„Ha – dieser Kuss! …“

Am Sonn­tag fei­er­te die „Parsifal“-Neuinszenierung von Ki­rill Ser­ebren­ni­kov an der Wie­ner Staats­oper ihre On­line-Pre­mie­re. Die Auf­zeich­nung kann bei Arte Con­cert bis Mit­te Juli kos­ten­los ge­streamt wer­den. Es lohnt sich, mit Einschränkungen.

Sze­ne aus dem 2. Akt „Par­si­fal“ mit Elī­na Ga­ranča (Kundry), Ni­ko­lay Si­do­ren­ko (Der da­ma­li­ge Par­si­fal) und Am­for­tas (Lu­do­vic Té­zier) Alle Sze­nen­fo­tos: Wie­ner Staatsoper/​Michael Pöhn

Ri­chard Wag­ners letz­tes Büh­nen­werk „Par­si­fal“ spiel­te sich auch an der Wie­ner Staats­oper schon in den ver­schie­dens­ten Sze­na­ri­en ab – zu­letzt we­nig er­folg­reich so­gar in ei­ner Nach­ah­mung der dor­ti­gen, von Otto Wag­ner ge­bau­ten Stein­hof-Psych­ia­trie –, in ei­nem Ge­fäng­nis aber bis­lang noch nicht. Dem hat jetzt Ki­rill Ser­ebren­ni­kov pu­bli­ci­ty­träch­tig ab­ge­hol­fen. Mit un­ter­schied­li­chem Er­trag und wohl­ge­merkt in Ab­we­sen­heit und per Vi­deo­schal­ten, denn der in ei­nem in­ter­na­tio­nal kri­ti­sier­ten Pro­zess zu ei­ner Be­wäh­rungs- und Geld­stra­fe ver­ur­teil­te Re­gis­seur darf nach wie vor nicht aus Russ­land nicht ausreisen.

In dem vom Kom­po­nis­ten so be­zeich­ne­ten Büh­nen­weih­fest­spiel geht es kurz ge­sagt um die Ver­un­treu­ung des Gött­li­chen bei den Men­schen und um den müh­se­li­gen Ver­such des Ti­tel­hel­den, dies wie­der­gut­zu­ma­chen (eine De­fi­ni­ti­on, die Hugo Schol­ter zu dan­ken ist). In der nicht nur we­gen der Pan­de­mie un­ter er­schwer­ten Be­din­gun­gen ent­stan­de­nen Neu­in­sze­nie­rung, die am Sonn­tag ihre On­line-Pre­mie­re fei­er­te, las­sen sich Wag­ners Hand­lung und Fi­gu­ren je­doch nur teil­wei­se (wieder-)erkennen. Von der Text-Bild-Sche­re ganz zu schweigen.

Zwar legt der In­sze­na­tor sei­nen Fo­kus auch auf das Mit­ge­fühl, das viel­zi­tier­te Mit­leid, aber in ers­ter Li­nie sieht er eine aus­ein­an­der­di­vi­dier­te Män­ner- und Frau­en­ge­sell­schaft im Span­nungs­feld zwi­schen ideo­lo­gi­schem und kon­kre­tem Ein­ge­sperrt­sein und der von al­len er­sehn­ten Frei­heit. Ein Kon­zept, das nicht auf­geht, nicht auf­ge­hen will – zu­mal es dar­auf an­ge­legt scheint, in meh­re­ren Er­zähl­ebe­nen mög­lichst viel auf den Kopf und zu­sätz­li­che Bei­ne zu stellen.

