge­ge­ben, in sei­ner kon­tro­ver­sen Re­zep­ti­on spie­geln sich die Brü­che wi­der, die mit der Mo­der­ne ein­her­ge­hen. Und oft ge­nug wun­dert man sich im Lau­fe des Buch­stu­di­ums, zu welch ab­sur­den Miss­ver­ständ­nis­sen und Deu­tun­gen Wag­ner ver­führt hat. Über die Mu­sik hinaus.

Dies dar­zu­stel­len, ohne Emo­ti­on und Par­tei­nah­me, ist das größ­te Ver­dienst von Ross’ Buch. Da­bei kommt ihm si­cher zu­gu­te, dass er als Ame­ri­ka­ner auf das Phä­no­men nicht mit der eu­ro­zen­trier­ten Bril­le schaut. Wie schon in sei­ner bril­lan­ten Ge­schich­te der Mu­sik des 20. Jahr­hun­derts „The Rest Is Noi­se“ ent­wirft der Au­tor auch hier ein Kul­tu­ren und Schu­len über­grei­fen­des Dos­sier, das in sei­ner ex­zel­len­ten, leich­ten Les­bar­keit nicht aus­grenzt, son­dern In­ter­es­sier­te aus al­len Be­rei­chen zum Stu­di­um ein­lädt. Und viel­leicht hat sei­ne ei­ge­ne Be­zie­hung zu Wag­ner im Wech­sel der Zei­ten, die er im Nach­wort be­schreibt, maß­geb­lich sein Vor­ge­hen be­ein­flusst: Wag­ner als Pro­blem­fall; spä­ter, mit dem Er­le­ben der Opern, als Lie­be mit der sich auch noch ei­ge­ne Lie­ben ver­bin­den; und schließ­lich der Ver­such ei­ner dif­fe­ren­zier­ten Hal­tung: „Die Ge­schich­te Wag­ners und des Wag­ne­ris­mus zeigt uns die bes­ten und die schlimms­ten Ei­gen­schaf­ten des Men­schen. Es ist der Sieg der Kunst über die Wirk­lich­keit und der Sieg der Wirk­lich­keit über die Kunst.“

Ross be­schreibt Wag­ners Kunst als eine Art Vul­kan­aus­bruch, der ein Vi­rus ins Le­ben setz­te. Die Epi­de­mie be­gann im Grun­de schon zu Wag­ners Leb­zei­ten, setz­te sich nach sei­nem Tod am 12. Fe­bru­ar 1883 umso ve­he­men­ter fort. Oft ge­nug gab Wag­ners Den­ken und Ver­hal­ten An­lass zur Kon­tro­ver­se. Über die Im­pres­sio­nis­ten etwa, die sich oft auf Wag­ner be­zo­gen, spot­te­te er – de­ren Ver­tre­ter Pierre-Au­gus­te Re­noir saß er 1882 Mo­dell. Span­nend ist es, die oft völ­lig un­ter­schied­lich na­tio­na­len Aus­prä­gun­gen der Wag­ner-Re­zep­ti­on zu ver­fol­gen. Wäh­rend in Frank­reich der „Wag­né­ris­me“ durch Bau­de­lai­re und die Sym­bo­lis­ten Wag­ner neu er­fand und das Mo­der­ne dar­an ex­zer­pier­te und wei­ter­ent­wi­ckel­te, kon­zen­trier­te sich die an­glo­ame­ri­ka­ni­sche Re­zep­ti­on auf die Tra­di­ti­on. Nicht von un­ge­fähr habe sich der Braut­chor aus dem „Lo­hen­grin“ in den ver­gan­ge­nen 150 Jah­ren zu der Hoch­zeits­hym­ne ent­wi­ckelt – nach­zu­er­le­ben in je­dem zwei­ten Hol­ly­wood-Schmacht­fet­zen. Ross kom­men­tiert das au­gen­zwin­kernd mit ei­gen­ar­tig, „denn in der Oper ist die­se Mu­sik das Vor­spiel zu ei­ner Ka­ta­stro­phe“. Es sind nicht sel­ten sol­che bis in die Ge­gen­wart ver­wei­sen­den De­tails, die das Buch so span­nend ma­chen. In die­sem Zu­sam­men­hang ist Ross’ Ana­ly­se der Ver­wen­dung von Wag­ners Mu­sik in un­ter­schied­lichs­ten Fil­men ein Muss für je­den Ci­ne­as­ten. Ross: „Wenn Hol­ly­wood über Wag­ner spricht, spricht es be­wusst oder un­be­wusst über sich selbst.“

