Nein, ich gratuliere nicht!

Ein paar An­mer­kun­gen und Links zum „of­fi­zi­el­len“ Ge­burts­tag von Plá­ci­do Dom­in­go am 21. Ja­nu­ar 2021. Die Wie­ner Staats­oper sen­det am 22. Ja­nu­ar um 16.30 Uhr  „Na­buc­co“ mit ihm im Live-Stream.

Plá­ci­do Dom­in­go als Na­buc­co in der Pro­duk­ti­on der Wie­ner Staats­oper, die am 22. Ja­nu­ar um 16.30 Uhr als kos­ten­lo­ser Live-Stream zu se­hen ist. Foto: Wie­ner Staatsoper/​Michael Pöhn

Nein, ich ge­hö­re nicht zu den Gra­tu­lan­ten Plá­ci­do Dom­in­gos zum Acht­zigs­ten. Denn ers­tens ist schon das Ge­burts­jahr strit­tig. Seit 1989 konn­te man zu­nächst im „Dic­tion­n­aire des in­ter­prè­tes et de l’­in­ter­pré­ta­ti­on mu­si­cale au XXe siè­cle“ von Alain Pâris das Jahr 1934 nach­le­sen, das be­zeich­nen­der­wei­se so auch in der deutsch­spra­chi­gen Ver­si­on von 1992 steht. Will hei­ßen: Hät­te es ei­nen ge­gen­tei­li­gen Be­weis ge­ge­ben, hät­ten die Ver­la­ge dtv/​Bärenreiter das in der spä­te­ren Aus­ga­be si­cher kor­ri­giert – kor­ri­gie­ren müs­sen, was sie auch in der zwei­ten, er­wei­ter­ten und völ­lig über­ar­bei­te­ten Auf­la­ge von 1997 nicht ge­tan ha­ben. Und auch der nam­haf­te ita­lie­ni­sche Mu­sik­kri­ti­ker und Opern­ex­per­te Ro­dol­fo Cel­let­ti soll Dom­in­gos Ge­burts­jahr stets mit 1934 an­ge­ge­ben ha­ben. An­de­re Quel­len spre­chen von 1938. Ob er nun 80, 83 oder 87 ge­wor­den ist, könn­te ei­gent­lich egal sein. Dass Stars sich je nach Sta­di­um der Kar­rie­re äl­ter oder jün­ger ma­chen, als sie tat­säch­lich sind, gab es auch schon lan­ge vor Dom­in­go und wird es auch nach ihm ge­ben. Im har­ten Opern­ge­schäft, dort wo auch heu­te noch viel Geld im Spiel ist, ge­hö­ren Lü­gen zur Ta­ges­ord­nung – auf al­len Seiten.

Die sto­ßen ei­nem al­ler­dings be­son­ders auf, wenn auch an­de­re Un­ge­reimt­hei­ten ins Auge fal­len. Bei Dom­in­go kom­men sei­ne Re­kord­sucht und sein se­xis­ti­sches Ver­hal­ten hin­zu. Schon 1986 schrieb Jür­gen Kes­t­ing in sei­ner um­fang­rei­chen Stu­die „Die gro­ßen Sän­ger“ über ihn: „Wer Re­kor­de jagt, ge­rät in ei­nen Teu­fels­kreis: Er setzt sich dem Zwang aus, die selbst­ge­setz­ten Mar­ken stän­dig zu über­bie­ten.“ Ge­nau das hat die­sen „Ma­ra­thon-Mann der Oper“ von Be­ginn an ge­prägt. Un­er­sätt­lich hat er Vor­stel­lung um Vor­stel­lung, Par­tie um Par­tie, Auf­nah­me um Auf­nah­me, ja selbst am Weg lie­gen­de Funk­tio­nen und Pro­fes­sio­nen auf­ad­diert, um als Opern­künst­ler im­mer un­ein­hol­ba­rer  zu wer­den. In­zwi­schen ist er – auch dank der Kum­pa­nei von In­ten­dan­ten, de­nen die Mär vom zwar das Fach wech­seln­den, aber an­sons­ten an­geb­lich nicht al­tern­den Ge­sangs­star ein treu­es Pu­bli­kum in die Säle schwemmt – längst dort an­ge­kom­men, wo das Schlag­wort vom Opern-Me­thu­sa­lem Fakt ist.

