„Das Haus ist das Instrument“

Mei­ne Fest­spiel­bi­lanz: Ein un­ver­gess­li­ches „Parsifal“-Erlebnis in der ers­ten Par­kett­rei­he, ein „Ring“, der sich für mich schön ge­run­det hat, und zwei Hü­gel-De­bü­tan­ten im Gra­ben, die vom Ge­sang her kom­men und da­mit hör­bar eine neue Qua­li­tät in die mu­si­ka­li­sche In­ter­pre­ta­ti­on einbringen.

Sel­fie mit AR-Brillen

Ein biss­chen spät. Aber nach Jahr­zehn­ten ta­ges­ak­tu­el­ler Be­richt­erstat­tung neh­me ich mir die Frei­heit, erst jetzt, nach­dem sich al­les in Ruhe set­zen konn­te, mei­ne Ein­drü­cke vom dies­jäh­ri­gen Fest­spiel­som­mer und ei­ni­ge An­mer­kun­gen nach­zu­rei­chen. Was den neu­en „Par­si­fal“ be­trifft, war mei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit der Neu­pro­duk­ti­on aus­ge­spro­chen in­ten­siv, denn ich habe die Pro­duk­ti­on auf sehr un­ter­schied­li­chen Plät­zen drei­mal im Fest­spiel­haus er­lebt und zu­sätz­lich zwei­mal zu­hau­se als Stream be­zie­hungs­wei­se in der TV-Über­tra­gung bei 3sat.

„Par­si­fal“ mit Brille
Die mit mei­nen Wer­ten ver­se­he­ne AR-Bril­le war im 1. Akt noch nicht op­ti­mal für die gleich­zei­ti­ge Fern­sicht auf die Büh­ne ein­ge­stellt, so­dass sich zeit­wei­se aus der 28. Par­kett­rei­he für mich eher eine Sta­tua­rik à la Ober­am­mer­gau (von anno da­zu­mal, also vor der Ära Chris­ti­an Stückl) er­gab. Erst im 2. Akt konn­te ich die rea­len Ge­sich­ter der So­lis­ten und die durch­aus vor­han­de­nen Blick­be­zie­hun­gen auch ohne die Live-Vi­de­os er­ken­nen. Die zu­sätz­li­chen 400 ver­schie­de­nen Views (Vi­deo und AR: Jo­shua Hig­gason), die ana­log zur Mu­sik suk­zes­si­ve auf der dunk­len Bril­le ein­ge­spielt wur­den, fand ich teils groß­ar­tig, teils ba­nal, teils klug, teils un­ver­ständ­lich. In­ten­siv nutz­te ich die Mög­lich­keit, im­mer wie­der den Kopf nach al­len Sei­ten zu dre­hen und zu wen­den, zu sen­ken und zu he­ben und über die Bril­le auch zu in­ter­agie­ren mit man­chen Bil­dern. Fa­zit: Zwei­fel­los ist Aug­men­ted Rea­li­ty für ein Thea­ter­er­leb­nis eine al­ler­dings noch sehr aus­bau­fä­hi­ge Er­wei­te­rung, ist eine auch spie­le­ri­sche Ein­be­zie­hung der Zu­schau­er, die rich­tig Spaß ma­chen kann. Aber es ist ge­ra­de erst ein An­fang ge­macht wor­den, ein ers­tes Her­an­tas­ten an das, was laut Re­gis­seur Jay Scheib durch den ra­san­ten Fort­schritt in die­sem Be­reich noch bald al­les mög­lich sein wird. Aus­ge­rech­net dort, wo man in „Par­si­fal“ am ehes­ten er­war­tet hät­te, dass die AR-Tech­nik mehr kann als das „nor­ma­le“ Thea­ter, näm­lich eine per­fek­te Büh­nen­bild­ver­wand­lung zum Kern­satz „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“, war heu­er – noch? – Fehl­an­zei­ge. Aber was nicht ist, kann ja noch wer­den. Es ist ein reiz­vol­les Ex­pe­ri­ment, das aber si­cher nur ei­nen Teil der Be­su­cher an­spricht. Ist viel­leicht kein Zu­fall, dass im Vor­ver­kauf für den nächs­ten Fest­spiel­som­mer wie­der nur 330 Bril­len­plät­ze aus­ge­wie­sen sind.

