Hier Links zu meiner Auswahl an Premierenkritiken mit ein paar Anmerkungen sowie Tipps für alle, die die „Parsifal“-Neuinszenierung noch im Festspielhaus erleben werden.
Im Vorfeld der Premiere antwortete „Parsifal“-Regisseur Jay Scheib auf die Frage, ob er wegen der reduzierten AR-Brillenzahl zwei Inszenierungen oder eine mit gewissen Ergänzungen zeige: „Auch ohne Brille hat der Zuschauer eine volle Inszenierung gesehen. Es gibt zwei unterschiedliche Inszenierungen, beide sind komplett.“ Nachdem ich bereits eine Aufführung mit AR-Brille erlebt sowie die Aufzeichnung gestreamt habe, muss ich etwas widersprechen: Eigentlich gibt es von Jay Scheibs „Parsifal“-Inszenierung drei Versionen, denn auch das, was man heute ab 20.15 Uhr auf 3sat im Fernsehen oder noch bis Jahresende kostenlos im Stream auf BR Klassik sehen kann (aus rechtlichen Gründen nur in Deutschland), ist etwas, das Festspielbesucher selbst von der ersten Parkettreihe aus so nicht sehen können. Die Kamera geht eben noch näher ran, was bekanntlich bei Opern nicht immer von Vorteil ist. Aber wenn Elīna Garanča ins Bild kommt, ist einem eigentlich alles recht. Aus guten Gründen – und am ausführlichsten bejubelt von Frank Piontek in seiner Kritik „Doppelbilder und -Frauen“ im Kulturbrief der Bayreuther Buchhandlung Breuer & Sohn.
Auch Jan Brachmann in der F.A.Z. (Bezahlschranke/Testzugang) widmet sich zuallererst der lettischen Sängerdarstellerin: „Die Erinnerung daran, dass sie den Heiland bei desse Kreuzigung verlachte, ist ein Sturz in den Schlund der eigenen Innerlichkeit, der hörbar wird im klarsichtigen Sprung vom hohen H fast zwei Oktaven abwärts zum tiefen Cis. Diese Frau manipuliert niemanden – sie betreibt unerschrockene Selbstanalyse und gewinnt dadurch ihre Souveränität als Subjekt zurück.“ Schon mit der Überschrift „Treibgut des Unterbewussten“ beschreibt der Kritiker anschaulich das AR-Brillen-Novum, bezeichnet die Produktion musikalisch als Glücksfall, szenisch thesenstark und anregend experimentierfreudig. Voll des Lobes ist er über das Dirigat von Pablo Heras-Casado, hebt hervor, dass man Andreas Schager in der Titelrolle „selten so innig, leise und nuanciert erlebt hat wie hier und prophezeit, dass Georg Zeppenfeld „mit dem Goldenen Gurnemanz oder dem Größten Gurnemanz aller Zeiten für die unschlagbare Perfektion in dieser Rolle“ ausgezeichnet werden wird.
Alexander Dick sieht die Inszenierung und den AR-Brillen-Einsatz unter dem Titel „World of Gralcraft?“ in der Badischen Zeitung eher kritisch. Was hingegen das Musikalische betrifft, jubelt der langjährige Bayreuth-Kenner: „Da ist dieser ‚Parsifal‘ das Beste, was Bayreuth seit langem zu bieten hatte. Und daran hat der Debütant am Grünen Hügel größten Anteil. Pablo Heras-Casado, zuletzt auch mit dem Freiburger Barockorchester künstlerisch so ertragreich, dirigiert einen in sich stimmigen, klanglich nah am Impressionismus à la Debussy orientierten ‚Parsifal‘.“ Übrigens auch einen der kürzesten, obwohl man das so gar nicht wahrnimmt: Der 1. Aufzug dauert nur eine Stunde vierzig Minuten, der 2. Akt 65 Minuten und der 3. Akt eineinviertel Stunden.