Na­tür­lich kann kei­ner vie­le Jah­re­zehn­te lang der­ar­ti­ge Er­fol­ge ohne gro­ßes Ta­lent und Kön­nen er­rei­chen. Plá­ci­do Dom­in­go war in vie­len sei­ner Rol­len ein so­gar sehr gu­ter Te­nor. Al­ler­dings nicht im Wag­ner­fach. Sei­ne Bay­reuth-Auf­trit­te als Sän­ger und Di­ri­gent habe ich er­lebt; es gab durch­aus schö­ne Mo­men­te, als er 1992, 1993 und 1995 Par­si­fal und – für die Glaub­wür­dig­keit der Rol­le oh­ne­hin schon zu spät – im Jahr 2000 Sieg­mund sang, aber stets hat­te ich, wie auch bei sei­nen Wag­ner-Ein­spie­lun­gen auf Plat­te und CD den Ein­druck ei­ner rein pho­ne­ti­schen An­eig­nung, so dass ihm das We­sent­li­che für den Wag­ner­ge­sang fehl­te, das Ver­ständ­nis und die geis­ti­ge Durch­drin­gung ei­nes je­den ein­zel­nen in Mu­sik ge­setz­ten Wor­tes im Ge­samt­fluss der Par­ti­tur.  Dass er 2018 zu­dem drei „Walküre“-Vorstellungen di­ri­gie­ren durf­te, ge­hört für mich zu den Tief­punk­ten der jün­ge­ren Fest­spiel­ge­schich­te in Bay­reuth, über den ich ent­spre­chend be­rich­tet habe. Üb­ri­gens rank­te sich um Dom­in­gos Di­ri­ga­te der letz­ten Jah­re im­mer wie­der das Ge­rücht, dass er, über­mü­ti­gen Ok­to­ber­fest­gäs­ten nicht un­ähn­lich, für die­se En­ga­ge­ments be­zahlt ha­ben soll. Die al­ler­letz­te, für ihn wich­ti­ge Bas­ti­on, die er noch nicht ge­nom­men hat, scheint das Neu­jahrs­kon­zert der Wie­ner Phil­har­mo­ni­ker zu sein.

Die Kum­pa­nei von In­ten­dan­ten und Ver­an­stal­tern, die sei­nen of­fen­bar un­still­ba­ren Auf­tritts­drang nach wie vor be­die­nen, ist umso grö­ßer, als im Zuge der Me­Too-Be­we­gung be­kannt ge­wor­den ist, was in der Bran­che so­wie­so fast alle ge­wusst ha­ben: Dom­in­go soll sich schon im­mer gern an jün­ge­ren Frau­en „ver­grif­fen“ ha­ben. Ende der 50er Jah­re, ganz am An­fang sei­ner Kar­rie­re, be­glei­te­te er bei­spiels­wei­se als Pia­nist das Bal­lett Con­cier­to de Me­xi­co auf Tour­neen. „Mit Hu­mor“, schreibt sein Bio­graph Cor­ne­li­us Schnau­ber, Dom­in­go in­di­rekt zi­tie­rend, „be­rich­tet er dar­über, wie er sich un­ter strengs­ter Dis­zi­plin zu­rück­hal­ten muß­te, nicht von den 40 bis 50 Bal­lett­bei­nen ab­ge­lenkt zu wer­den (auch nicht nach den Vor­füh­run­gen), zu­mal er der ein­zi­ge männ­li­che Teil­neh­mer war, der an den Mäd­chen In­ter­es­se hat­te.“ Und schon auf der nächs­ten Buch­sei­te be­müht der Au­tor das Wort „hu­mor­voll“, in­dem er auf Dom­in­gos ei­ge­ne Schil­de­run­gen ei­nes Bor­dell­be­suchs ab­hebt. Ja, ich weiß, das pa­tri­ar­cha­le Welt­bild hat trotz man­cher fe­mi­nis­ti­scher Wel­len erst in jüngs­ter Zeit erns­te Ris­se be­kom­men. Der­lei se­xis­ti­sche Ka­me­ra­de­rie ist auch un­ter heu­ti­gen Kul­tur­jour­na­lis­ten noch gang und gäbe. Mehr als ein klei­ner Schat­ten auf der über­gro­ßen, aber ei­gent­lich un­ge­heu­er­li­chen Le­bens­leis­tung will da nicht rausspringen.

Nach Be­kannt­wer­den der Vor­wür­fe 2019 schrieb Pe­ter Ueh­ling in der Frank­fur­ter Rund­schau un­ter dem Ti­tel „Kar­rie­re, Sex und das ego­is­ti­sche Aus­nut­zen von Macht“ un­ter an­de­rem: „Plá­ci­do Dom­in­go galt in der Bran­che als – sa­gen wir mal – un­ru­hig. An­geb­lich hat man Frau­en emp­foh­len, nicht mit ihm al­lein im Raum zu sein. Zu sei­nen Be­dürf­nis­sen soll der ent­span­nen­de Ge­schlechts­ver­kehr vor der Auf­füh­rung ge­hört ha­ben – weil Sin­gen eine kör­per­lich über­aus an­spruchs­vol­le und über die Hor­mon­aus­schüt­tung vor al­lem bei ho­hen Tö­nen tat­säch­lich trieb-an­re­gen­de Tä­tig­keit sein kann, ist das so­gar nach­voll­zieh­bar. Und kein Pro­blem, wenn der­glei­chen Ent­span­nung denn ‚ge­wünscht und ein­ver­nehm­lich‘ voll­zo­gen wird. Nur: Wer will sich dem gro­ßen Mann ent­zie­hen, gar schuld sein, wenn er auf der Büh­ne nicht in Form ist? Hier wird ja bei­na­he an die müt­ter­li­chen An­tei­le der An­ge­spro­che­nen ap­pel­liert, und schon kommt et­was zu­stan­de, das nach ‚Ein­ver­neh­men‘ aus­se­hen könn­te, tat­säch­lich aber das Re­sul­tat von Ma­ni­pu­la­ti­on ist.“