So sieht die un­ter dem Ge­stühl an­ge­brach­te Tech­nik aus, die das Film­ma­te­ri­al in die Bril­le lie­fert. Foto: Mo­ni­ka Beer

„Par­si­fal“ als Aufzeichnung
Die Auf­zeich­nung der Pre­mie­ren­vor­stel­lung, die ich im Fern­se­hen se­hen und strea­men konn­te, ver­mit­tel­te mir vor al­lem, dass die­ser „Par­si­fal“ ohne Spe­zi­al­bril­le wie eine eher her­kömm­li­che heu­ti­ge In­sze­nie­rung wirkt. Will hei­ßen: Von der Nähe be­trach­tet wirkt Jay Scheibs Per­so­nen­re­gie zwar in­ten­siv und durch­dacht – ein Ein­druck, der sich im Saal, je wei­ter man weg sitzt vom Ge­sche­hen, aber nicht un­be­dingt be­stä­tigt, denn hier fehl­te dem Re­gis­seur noch das Au­gen­merk für eine aus­ge­feil­te Kör­per­spra­che, die der Dy­na­mik des mu­si­ka­li­schen Ge­sche­hens ent­spricht. Die auch dar­stel­le­risch her­vor­ra­gend be­setz­te Pro­duk­ti­on lei­det in der Auf­zeich­nung zu­wei­len dar­un­ter, dass die TV-Re­gie be­zie­hungs­wei­se die Ka­me­ra­leu­te kein Ge­spür da­für ha­ben, dass die ge­ge­be­ne Dis­kre­panz zwi­schen dem rea­len Al­ter der So­lis­ten und dem zu­wei­len sehr viel jün­ge­ren Rol­len­pro­fil nach ei­nem ge­wis­sen Ab­stand ver­langt, den der Zu­schau­er im Saal nor­ma­ler­wei­se hat. Wäh­rend die Live-Vi­deo-Auf­nah­men – zum Bei­spiel gleich zu Be­ginn des 1. Akts von der Lie­bes­sze­ne zwi­schen Gurn­emanz und der nicht nä­her be­zeich­ne­ten Kundry­frau so­wie spä­ter von der Ver­sor­gung der Wun­de des Am­for­tas – mir selbst in ih­rer furcht­ba­ren Nähe durch­aus ein­leuch­ten, sind man­che „nor­ma­le“ Nah­auf­nah­men denn doch des Gu­ten zu­viel. Scha­de, denkt da nie­mand mit?

An­dre­as Schager als Par­si­fal und Elī­na Ga­ranča als Kundry – Foto: En­ri­co Nawrath/​Bayreuther Festspiele