Markus Thiel vom Münchner Merkur schaut ziemlich ungnädig auf das Brillenspektakel, wobei ich ihm unbedingt recht geben möchte, dass die Zuspielungen ausgerechnet da versagen, wo die immersiven Möglichkeiten der realen Bühnentechnik überlegen sein sollten: bei den räumlichen Verwandlungsszenen. Wie schon in der Kritikerrunde des Bayerischen Rundfunks unmittelbar nach der Premiere stellt auch Christine Lemke-Matwey in der Zeit (Bezahlschranke/Testzugang) das Szenische in Frage: „Konzeptionelle Unentschiedenheiten sind das eine, eine Technologie, die tief in den Kinderschuhen steckt, ist das andere. Die eigentliche Hypothek der Aufführung aber liegt, man staune, in der erschwerten Zugänglichkeit der Musik.Die Sinne sind an diesem Abend schlicht überfordert. Und so schiebt sich das Auge vors Ohr. Das mag eine Frage der Übung und der Erfahrung sein. Aber geht so Immersion? Entspricht das Wagner?“ In der gedruckten Version liefert die Wochenzeitung nicht nur eine mit Schwan, Stiefmütterchen, Lilien, Blättern und Speeren garnierte Aufmachung der ganzseitigen Kritik, sondern quasi als Bonus auf der gegenüberliegenden Wissensseite unter dem Titel „Ohne Scham“ eine tolle Infografik zur Klitoris, die Joshua Higgason, der Videospezialist der Bayreuther „Parsifal“-Produktion, ohne weiteres einbauen könnte in das Gewimmel des 2. Akts. Und bei der Gelegenheit könnte er in seinem Bildprogramm auch gleich die Figur des männlichen Avatars updaten, denn Andreas Schager ist eindeutig weniger kompakt als Joseph Calleja, der zwei Wochen vor der Premiere die Partie des Titelhelden abgegeben hat.
Die Kritik von Manuel Brug in der Welt verlinke ich, damit erstens „Parsifal“ als Kinderoper eingebunden sei und zweitens vor allem deshalb, weil ich alle Leser davor warnen möchte, sich auf das Welt+-Angebot mit dem Live-Ticker und aktweisen Blitzkritiken von Peter Huth einzulassen. Nur wer wissen will, in welchen inhaltlichen und sprachlichen Absurditäten und Niederungen der angeblich zeitgemäße Journalismus inzwischen gelandet ist, möge sich das antun. Und noch ein Welt-Artikel von Manuel Brug, der, wenn man genau liest, über das Festspielprogramm der kommenden Jahre offenbar etwas mehr weiß, als bei der Festspielpressekonferenz gesagt wurde.
Mein Tipp für alle, die zum „Parsifal“ nach Bayreuth fahren: Schauen Sie sich vorher noch den kompletten Stream bei BR Klassik (oder die heutige TV-Sendung um 20.15 Uhr in 3sat) an, dann können Sie, falls Sie mit AR-Brille gebucht haben, es getrost auch wagen, sich weitgehend den digitalen Erweiterungen überlassen. Was auch heißt, dass Sie ihren Kopf immer wieder in alle Richtungen drehen und wenden, heben und senken sollten, denn dann eröffnen sich neue neue Bilder, neue Perspektiven, neue Möglichkeiten. Sogar ein bisschen interaktiv kann man dabei sein, man muss es einfach probieren! Bei der Einrichtung der Brille sollte unbedingt darauf geachtet werden, dass nicht nur die digitale Einspielung, sondern auch der reale Hintergrund scharf zu sehen ist. Die Brille ist links hinten am Sitzplatz in einem Beutel untergebracht und hängt an einem Kabel, was aber nicht weiter stört. Sie ist schwerer als übliche Sehhilfen, etwas warm und sehr dunkel (was durchaus an Parsifals „Weltenwahns Umnachten“ denken lässt, und das hat es im Erlebnisbericht zur „Parsifal“-Kinopremiere im Neuen Deutschland immerhin bis in die Überschrift gebracht!). Man kann die AR-Brille notfalls in den Pausen nachjustieren lassen, zusätzlich auch mit Silikon-Pads für den Brillensteg. Das Problem für Kurzsichtige ist trotz der passenden Linseneinstellung in der Brille eher, dass die AR-Reihen ganz hinten im Parkett sind (und teils in den Logen, Im Balkon und in der Galerie), das heißt, man bekommt schon wegen der Entfernung von der Bühne trotz großformatiger Live-Videos je nach Sitzplatz nur wenige mimische Details der Sängerdarsteller mit. Alle AR-brillenlosen Besucher sehen eine „normale“, überwiegend sehr hell beleuchtete Inszenierung und dürfen sich unbedingt darauf freuen, denn sie erleben – vorausgesetzt, die Besetzung bleibt von Indispositionen verschont – eine Festspielaufführung, die in jedem Fall ein musikalisches Juwel ist. Ich tippe mal, dass diese Produktion ein Bombenerfolg wird und es im nächsten Jahr noch ein paar hundert AR-Brillen mehr, aber nicht für alle Plätze geben wird. Denn wie es schon in der legendären „Parsifal“-Inszenierung von Christoph Schlingensief der Fall war: nicht alle im Publikum wollen sich einer ungewohnten Bilderflut ergeben.
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