Das Ge­sche­hen läuft als Rück­schau des ge­al­ter­ten Ti­tel­hel­den (Te­nor Jo­nas Kauf­mann) ab, der sein ju­gend­li­ches Al­ter Ego (Schau­spie­ler Ni­ko­lay Si­do­ren­ko) em­pa­thisch bei des­sen Aben­teu­ern be­glei­tet. Das funk­tio­niert, wenn man sich dar­an ge­wöhnt hat, über­ra­schend gut, bleibt aber in­so­fern un­be­frie­di­gend, als sich in den In­ter­ak­tio­nen der bei­den Par­si­fal-Fi­gu­ren nicht im­mer Lo­gik er­ken­nen lässt. Lei­der bleibt es nicht bei der Ver­dop­pe­lung der Ti­tel­fi­gur. Auch Par­si­fals Mut­ter Her­ze­lei­de be­kommt ei­nen Auf­tritt, und zwar gleich in drei­fa­cher Form.

Zwei­fel­los ver­steht der Re­gis­seur sein Hand­werk. Er führt die Prot­ago­nis­ten prä­zi­se, im­mer wie­der über­ra­schend und psy­cho­lo­gisch durch­aus fas­zi­nie­rend, weiß auch die Chor­mas­sen in­di­vi­du­ell und struk­tu­riert zu be­we­gen. Vie­le Ein­fäl­le und De­tails sind be­stechend – so fin­det schon der ers­te Auf­tritt Ti­tu­rels nur im Kopf bzw. den Ge­hör­gän­gen des le­bens­mü­den Am­for­tas (Lu­do­vic Té­zier) statt.

Un­ge­wöhn­lich, rät­sel­haft, un­ge­mein dicht und am span­nends­ten ge­lingt der 2. Akt, der in ei­nem Re­dak­ti­ons­loft (Büh­nen­bild und Kos­tü­me: eben­falls Ser­ebren­ni­kov) spielt. Schon der ers­te Kla­ge­ruf der Foto-Jour­na­lis­tin Kundry (Elī­na Ga­ranča) geht un­ter die Haut, ist aber auf ver­schüt­te­ten Kaf­fee zu­rück­zu­füh­ren. In den noch hei­ße­ren Ver­füh­rungs­sze­nen leuch­tet dann ein, war­um Par­si­fal ein jün­ge­res Dou­ble braucht. Ha, die­ser – nicht nur eine – Kuss! Den ver­gisst man nicht so schnell, und er macht wirk­lich welthell­sich­tig! Das ist um­wer­fend, groß­ar­tig und wirkt in etwa so di­rekt wie das von Pa­tri­ce Ché­reau für den Bay­reu­ther Jahrhundert-„Ring“  ge­ni­al in­sze­nier­te ge­gen­sei­ti­ge Be­geh­ren von Sieg­mund und Sieglinde.

Bei Ser­ebren­ni­kov ist die Blu­men­mäd­chen­sze­ne, die in Kundrys Kuss gip­felt, end­lich ein­mal kei­ne wie auch im­mer ge­ar­te­te Män­ner­phan­ta­sie, die sie na­tur­ge­mäß schon bei ih­rem Schöp­fer Wag­ner war. In der Hoch­glanz­ma­ga­zin-Ge­gen­welt Klings­ors (Wolf­gang Koch) wer­den man­che Kli­schees kra­chend an die Wand ge­fah­ren: Hier „ver­füh­ren“ die ge­schäf­ti­gen Frau­en den Mann nicht wie sonst, in­dem sie sich ihm wil­lig ver­füg­bar ma­chen oder sich gar miss­brau­chen las­sen. Son­dern um­ge­kehrt weckt der jun­ge und gut ge­bau­te Par­si­fal als halb­nack­ter Co­ver­boy, ob er will oder nicht, ero­ti­sche Wün­sche, de­ren Er­fül­lung Kundry, Be­fehl hin oder her, ent­schlos­sen für sich einfordert.