„Par­si­fal“ auf dem Hörplatz 
Um Kundry Elī­na Ga­ranča in ei­ner Vor­stel­lung hö­ren zu kön­nen, habe ich mich um ei­nen Hör­platz be­müht. Plät­ze ohne Sicht oben in der Ga­le­rie wer­den nur am Auf­füh­rungs­tag di­rekt im Kar­ten­bü­ro ver­kauft; in der klei­nen Schlan­ge mor­gens kurz vor der Öff­nung um 10 Uhr stan­den vor al­lem Hör­platz-Aspi­ran­ten. Ein Platz ohne Sicht kos­tet im nächs­ten Jahr für die „Tristan“-Premiere 15 €, die wei­te­ren Auf­füh­run­gen der Neu­in­sze­nie­rung 13 € so­wie für alle an­de­ren Pro­duk­tio­nen 11 €. Hör­plät­ze bzw. Plät­ze mit ein­ge­schränk­ter Sicht hat­te ich zu­letzt mehr­fach für „Meistersinger“-Vorstellungen in der ge­nia­len In­sze­nie­rung von Bar­rie Kos­ky ge­nutzt so­wie für die letz­te „Ring“-Aufführung un­ter Ki­rill Pe­tren­ko 2015. Wenn mei­ne Er­in­ne­rung nicht trügt, gab es auf den rei­nen Hör­plät­zen di­rekt hin­ter den Säu­len bei den „Meis­ter­sin­gern“ zu­min­dest zu Be­ginn ei­nen leicht dämp­fen­den Ef­fekt, in den man sich erst ein­hö­ren muss­te. Bei „Par­si­fal“ nichts der­glei­chen. Die Mu­sik ström­te wun­der­bar hin­auf in je­den Win­kel der Ga­le­rie – ver­mut­lich auch das eine Fol­ge der Tat­sa­che, dass Wag­ner ab dem 3. Akt „Sieg­fried“ ge­zielt für den Bay­reu­ther Or­ches­ter­gra­ben kom­po­nier­te. Ich er­leb­te auch hier eine mu­si­ka­lisch kost­ba­re, sehr be­glü­cken­de Vor­stel­lung, ohne die So­lis­ten und Cho­ris­ten in Ak­ti­on zu se­hen. Wo­mit ich ei­ner rein kon­zer­tan­ten Auf­füh­rung durch­aus nicht das Wort re­den möch­te: Wag­ner­sän­ger, die in ih­rer Rol­le dar­stel­le­risch auf­ge­hen, sin­gen ein­fach bes­ser, wis­sen viel eher, war­um und wie sie et­was sin­gen sol­len. Ga­ranča (seit Wal­traud Mei­er die bes­te Kundry am Hü­gel), An­dre­as Schager (der eben nicht nur hel­disch laut kann) und Ge­org Zep­pe­n­feld (dem Kri­ti­ker Jan Brach­mann zu Recht den „Gol­de­nen Gurn­emanz“ zu­sprach) und den wei­te­ren So­lis­ten war den gan­zen, für mich bil­der­lo­sen Abend über an­zu­hö­ren, wie tief sie ihre Par­tien auch aus ih­rem Spiel her­aus form­ten. Hier noch ein klei­ner Ex­kurs zu Schager und sei­nem dies­jäh­ri­gen Fest­spiel­pro­gramm: 19. Juli Ge­ne­ral­pro­be „Sieg­fried“, 20. Juli GP „Par­si­fal“, 22. Juli GP „Göt­ter­däm­me­rung“, 25. Juli „Par­si­fal I“, 29. Juli „Sieg­fried I“, 20. Juli „Par­si­fal II“, 31. Juli „Göt­ter­däm­me­rung I“, 8. Au­gust „Sieg­fried II“, 10. Au­gust „Göt­ter­däm­me­rung II“, 12. Au­gust „Par­si­fal III“, 15. Au­gust „Par­si­fal IV“, 19. Au­gust „Par­si­fal V“, 23. Au­gust „Par­si­fal VI“, 24. Au­gust „Sieg­fried III“, 26. Au­gust „Göt­ter­däm­me­rung III“, 27. Au­gust  „Par­si­fal VII“. Wer jetzt denkt, das kann auf Dau­er nicht gut ge­hen, soll­te sich Fol­ge 41 von Axel Brüg­ge­manns „Al­les klar, Klas­sik?“ an­hö­ren. Lohnt sich auch bei den Stim­men­fach­leu­ten, mit Schager geht es nach rund 25 Mi­nu­ten rich­tig los.

