Eine Karriere mit unwürdigem Ende: Zum Tod des amerikanischen Dirigenten James Levine ein Gastbeitrag von Alexander Dick.
In Bayreuth hat ihm der Zeichner Matthias Ose dereinst mit einer Karikatur ein Denkmal gesetzt. Sie zeigt den prallvollen Zuschauerraum des Festspielhauses und eine beschürzte Frau, die sich an einen Zuhörer wendet: Er möge dem Herrn Levine ausrichten, dass er etwas schneller dirigieren solle, die „Brodwärschd wär’n ferdich“. Der Dissens zwischen Pausengastronomie – den obligatorischen fränkischen Bratwürsten – und langen Tempi dürfte James Levine nicht interessiert haben. Seine Dirigate des „Parsifal“ und der vier Opern des „Ring des Nibelungen“ verlangten dem Publikum viel Sitzfleisch ab. Aber es wurde belohnt dafür mit einer Lesart von Richard Wagners ausufernder Musikdramaturgie, die ein metaphysisches Zitat aus dem „Parsifal“ plastisch machte: „Zum Raum wird hier die Zeit.“
James Levine – bei allem, was das Bild über seine Persönlichkeit ins Negative hinein relativiert hat – war ein großer Künstler: Vertreter einer aus heutiger Sicht etwas obsoleten Auffassung von Klang, die gleichwohl, lässt man sich auf sie ein, etwas ganz und gar Zeitloses hat. So leger der, nun ja, füllige Maestro mit der Lockenmähne und dem bei Proben oder im verdeckten Bayreuther Orchestergraben obligatorischen Handtuch über der linken Schulter im Auftreten wirken mochte, so unnachgiebig und kompromisslos war er in seinen musikalischen Überzeugungen. Und zu denen gehörte: Der Komponist ist der Maßstab aller Dinge. Er „darf seine eigenen Fehler machen. Niemand ist perfekt, jeder macht Fehler. Aber ich möchte die Fehler des Komponisten machen, nicht meine eigenen. Die stellen sich ohnehin von selbst ein“, zitierte ihn der Musikjournalist Wolfgang Sandner vor Jahren in einem Porträt.
Fürwahr, Levine war ein Perfektionist, und für manche klingt aus seinen Interpretationen zu viel davon heraus. Doch das ist ein Missverständnis. Levine suchte nach der idealen Balance zwischen Form und Inhalt – exemplarisch kann man das in seiner „Parsifal“-Aufnahme mit dem – seinem – New Yorker Metropolitan Opera-Orchester nachhören. Allein wie er das Vorspiel strukturiert, ohne dass die stehenden Klänge verhungern, ist genial. Levine balanciert die Musik und verliert nie den Blick auf die Gesamtspannung.
James „Jimmy“ Levine, geboren 1943 in Cincinatti, war gleichwohl kein Künstler von einseitiger Ästhetik. Seine vielseitige Ausbildung, seine Studien an der berühmten Juilliard School of Music, seine Lehrer wie Walter Levin, Jean Morel oder später George Szell gaben ihm, dem Frühtalentierten, das Handwerkszeug mit auf den Weg, das ihn befähigte, schon 1976 Musikdirektor an der New Yorker Met und sieben Jahre später deren künstlerischer Leiter zu werden. Dass er dort die Saison 1980/81 mit Alban Bergs „Lulu“ eröffnete, unterstreicht seine künstlerische Rigorosität. Levine machte keinen Bogen um die Moderne; seine reiche Diskografie umfasst Werke von Donizetti bis Mahler, von Mozart bis Rihm. Und die Rolle der Oper darin ist weniger dominant, als man annehmen möchte. Im Dezember 2017 stand Levine, der auch lange Chef der Münchner Philharmoniker war, zum letzten Mal an der Met am Pult. Doch war sie zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr „sein“ Opernhaus.
Kurz nach seinem Rückzug von der Leitung des Hauses 2016 aus gesundheitlichen Gründen, wich das Kapitel Kunst in seinem Leben einem anderen – unseligen, unwürdigen. Missbrauchsvorwürfe, auch gegen Minderjährige, wurden laut und alsbald stand James Levine im Zentrum einer #MeToo-Debatte, die ihn des Machtmissbrauchs in vielen Fällen bezichtigte. 2018 zerschnitt die Met nach hausinternen Untersuchungen endgültig das Band. Auch wenn über Levines Schuld oder Unschuld nicht auf gerichtlicher Ebene befunden wurde – das Kapitel ist mehr als ein Menetekel in der Karriere eines Künstlers, dem die Musikwelt eigentlich viel zu verdanken hat. Aber nur eigentlich. Bereits am 9. März ist er, wie jetzt bekannt wurde, 77-jährig in Palm Springs gestorben.
Der Levine-Nachruf von Alexander Dick ist unter dem Titel „Am Ende verlor die Kunst“ zuerst bei der Badischen Zeitung erschienen. Dick ist dort Leiter des Kulturressorts und war zuvor von 1992 bis 2001 Kulturredakteur beim Nordbayerischen Kurier in Bayreuth und hat gerade erst auch bei uns seine Rezension des wunderbaren Wagnerwirkungsbuch von Alex Ross veröffentlicht.
Hier noch eine Auswahl an weiteren Levine-Nachrufen: von Bernhard Neuhoff auf BR Klassik, von Gerhard Koch in der F.A.Z., von Manuel Brug in dem Blog Brugs Klassiker und von Anthony Tommasini in der New York Times. Unsere Abbildung mit James Levine ist ein Ausschnitt des CD-Booklets zur Bayreuther „Parsifal“-Gesamtaufnahme von 1985 bei Philips. Die Brodwärschd-Postkarten von Matthias Ose waren lange Zeit ein Renner im Festspielhauskiosk und beruhten auf der Tatsache, dass die legendär guten Bratwürste von Metzgermeister Heinz Niklas bei den unberechenbar langsamen Levine-Dirigaten gern zu früh auf den Rost und zuweilen ganz schön verbrannt zwischen die Pausen-Weggla kamen.
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