Film, Li­te­ra­tur, Kunst – und die fa­ta­le Wech­sel­wir­kung von Wag­ners An­ti­se­mi­tis­mus mit Ge­sell­schaft und Po­li­tik: Mit „Die Welt nach Wag­ner“ ist Alex Ross ei­ner der wich­tigs­ten Bei­trä­ge zur Re­zep­ti­ons­ge­schich­te ge­lun­gen. Man liest die­ses Buch nicht, um Wag­ner bes­ser zu ver­ste­hen. Man liest es, um bes­ser zu ver­ste­hen, war­um Wag­ner eine sol­che Wir­kung auf Zeit­ge­nos­sen und Nach­fah­ren hat­te. Und es kann gut sein, dass man Wag­ner am Ende noch we­ni­ger ver­steht. Oder, um mit Os­kar Pa­niz­za zu spre­chen, der Wir­kung des Ge­hirn­gifts Wag­ner noch mehr erliegt.

Alex Ross: Die Welt nach Wag­ner – Ein deut­scher Künst­ler und sein Ein­fluss auf die Mo­der­ne. Aus dem Eng­li­schen von Glo­ria Busch­or und Gün­ter Kotz­or. Ro­wohlt Ver­lag, Ham­burg 2020. 912 Sei­ten, 40 Euro.

Ba­di­sche Zei­tung, 4.3.2021, Nach­for­schun­gen über ein Ge­hirn­gift: Alex Ross er­klärt „Die Welt nach Wag­ner“ mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Autors

Alex­an­der Dick ge­bo­ren 1962 in Markt­red­witz in „Baye­risch-Si­bi­ri­en“. Stu­di­um der Schul­mu­sik, Ger­ma­nis­tik und Mu­sik­thea­ter­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth. Ers­tes Staats­examen. Sti­pen­di­at der Ri­chard-Wag­ner-Stif­tung. Mit­ar­bei­ter beim For­schungs­in­sti­tut für Mu­sik­thea­ter der Uni­ver­si­tät Bay­reuth. Re­dak­ti­on und Bei­trä­ge zu „Pi­pers En­zy­klo­pä­die des Mu­sik­thea­ters“. Nach dem Zei­tungs­vo­lon­ta­ri­at ab 1992 Kul­tur­re­dak­teur beim Nord­baye­ri­schen Ku­rier, Bay­reuth. Seit 2001 Mu­sik­re­dak­teur bei der Ba­di­schen Zei­tung, Frei­burg, wo er seit 2004 das Kul­tur­res­sort lei­tet und in­ten­siv, aber auf ver­lo­re­nem Pos­ten, für den Er­halt des SWR-Sin­fo­nie­or­ches­ters Ba­den-Ba­den und Frei­burg kämpf­te. Ein be­son­de­res In­ter­es­se gilt Ri­chard Wag­ner, der Mu­sik des 19. Jahr­hun­derts, der klas­si­schen Mo­der­ne und der Gat­tung Ope­ret­te, ins­be­son­de­re der Wie­ner Ope­ret­te. Seit Früh­jahr 2018 Ju­ror beim Preis der deut­schen Schall­plat­ten­kri­tik im Be­reich Musiktheater.

Alex­an­der Dick, gei­gend – Foto: Sa­bi­ne Frigge

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