Calixto Bieito realisiert mit dem herausragenden Heldentenor Andreas Schager in Wien eine bewegende Inszenierung von Richard Wagners „Tristan und Isolde“.
Was macht einen unvergesslichen Opernabend aus? Dem einen genügt es, einen Gesangs- oder Pultstar in seinem Zenit zu erleben, andere sind auf eine alte, in die Jahre gekommene, wieder andere auf eine neue, möglichst Epoche machende Regie aus. Alles zusammen in höchster Qualität passiert eh nur alle Jubeljahre. Auch bei der vierten Vorstellung der „Tristan“-Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper am 27. April 2022 war nicht alles perfekt. Aber es war eine Sternstunde des Musiktheaters.
Warum? Am besten lässt sich das über Andreas Schager beschreiben, der mir schon 2013 bei seinem Tristan-Debüt in Meiningen aufgefallen war als „unkaputtbarer“ Heldentenor. Das ist zwar kein schönes Wort, aber es spiegelt das Dilemma der meisten „Tristan“-Aufführungen: Es mangelt an Titelprotagonisten, die alle drei Akte voll aussingen können. Schager schafft das seit rund zehn Jahren sozusagen blind.
Und weil er außerdem ein Sänger ist, der selbst bei konzertanten Aufführungen – unvergessen sein „Götterdämmerung“-Siegfried mit den Bamberger Symphonikern in Luzern 2013 – mit schauspielerischem Furor auftritt, war er in Wien jetzt bei Regisseur Calixto Bieito und Dirigent Philippe Jordan genau in den richtigen Händen. Beide haben von ihm mehr als sonst gefordert, das Ergebnis ist ebenso eindringlich wie imponierend und geht unter die Haut.
Das fängt schon bei der Lautstärke an. Auch der neue Staatsopern-Musikdirektor scheint zumindest streckenweise auf klangliche Überwältigung aus zu sein. Sein an den Partitur-Eintragungen von Gustav Mahler orientiertes „Tristan“-Dirigat war oft laut. Vielleicht gab es bei der dynamischen Umsetzung den Denkfehler, dass die Streicher damals noch nicht auf Stahlsaiten spielten? Vielleicht ist Jordan, der mit den für Dirigenten durchaus vertrackten Verhältnissen im Bayreuther Orchestergraben sowohl bei „Parsifal“ als auch bei den „Meistersingern“ zurechtkam und überzeugte, noch nicht vertraut genug mit der Akustik des Wiener Opernhauses?
Andreas Schager, im kommenden Sommer der neue Jung-Siegfried in Bayreuth, ficht derlei nicht an. Er kann zwar, wenn es sein muss, auch leise singen, aber er ist nun mal ein stimmlicher Kraftmeier, wie es ihn im Wagnergesang nur höchst selten gibt. Hier, bei Jordan, darf er voll aussingen, ohne dass man ihn je als zu laut wahrnimmt. Bei aller Vehemenz vermag er aber auch, die Gebrochenheit der Figur in vielen selten zu hörenden Nuancen und Farben auszumalen.
Und weil er wie ein Besessener spielen darf und – ohne wasserscheu zu sein – spielen muss, gibt er einfach alles mit so viel Energie, dass es kaum auszuhalten ist. Schagers Tristan ist ein musiktheatralisches Elementarereignis. Er löst ein, was Wagner im April 1859 an seine damalige Muse Mathilde Wesendonck schrieb: „Kind! Dieser Tristan wird was furchtbares! Dieser letzte Akt!!! – – – – – – – Ich fürchte die Oper wird verboten – falls durch schlechte Aufführung nicht das Ganze parodirt wird –: nur mittelmässige Aufführungen können mich retten! Vollständig gute müssen die Leute verrückt machen, – ich kann mir’s nicht anders denken. So weit hat’s noch mit mir kommen müssen!! O weh! –“
Mich jedenfalls hat der 3. Akt verrückt gemacht. Wagner wäre über Schager beglückt gewesen, Regisseur Bieito war das sicher auch. Denn er konnte mit ihm und der sängerisch nicht ganz ebenbürtigen Isolde ein düsteres, auf Wahn-, Trug- und Traumbildern basierendes Konzept verwirklichen, das radikal das Innerste der Titelfiguren nach außen kehrt: Selbstvergessen und selbstzerstörerisch, in subtil inszenierten Blicken und Berührungen, rasen zwei unglückselige Nachtgestalten aufeinander zu, um sich im ersehnten Tod zu vollenden.
Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat die Bühne teilweise unter Wasser und im 1. Akt mit einer Vielzahl von Schaukeln in Bewegung gesetzt – ein melancholisches Szenarium mit surrealistischem Einschlag, der eingangs durch Kinder mit verbundenen Augen verstärkt wird. Die Liebesnacht des 2. Akts zeigt das Paar in getrennten, über dem Wasser schwankenden und schwebenden Räumen, deren Interieur beide peu à peu zerlegen – eine Grundidee, die konsequenter und weniger zerstörerisch zuvor von Jochen Biganzoli schon in Hagen und Halle an der Saale umgesetzt wurde.
Der 3. Akt ist ein Bild der Verwüstung und zeigt zunächst gleichzeitig ein Paradies: Vor der abstrakten Rückwand formieren sich nackte Statisten und stellen – in aller Unschuld und ohne peinlich zu wirken – einfach Liebende aller Art dar. Hier, in Tristans Fiebertraum, gibt es keine gesellschaftlichen Hürden mehr, keine festgezurrten Rollen- und Geschlechterbilder, keine Vorurteile, keinen Rassismus.
Dass es um eine Liebe geht, die sich nicht leben lässt, illustriert unter anderem Brangäne, die im 2. Akt fachmännisch zwei Fische entschuppt und ausnimmt – ein beinahe biblisches Bild, das entsprechende Assoziationen auslöst, vorausgesetzt, das Publikum ist offen dafür. Die Rätsel, die bleiben – warum Marke mit zwei Kindern auftritt, erklärt sich nicht von selbst –, und die sich überlagernden Zeitebenen sind gleichwohl unaufdringlich vielsagend.
Die Kostüme von Ingo Krügler vergegenwärtigen dezent die Figuren. Martina Serafins Isolde erinnert wie von ungefähr an Catherine Deneuve in vielen ihrer Rollen. Auch stimmlich ist sie ungewöhnlich, weil weniger heroinenhaft. Manch großer Spitzenton machte ihr Mühe, ein kleiner Einwand, wenn man bedenkt, wie mutig und stringent auch sie das ungewöhnliche Konzept verkörpert.
Ekaterina Gubanova als spielfreudige Brangäne singt klangschön, aber wenig wortverständlich, auf hohem Niveau die Besetzung der kleineren Rollen und der unsichtbare Chor. Während Iain Paterson sich als empathischer Kurwenal der Spitzenklasse erweist, ist René Papes König Marke leider ein Schwachpunkt der Produktion. Es tat mir im Herzen weh zu hören, dass von seiner Prachtstimme offenbar nur noch Reste übrig zu sein scheinen. Die nächste kleine Aufführungsserie (mit zwei Umbesetzungen) dieses ganz großen Wagnerabends folgt im Februar 2023.
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