Ist es Zu­fall, dass ak­tu­ell ei­ni­ge we­ni­ge Ge­burts­tags-Ar­ti­kel von weib­li­chen Au­toren hin­ter ei­ner Be­zahl­schran­ke ste­hen, die der männ­li­chen Mei­nungs­ma­cher aber nicht? Ei­ni­ge da­von sei­en her­aus­ge­grif­fen: Ma­nu­el Brug in der „Welt“, Jür­gen Kes­t­ing in der F.A.Z., Mar­kus Thiel im Münch­ner Mer­kur und Lju­biša Tošić im ös­ter­rei­chi­schen Stan­dard. Ein ak­tu­el­les In­ter­view mit Dom­in­go hat Mi­cha­el Stall­knecht für die Neue Zür­cher Zei­tung ge­führt, auf SZ-Kri­ti­ker Rein­hard J. Brem­beck ver­wei­se ich nur des­halb, weil er auch hier wie­der ein­mal jour­na­lis­tisch in­dis­ku­ta­bel ar­bei­tet. Denn er sug­ge­riert, dass, wer den schon im Ti­tel „Ver­stumm­ten Meis­ter“ hö­ren wol­le, auf sei­ne un­zäh­li­gen Auf­nah­men  zu­rück­grei­fen müs­se. Si­cher ist er kein Meis­ter mehr, aber ver­stummt ist er nicht: Dom­in­go singt und spielt heu­te, am 22. Ja­nu­ar 2021, dem Tag nach sei­nem „of­fi­zi­el­len“ 80. Ge­burts­tag, zwar ohne Pu­bli­kum, aber live in der Wie­ner Staats­oper die Ti­tel­rol­le in Giu­sep­pe Ver­dis „Na­buc­co“. Die Vor­stel­lung wird auf der Web­site der Wie­ner Staats­oper um 16.30 Uhr kos­ten­los gestreamt.

Dom­in­gos Spät­kar­rie­re wäre üb­ri­gens auch ohne sein se­xis­ti­sches Ver­hal­ten frag­wür­dig. Er tritt ja nicht nur in den klas­si­schen Alt­män­ner- und Grei­sen-Rol­len auf, son­dern auch in Ga­las, sprich: Er, der auch um den Nach­wuchs be­müht sein will, nimmt ak­tu­ell mit je­dem Auf­tritt ei­nem jün­ge­ren Kol­le­gen die Mög­lich­keit, in die­sen für Opern­künst­ler ex­trem schwie­ri­gen Co­ro­na-Zei­ten sein Me­tier aus­zu­üben und Geld zu ver­die­nen. Nein, ich gra­tu­lie­re nicht.

Nach­trag vom 23. Ja­nu­ar: Wie dem On­line­mer­ker zu ent­neh­men ist, war der  „Nabucco“-Livestream eher eine Far­ce. Re­na­te Wag­ner schreibt, dass der Be­ginn von 16.30 Uhr still­schwei­gend erst auf 20 Uhr, dann auf 20.30 Uhr ge­än­dert wur­de. Und wei­ter: Der Di­rek­tor kam vor den Vor­hang, sag­te et­was von un­zu­rei­chen­der Vor­be­rei­tungs­zeit und dass man für die Auf­zeich­nung mög­li­cher­wei­se un­ter­bre­chen wür­de. Kurz, be­vor er sei­nen Star aufs Tra­pez schick­te, spann­te er ihm ge­wis­ser­ma­ßen ein Si­cher­heits­netz… Ob man die Auf­füh­rung „be­ar­bei­tet“ hat? Man weiß es nicht, es gab ja ei­ni­ge Zeit für mög­li­che Kor­rek­tu­ren. Es ist auch egal, es wird ja nicht ech­tes „Live“ vorgelogen…

Nach­trag vom 25. Ja­nu­ar: Wer sich „Na­buc­co“ an­se­hen möch­te: Am 28. Ja­nu­ar 2021 um 19 Uhr wird auf wie​ner​-staats​oper​.at ein kos­ten­lo­ser Stream wie­der­holt. Wer dort erst­mals streamt, muss sich vor­her re­gis­trie­ren.