Am Sonntag feierte die „Parsifal“-Neuinszenierung von Kirill Serebrennikov an der Wiener Staatsoper ihre Online-Premiere. Die Aufzeichnung kann bei Arte Concert bis Mitte Juli kostenlos gestreamt werden. Es lohnt sich, mit Einschränkungen.
Richard Wagners letztes Bühnenwerk „Parsifal“ spielte sich auch an der Wiener Staatsoper schon in den verschiedensten Szenarien ab – zuletzt wenig erfolgreich sogar in einer Nachahmung der dortigen, von Otto Wagner gebauten Steinhof-Psychiatrie –, in einem Gefängnis aber bislang noch nicht. Dem hat jetzt Kirill Serebrennikov publicityträchtig abgeholfen. Mit unterschiedlichem Ertrag und wohlgemerkt in Abwesenheit und per Videoschalten, denn der in einem international kritisierten Prozess zu einer Bewährungs- und Geldstrafe verurteilte Regisseur darf nach wie vor nicht aus Russland nicht ausreisen.
In dem vom Komponisten so bezeichneten Bühnenweihfestspiel geht es kurz gesagt um die Veruntreuung des Göttlichen bei den Menschen und um den mühseligen Versuch des Titelhelden, dies wiedergutzumachen (eine Definition, die Hugo Scholter zu danken ist). In der nicht nur wegen der Pandemie unter erschwerten Bedingungen entstandenen Neuinszenierung, die am Sonntag ihre Online-Premiere feierte, lassen sich Wagners Handlung und Figuren jedoch nur teilweise (wieder-)erkennen. Von der Text-Bild-Schere ganz zu schweigen.
Zwar legt der Inszenator seinen Fokus auch auf das Mitgefühl, das vielzitierte Mitleid, aber in erster Linie sieht er eine auseinanderdividierte Männer- und Frauengesellschaft im Spannungsfeld zwischen ideologischem und konkretem Eingesperrtsein und der von allen ersehnten Freiheit. Ein Konzept, das nicht aufgeht, nicht aufgehen will – zumal es darauf angelegt scheint, in mehreren Erzählebenen möglichst viel auf den Kopf und zusätzliche Beine zu stellen.
Das Geschehen läuft als Rückschau des gealterten Titelhelden (Tenor Jonas Kaufmann) ab, der sein jugendliches Alter Ego (Schauspieler Nikolay Sidorenko) empathisch bei dessen Abenteuern begleitet. Das funktioniert, wenn man sich daran gewöhnt hat, überraschend gut, bleibt aber insofern unbefriedigend, als sich in den Interaktionen der beiden Parsifal-Figuren nicht immer Logik erkennen lässt. Leider bleibt es nicht bei der Verdoppelung der Titelfigur. Auch Parsifals Mutter Herzeleide bekommt einen Auftritt, und zwar gleich in dreifacher Form.
Zweifellos versteht der Regisseur sein Handwerk. Er führt die Protagonisten präzise, immer wieder überraschend und psychologisch durchaus faszinierend, weiß auch die Chormassen individuell und strukturiert zu bewegen. Viele Einfälle und Details sind bestechend – so findet schon der erste Auftritt Titurels nur im Kopf bzw. den Gehörgängen des lebensmüden Amfortas (Ludovic Tézier) statt.
Ungewöhnlich, rätselhaft, ungemein dicht und am spannendsten gelingt der 2. Akt, der in einem Redaktionsloft (Bühnenbild und Kostüme: ebenfalls Serebrennikov) spielt. Schon der erste Klageruf der Foto-Journalistin Kundry (Elīna Garanča) geht unter die Haut, ist aber auf verschütteten Kaffee zurückzuführen. In den noch heißeren Verführungsszenen leuchtet dann ein, warum Parsifal ein jüngeres Double braucht. Ha, dieser – nicht nur eine – Kuss! Den vergisst man nicht so schnell, und er macht wirklich welthellsichtig! Das ist umwerfend, großartig und wirkt in etwa so direkt wie das von Patrice Chéreau für den Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ genial inszenierte gegenseitige Begehren von Siegmund und Sieglinde.
Bei Serebrennikov ist die Blumenmädchenszene, die in Kundrys Kuss gipfelt, endlich einmal keine wie auch immer geartete Männerphantasie, die sie naturgemäß schon bei ihrem Schöpfer Wagner war. In der Hochglanzmagazin-Gegenwelt Klingsors (Wolfgang Koch) werden manche Klischees krachend an die Wand gefahren: Hier „verführen“ die geschäftigen Frauen den Mann nicht wie sonst, indem sie sich ihm willig verfügbar machen oder sich gar missbrauchen lassen. Sondern umgekehrt weckt der junge und gut gebaute Parsifal als halbnackter Coverboy, ob er will oder nicht, erotische Wünsche, deren Erfüllung Kundry, Befehl hin oder her, entschlossen für sich einfordert.
Fraglos funktioniert das deshalb so glaubhaft, weil die Besetzung mit der ohnehin überaus attraktiven und auch verführerisch auftretenden Kundry-Sängerin sowie dem fast jugendlichen Schauspielerdouble die Kamera hautnah dabei sein lässt. Ob das auch so intensiv auf die Zuschauer wirkt, wenn es wieder „normale“ Aufführungen gibt, wo der Abstand ungleich größer ist? Ohnehin lässt sich von der Online-Version her schwer beurteilen, wie das Zusammenspiel der drei Ebenen – die Vorderbühne vor allem für den zurückschauenden Parsifal, die von Franck Evin kunstvoll ausgeleuchtete Hauptbühne fürs Geschehen und darüber drei parallel bespielte Videowände – tatsächlich abläuft.
