Dank Tagebuchschreiberin Cosima Wagner können wir nachvollziehen, was sie, ihr R. und die ganze Patchworkfamilie im Advent vor 150 Jahren erlebt haben.
Freitag 1ten [Dezember 1871] Herr Hartmann[1] schickt seine „Propheten“ mit vorangehendem Brief von R. und „Neidhart“ mit Brief von mir, was mir wahrhaft entsetzlich ist, da meine Abneigung vor Druck und Öffentlichkeit immer größer wird. R. findet meinen Brief gut und sagt scherzend, ich hätte noch den Vorzug, daß in dem meinigen keine Druckfehler, während in dem seinigen solche Sinn entstellenden vorgekommen seien. Er arbeitet an seiner Broschüre über die Geschichte des Ring des Nibelungen[2]. Abends Brief von Frau Wesendonck[3], die mich nicht verstanden hat und mich über Weltgeschichte belehrt, ihr Ton ärgert R. so, daß er will, daß ich ihr für Dienstag abschreibe[4]. Brief von Gräfin B.[5], es scheint, daß Lulu[6] hartnäckig gelogen hat, ich bin sehr traurig darüber und überlege, was zu tun, wie zu strafen. Abends Schopenhauer[7]; mit großer Freude. – Nachmittags wollten wir ausgehen, allein der Schrecken vor dem Draußen hielt uns daheim. R. wollte lieber mit mir bleiben und Schönes, Liebes mir sagen; abends aber schilt er mich, daß ich es so ernst mit Frau W. nehme, „du bist doch dumm“, sagt er, „aber das Verzweifelte daran ist, daß du bei deiner Dummheit so gescheit bist!“
[1] Johann Hartmann, vermutlich ein junger und dichtender Rechtspraktikant aus Würzburg, trat im Januar 1871 erstmals mit den Wagners in brieflichen Kontakt, indem er ihnen die gedruckte Geschichte seiner Erfahrungen mit dem Münchner Hoftheaterintendanten Karl von Perfall schickte. Im Februar folgte die Sendung seines Theaterstücks „Die Propheten“, das Wagner prompt nach Leipzig weiterempfehlen sollte und Cosima wie folgt beurteilte: „Es enthält ganz ausgezeichnete Scenen und ist zart und witzig, die Schwäche sind die Liebespaare und die 5 Akte, ich glaube, er hätte wohl getan, das Stück in drei Akte zu verkürzen.“ Anfang März teilte Hartmann mit, dass Baron Perfall ihm angeboten habe, sein Stück zu geben, wenn er seine Broschüre zurücknehmen wollte. „Ächt münchnerisch!“, stellt Cosima fest. „Der Dichter antwortet darauf nicht, was uns freut, ich schreibe ihm im Namen R.’s.“ Wenig später hat Hartmann sein Stück erstmals überarbeitet, was diesem immerhin zugutekommt, drei Monate darauf trifft unter anderem die nächste Umarbeitung seiner „Propheten“ in Tribschen ein, in „etwas tolpatschiger Art“. Cosima nimmt sich auch den neuen „Neidhart“-Text vor: „Viel Talent spricht darin aus, es ist mir aber unangenehm, und er selbst scheint ein wenig taktlos. Das ebenfalls beigelegte Stück „Röschen“ verrät ebenfalls „viel Talent, aber noch mehr Ungeschicklichkeit“, während es „R. gar wenig gefallen hat“. Am 1. Dezember schließlich folgt der im Selbstverlag erschienene Sammelband von Hartmanns dramatischen Dichtungen mit der endgültigen dreiaktigen Fassung von „Die Propheten“ sowie den Lustspielen „Neidhart“ und „Die Freimaurer“. Wie Cosima darauf geantwortet hat, ist im Tagebuch nicht festgehalten. Offenbar wollte Hartmann die prominenten Stellungnahmen für sein Fortkommen nutzen. War wohl vergeblich. Zwar findet am 17. April 1872 im Münchner Residenztheater immerhin die Uraufführung der „Propheten“ statt, sie ist aber ein Fiasko und wahrscheinlich die einzige Vorstellung. Im August 1872 wird Hartmann sich nochmals melden, diesmal mit einer „Päpstin Johanna“ und „zugleich als Captatio benevolentiae mit dem Vorschlag einer Krönung R.’s wie Petrarca – – elend!“ Cosima schickt ihm das Stück unkommentiert zurück, was der junge Möchtegern-Dichter offenbar mit einer pampigen Rückantwort quittiert.
[2] Diesen „Epilogischen Bericht über die Umstände und Schicksale, welche die Ausführung des Bühnenfestspiels ‚Der Ring des Nibelungen‘ bis zur Veröffentlichung der Dichtung desselben begleiteten“ beendete Wagner laut Otto Strobel am 7. Dezember 1871.
[3] Mathilde Wesendonck, geb. Luckemeyer (1828–1902), verheiratet mit Wagners Züricher Mäzen Otto Wesendonck, war Wagners „Tristan“-Muse und dichtete die Texte der nach ihr benannten Wesendonck-Lieder.
[4] Für 5. Dezember ist ein Besuch des Ehepaars Wesendonck in Tribschen geplant.
[5] Gräfin B. = Caroline Gräfin Waldbott von Bassenheim, geb. Prinzessin von Öttingen-Wallerstein (1824–1889). Sie lebte damals in unmittelbarer Nachbarschaft der Wagners in Tribschen und war vielfach eingebunden in das Familienleben.
[6] Lulu = Daniela von Bülow (1860–1940), Cosimas erste Tochter aus ihrer ersten Ehe mit Hans von Bülow.
[7] Arthur Schopenhauer (1788–1860), deutscher Philosoph, dessen Werk – vor allem „Die Welt als Wille und Vorstellung“ – Wagner nachhaltig beeinflusst hat. In der Frühphase ihrer Beziehung benutzten Cosima und Richard nicht umsonst die Decknamen Vorstel und Will, später sollte Schopenhauer in Form des Lenbach-Gemäldes seinen Ehrenplatz im Wahnfried-Salon hinter Wagners Schreibtisch bekommen.
Quellen: Cosima Wagner: Die Tagebücher: Band I, S. 1559. Digitale Bibliothek Band 107: Richard Wagner: Werke, Schriften und Briefe, S. 34720 (vgl. Cosima-Tagebücher 1, S. 464-465); Richard Wagner: Sämtliche Briefe, Band 23 (hg. v. Andreas Mielke); Otto Strobel: Richard Wagner. Leben und Schaffen. Eine Zeittafel.
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