Frag­los funk­tio­niert das des­halb so glaub­haft, weil die Be­set­zung mit der oh­ne­hin über­aus at­trak­ti­ven und auch ver­füh­re­risch auf­tre­ten­den Kundry-Sän­ge­rin so­wie dem fast ju­gend­li­chen Schau­spie­ler­dou­ble die Ka­me­ra haut­nah da­bei sein lässt. Ob das auch so in­ten­siv auf die Zu­schau­er wirkt, wenn es wie­der „nor­ma­le“ Auf­füh­run­gen gibt, wo der Ab­stand un­gleich grö­ßer ist? Oh­ne­hin lässt sich von der On­line-Ver­si­on her schwer be­ur­tei­len, wie das Zu­sam­men­spiel der drei Ebe­nen – die Vor­der­büh­ne vor al­lem für den zu­rück­schau­en­den Par­si­fal, die von Franck Evin kunst­voll aus­ge­leuch­te­te Haupt­büh­ne fürs Ge­sche­hen und dar­über drei par­al­lel be­spiel­te Vi­deo­wän­de – tat­säch­lich abläuft.

War­um Kundry am Ende des 2. Akts den Har­vey Wein­stein-Ver­schnitt Klings­or ab­knallt, ver­steht sich ei­ner­seits auf An­hieb. An­de­rer­seits aber kann und darf durch­aus auch wei­ter ge­dacht wer­den, denn so­wohl die schein­bar eman­zi­pier­ten, coo­len Frau­en des 2. Akts als auch die kraft­meie­ri­schen und auf ihre Tat­toos fi­xier­ten Ma­cho-Häft­lin­ge im 1. Akt sind je­weils Ge­fan­ge­ne in ih­rer Welt.

Da­ge­gen ste­hen an­de­re Ideen, die ein­fach nicht gut durch­dacht, ober­fläch­lich oder är­ger­lich sind, Re­gie­mo­den eben. Und mit den Ge­walt- und Kör­per­er­tüch­ti­gungs-Stunts im Män­ner­knast stößt der Sze­ni­ker si­cher nicht nur des­halb an sei­ne Gren­zen, weil ein ech­ter Ge­samt­ein­druck von der Pro­ben­ar­beit aus­schließ­lich per Vi­deo­stream nicht mög­lich ist. Es gibt Vor­gän­ge – ach, der Schwan! –, die eig­nen sich nicht zur wie auch im­mer ge­ar­te­ten Ästhetisierung.

Glau­bens­sym­bo­le kom­men zu­erst nur in Ca­re­pa­ke­ten vor, sind aber auch in­so­fern da, als Ober­häft­ling Gurn­emanz (Ge­org Zep­pe­n­feld) sie in die Haut der Kna­ckis tä­to­wiert, was die Vi­de­os über dem Büh­nen­ge­sche­hen all­zu reich­lich spie­geln, wenn sie nicht ge­ra­de in ei­ner win­ter­li­chen Kir­chen­rui­ne tat­säch­lich zur kon­tem­pla­ti­ven, ja spi­ri­tu­el­len Ruhe kom­men. In der eben­falls per­ver­tier­ten Ge­gen­welt Klings­ors hin­ge­gen wer­den sie zum Aus­stat­tungs- und De­sign-Ac­ces­soire de­gra­diert. Erst im 3. Akt ge­ben ab­ge­härm­te (rus­si­sche?) Müt­ter­chen ih­nen Funk­ti­on und Wür­de zurück.

Die Ge­fäng­nis-Me­ta­pho­rik und die uto­pi­sche Schluss­lö­sung mag man dem selbst ver­folg­ten Re­gis­seur zwar zu­ge­ste­hen und nach­se­hen, aber Wag­ners „Par­si­fal“ er­schließt sich letzt­lich nicht als Be­frei­ungs­oper à la „Fi­de­lio“. Trotz­dem ist die Auf­füh­rung se­hens­wert und von ho­hem Rang, was we­sent­lich auch an der lu­xu­riö­sen So­lis­ten­schar, dem gu­ten Chor und der su­per­ben mu­si­ka­li­schen In­ter­pre­ta­ti­on liegt.