Warum Kundry am Ende des 2. Akts den Harvey Weinstein-Verschnitt Klingsor abknallt, versteht sich einerseits auf Anhieb. Andererseits aber kann und darf durchaus auch weiter gedacht werden, denn sowohl die scheinbar emanzipierten, coolen Frauen des 2. Akts als auch die kraftmeierischen und auf ihre Tattoos fixierten Macho-Häftlinge im 1. Akt sind jeweils Gefangene in ihrer Welt.
Dagegen stehen andere Ideen, die einfach nicht gut durchdacht, oberflächlich oder ärgerlich sind, Regiemoden eben. Und mit den Gewalt- und Körperertüchtigungs-Stunts im Männerknast stößt der Szeniker sicher nicht nur deshalb an seine Grenzen, weil ein echter Gesamteindruck von der Probenarbeit ausschließlich per Videostream nicht möglich ist. Es gibt Vorgänge – ach, der Schwan! –, die eignen sich nicht zur wie auch immer gearteten Ästhetisierung.
Glaubenssymbole kommen zuerst nur in Carepaketen vor, sind aber auch insofern da, als Oberhäftling Gurnemanz (Georg Zeppenfeld) sie in die Haut der Knackis tätowiert, was die Videos über dem Bühnengeschehen allzu reichlich spiegeln, wenn sie nicht gerade in einer winterlichen Kirchenruine tatsächlich zur kontemplativen, ja spirituellen Ruhe kommen. In der ebenfalls pervertierten Gegenwelt Klingsors hingegen werden sie zum Ausstattungs- und Design-Accessoire degradiert. Erst im 3. Akt geben abgehärmte (russische?) Mütterchen ihnen Funktion und Würde zurück.
Die Gefängnis-Metaphorik und die utopische Schlusslösung mag man dem selbst verfolgten Regisseur zwar zugestehen und nachsehen, aber Wagners „Parsifal“ erschließt sich letztlich nicht als Befreiungsoper à la „Fidelio“. Trotzdem ist die Aufführung sehenswert und von hohem Rang, was wesentlich auch an der luxuriösen Solistenschar, dem guten Chor und der superben musikalischen Interpretation liegt.
Der neue Staatsopernintendant Bogdan Roščić hat altbekannte Wagnerweltstars wie Kaufmann, Koch und Zeppenfeld engagiert, dazu mit Garanča und Tézier zwei Rollenneulinge, die sofort Maßstäbe setzen. Und Philippe Jordan, den viele Wagnerianer auch von seinen Bayreuth-Dirigaten her kennen, gibt mit dieser Neuproduktionen seinen fulminanten Einstand in seiner jetzigen Wirkungsstätte. Dass das Orchester der Wiener Staatsoper seinen neuen Chef mag, ist nicht zu überhören – ob es nun um Transparenz, die fein austarierten Abmischungen, um die Fülle von Klangfarben, um dynamische Delikatesse, viel Helligkeit und luzide Schönheit geht, um eine Klangpracht und -fülle auch, die allerdings an keiner Stelle zu Lasten der Gesangsstimmen geht (soweit sich das bei einer Aufzeichnung beurteilen lässt).
Auch wenn Elīna Garančas Kundry auf Anhieb ein sängerdarstellerischer Coup, ein Meilenstein in der jüngeren Aufführungsgeschichte ist, gebührt die Gralskrone eindeutig Georg Zeppenfeld als Gurnemanz. Denn er kann dank seines großen Könnens und seiner immensen Wagner- und Rollenerfahrung souverän die feinsten Stimmnuancen herausarbeiten, und seine Wortverständlichkeit erreicht selbst unter Bassisten langsam den Rang von Einzigartigkeit. Eine bravouröse Leistung, der die Wagner-Debütantin Garanča mit jeder stattfindenden Aufführung ein Stück näher kommen wird.
Allein ihretwegen lohnte jede Fahrt nach Wien. Was für eine Kundry! Schon ihre Schreie sind ganz außergewöhnlich, eben keine Sängerinnen-Schreie, sondern mutig herausgewürgte Urlaute (wozu sie vermutlich vom stets auch szenisch und psychologisch denkenden Dirigenten ermutigt wurde). In ihrer Mimik, ihren mal weltfern kalten, dann wieder schmerzlich warmen Augen, in ihrer Körpersprache spiegelt sich der Wahnsinn und die Zeitlosigkeit dieser Figur durchgängig in einer staunenswerten Sinnfälligkeit. Freilich stehen ihr mit Jonas Kaufmann und Nikolay Sidorenko auch zwei Parsifal-Partner zur Verfügung, die dieser außergewöhnlichen Interpretation gewachsen sind und sich ihr uneitel in Dienst stellen. Und für alle Mitwirkenden gilt: Das gegenseitige Vertrauen während der Proben und der nur von handverlesenen Kritikern besuchten Aufführung am 18. April war und ist bewundernswert groß, denn in diesem „Parsifal“ gelten keinerlei Corona-Abstandsregeln, weder auf der Bühne noch im Graben. Was für eine Leistung!
Bis 17. Juli als kostenloser Stream auf Arte Concert
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