Ein sängerdarstellerisches Ereignis: Im neuen „Ring“ an der Lindenoper sind gleich mehrere Protagonisten am Gipfel ihrer großen Kunst. Die Premieren gibt es live beim rbb und in der ARD-Audiothek.
So sieht es aus, wenn Wotan, der herrische Gott, ausrastet und Michael Volle ihn verkörpert. Das Foto lässt sofort erkennen, dass hier keine herkömmliche Oper stattfindet, sondern ein theatralisches Elementarereignis. Das hat zum einen damit zu tun, dass Michael Volle – mein „Jahrhundert-Sachs“ – sich auch mit seinen 62 Jahren am Gipfel seiner überbordend reichen stimmlichen und schauspielerischen Ausdrucksmöglichkeiten befindet. Und zum anderen damit, dass mit Dmitri Tcherniakov ein Regisseur ihn in seiner psychologisch und physisch sehr genauen und in sich stimmigen Personenführung zum Äußersten treibt, ja zur Ent-Äußerung. Das Atemberaubende am neuen Berliner „Ring“ ist jedoch, dass diese unglaubliche musiktheatralische Qualität nicht nur bei Wotan gegeben ist, sondern beim Gros der Hauptsolisten.
Einmal mehr muss mit Volle im gleichen Atemzug Johannes Martin Kränzle genannt werden, der in Berlin – ja, auch bei ihm gilt das große Wort – einen Jahrhundert-Alberich singt und spielt. Wer sonst würde es schaffen, fast eine ganze „Rheingold“-Szene lang sehr glaubhaft zu vermitteln, dass das, was Wagner im Libretto beschreibt, real nicht stattfindet und nur Alberich sehen kann, der mit einer Virtual-Reality-Brille ausgestattete Probant in Wotans Verhaltensforschungsinstitut? Und wer hätte gedacht, dass Anja Kampe ihren erst zweiten Brünnhildeneinsatz so wunderbar klar, sicher und stimmschön bewältigen würde – ganz zu schweigen von ihrer darstellerischen Wahrhaftigkeit, die allen, die Augen im Kopf haben, zu Herzen gehen muss. Wie herrlich ist der nicht vorhandene Feuerzauber, den die eifrige Tochter spielerisch so zwingend umsetzt, dass der herrische, aber auch liebende Vater sich gerne instrumentalisieren lässt. Nein, hier wird endlich sichtbar, dass das Ritual am Ende des 3. Akts „Walküre“ nichts Erhebendes ist, sondern einfach nur furchtbar traurig.
Vida Miknevičiūtė ist als Sieglinde ein mindestens so raumfüllendes Ereignis wie sonst nur Lise Davidsen. Und sie spielt um ihr Leben in diesem unwirklichen und voyeuristischen Zuhause, in dem Hunding, der Polizist, das Sagen hat und gewohnt ist sich zu nehmen, wann und was er will. Mika Kares – auch sein Fasolt ist eine Glanzleistung – tut nicht gefährlich. Er ist es eher beiläufig, unter dem Deckmantel des brav seine Pflicht erfüllenden Beamten. Nicht zu vergessen Claudia Mahnkes Fricka: Ja, natürlich hat sie Recht. Aber ihre Entschiedenheit, mit der sie Wotan in die Enge treibt, ist ein Höhepunkt für sich. Ein harmloses Schreibwerkzeug genügt als Waffe, der Eid wird zu Unterschrift.
Unter den großartigen Hauptsolisten in der „Walküre“ fällt nur einer aus dem Rahmen: Robert Watson kann als Siegmund leider das gegebene Höchstniveau nur ansatzweise erreichen. Es fehlt ihm vor allem an Stimmvolumen, darstellerisch gibt er sich zwar größte Mühe, kann aber nicht überzeugen – zumindest mich nicht. Die gnadenlosen Buhrufe hat er allerdings, genauso wie übrigens Rolando Villazón als stimmlich klar überforderter „Rheingold“-Loge, nicht verdient. Sänger im Wagnerfach sind mehrfach talentierte Höchstleistungssportler, deren Können, Disziplin, Intuition, Musikalität, Konzentration, Stimm- und Darstellungskraft weitaus länger gefordert sind als zum Beispiel Vergleichbares bei einem Leichtathleten. Buht man einen guten Hochspringer, wenn er die Latte wirft?
Über alles Weitere berichte ich vermutlich nach der „Götterdämmerung“. Einstweilen sei festgestellt, dass es etwas nervt, wie Teile des Publikums und der Kritiker so tun, als wäre das Faszinierende an dem neuen Berliner „Ring“ nur deshalb zustande gekommen, weil Christian Thielemann für Daniel Barenboim eingesprungen ist. Ich würde eher sagen: mitnichten. Natürlich ist er zweifellos ein sehr guter und besonders kundiger Wagnerdirigent, aber er bringt mit seinen überzogenen Längen selbst die über alle Zweifel erhabenen Solisten in Schwierigkeiten. Das ist Dirigenten-Eitelkeit. Und die war noch nie sachdienlich. Wahrscheinlich wird der zweite „Ring“-Zyklus unter Thomas Guggeis, der die Produktion, deren Timing szenisch sehr genau und diffizil ist, mit einstudiert hat, musikalisch sogar besser ausfallen. Karten gibt es noch für diesen ganzen Zyklus, Einzelkarten erst wenige Tage vor der Aufführung. Es lohnt sich unbedingt, denn keine noch so toll realisierte Aufzeichnung kann eine selbst erlebte Aufführung ersetzen!
Der gesamte Premieren-Zyklus wird von rbbKultur live im Radio übertragen und zudem live in der ARD Audiothek gestreamt. Danach ist er auf rbbKultur.de und in der ARD-Audiothek zum Nachhören abrufbar.
ARTE zeigt „Das Rheingold“ am 29. Oktober 2022 um 21.45 Uhr live zeitversetzt im TV und online. Der ganze „Ring“ wird im Rahmen der aktuellen Saison ARTE Opera ab dem 19. November 2022 europaweit mehrere Wochen auf arte.tv/concert abrufbar sein. Wer Szenenfotos der Aufführungen sehen will, findet sie hier.
Besuchte Premieren am 2. und 3. Oktober 2022
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