Der neue Staats­opern­in­ten­dant Bog­dan Roščić hat alt­be­kann­te Wag­ner­welt­stars wie Kauf­mann,  Koch und Zep­pe­n­feld en­ga­giert, dazu mit Ga­ranča und Té­zier zwei Rol­len­neu­lin­ge, die so­fort Maß­stä­be set­zen. Und Phil­ip­pe Jor­dan, den vie­le Wag­ne­ria­ner auch von sei­nen Bay­reuth-Di­ri­ga­ten her ken­nen, gibt mit die­ser Neu­pro­duk­tio­nen sei­nen ful­mi­nan­ten Ein­stand in sei­ner jet­zi­gen Wir­kungs­stät­te. Dass das Or­ches­ter der Wie­ner Staats­oper sei­nen neu­en Chef mag, ist nicht zu über­hö­ren – ob es nun um Trans­pa­renz, die fein aus­ta­rier­ten Ab­mi­schun­gen, um die Fül­le von Klang­far­ben, um dy­na­mi­sche De­li­ka­tes­se, viel Hel­lig­keit und lu­zi­de Schön­heit geht, um eine Klang­pracht und -fül­le auch, die al­ler­dings an kei­ner Stel­le zu Las­ten der Ge­sangs­stim­men geht (so­weit sich das bei ei­ner Auf­zeich­nung be­ur­tei­len lässt).

Auch wenn Elī­na Ga­rančas Kundry auf An­hieb ein sän­ger­dar­stel­le­ri­scher Coup, ein  Mei­len­stein in der jün­ge­ren Auf­füh­rungs­ge­schich­te ist, ge­bührt die Gral­skro­ne ein­deu­tig Ge­org Zep­pe­n­feld als Gurn­emanz. Denn er kann dank sei­nes gro­ßen Kön­nens und sei­ner im­mensen Wag­ner- und Rol­len­er­fah­rung sou­ve­rän die feins­ten Stimm­nu­an­cen her­aus­ar­bei­ten, und sei­ne Wort­ver­ständ­lich­keit er­reicht selbst un­ter Bas­sis­ten lang­sam den Rang von Ein­zig­ar­tig­keit. Eine bra­vou­rö­se Leis­tung, der die Wag­ner-De­bü­tan­tin Ga­ranča mit je­der statt­fin­den­den Auf­füh­rung ein Stück nä­her kom­men wird.

Al­lein ih­ret­we­gen lohn­te jede Fahrt nach Wien. Was für eine Kundry! Schon ihre Schreie sind ganz au­ßer­ge­wöhn­lich, eben kei­ne Sän­ge­rin­nen-Schreie, son­dern mu­tig her­aus­ge­würg­te Ur­lau­te (wozu sie ver­mut­lich vom stets auch sze­nisch und psy­cho­lo­gisch  den­ken­den Di­ri­gen­ten er­mu­tigt wur­de). In ih­rer Mi­mik, ih­ren mal welt­fern kal­ten, dann wie­der schmerz­lich war­men Au­gen, in ih­rer Kör­per­spra­che spie­gelt sich der Wahn­sinn und die Zeit­lo­sig­keit die­ser Fi­gur durch­gän­gig in ei­ner stau­nens­wer­ten Sinn­fäl­lig­keit. Frei­lich ste­hen ihr mit Jo­nas Kauf­mann und Ni­ko­lay Si­do­ren­ko auch zwei Par­si­fal-Part­ner zur Ver­fü­gung, die die­ser au­ßer­ge­wöhn­li­chen In­ter­pre­ta­ti­on ge­wach­sen sind und sich ihr un­ei­tel in Dienst stel­len. Und für alle Mit­wir­ken­den gilt: Das ge­gen­sei­ti­ge Ver­trau­en wäh­rend der Pro­ben und der nur von hand­ver­le­se­nen Kri­ti­kern be­such­ten Auf­füh­rung am 18. April war und ist be­wun­derns­wert groß, denn in die­sem „Par­si­fal“ gel­ten kei­ner­lei Co­ro­na-Ab­stands­re­geln, we­der auf der Büh­ne noch im Gra­ben. Was für eine Leistung!

Bis 17. Juli als kos­ten­lo­ser Stream auf Arte Con­cert