Pa­blo He­ras-Ca­sa­do in der Bür­ger­reuth – Foto: Mo­ni­ka Beer

„Par­si­fal“ in der 1. Parkettreihe
In mei­ner lan­gen Fest­spiel­l­auf­bahn – mein ers­ter Ge­ne­ral­pro­ben­be­such als Bay­reu­ther Gym­na­si­as­tin liegt mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert zu­rück – habe ich erst zwei­mal in der ers­ten Par­kett­rei­he ge­ses­sen: 1980, bei den Der­nie­ren des le­gen­dä­ren Jahrhundert-„Rings“ un­ter Pa­tri­ce Ché­reau und Pierre Bou­lez – und heu­er bei der letz­ten „Parsifal“-Aufführung des Fest­spiel­som­mers 2023. Es war er­neut ein un­ver­gess­li­ches Er­leb­nis. Mehr noch als vor 43 Jah­ren hat mich nicht nur die En­er­gie und die sän­ger­dar­stel­le­ri­sche In­ten­si­tät der Prot­ago­nis­ten in Bann ge­schla­gen, son­dern vor al­lem die Qua­li­tät der mu­si­ka­li­schen In­ter­pre­ta­ti­on und des Klangs, von dem man förm­lich ein­ge­hüllt wird, was man si­cher auch noch ein paar Rei­hen wei­ter hin­ten er­fährt. Die Kör­per­lich­keit der Mu­sik, die eine Eta­ge tie­fer ge­spielt wird, teilt sich di­rekt so­gar über die Füße mit. Pa­blo He­ras-Ca­sa­do war für mich die Ent­de­ckung die­ses Fest­spiel­som­mers. Was für ein groß­ar­ti­ges Hü­gel-De­büt! Es wird ja gern über das Mys­te­ri­um in der „Parsifal“-Musik ge­schwur­belt, aber auch Opern­freun­de, die mit der Kunst-Re­li­gi­on nichts am Hut ha­ben, dürf­ten bei die­sem Di­ri­gen­ten ein fas­zi­nie­ren­des Büh­nen­weih­fest­spiel für sich ent­de­cken, das selbst in den hier sehr dif­fe­ren­ziert ein­stu­dier­ten Chö­ren un­ter Eber­hard Fried­rich ohne Pa­thos aus­kommt und von Be­ginn an die Brü­chig­keit der ver­meint­lich fest­ge­füg­ten Grals­welt eben­so spü­ren lässt wie das ver­zwei­fel­te Seh­nen al­ler Prot­ago­nis­ten und das ge­ra­de im Lei­sen sich aus­brei­ten­de Licht. Es ist durch­aus eine geist­li­che Mu­sik, aber sie ist, wie der aus Spa­ni­en stam­men­de Di­ri­gent selbst sagt, of­fen für alle. Und sei­ne Tem­pi sind ein­fach wun­der­bar. Wo er es für rich­tig hält, kann er die Mu­sik fast zum Still­stand brin­gen, ohne des­halb wie an­de­re ins Un­er­träg­li­che ab­zu­rut­schen, di­ri­giert aber ins­ge­samt sehr zü­gig, was, weil er stets mit den Sän­gern at­met, kei­ner­lei Pro­ble­me mit sich bringt. Er ge­hört wie  Pierre Bou­lez mit zu den schnells­ten „Parsifal“-Dirigenten in Bay­reuth. Zwei In­fos noch, die viel­sa­gend sind: Im In­ter­view mit BR Klas­sik vor der Fest­spiel­pre­mie­re ver­wies He­ras-Ca­sa­do mehr­fach dar­auf, dass er vom Ge­sang her kommt, selbst ge­sun­gen hat, be­vor er an­fing, Chö­re und Or­ches­ter zu lei­ten. „Für mich, der ich von der Stim­me, von der Ar­beit mit Sän­ge­rin­nen und Sän­gern kom­me, geht es um die Rhe­to­rik der Mu­sik – die rhe­to­ri­sche Kraft der Mu­sik.“ Und noch eine Aus­sa­ge von ihm aus der Fest­spiel­pres­se­kon­fe­renz: „Hier ist wirk­lich al­les an­ders. Das Haus selbst ist ein In­stru­ment – und das birgt mehr Ei­gen­schaf­ten und Aspek­te als je­des an­de­re Thea­ter.“ Stimmt. Ge­nau so habe ich das ge­hört. Der Premieren-„Parsifal“ kann auf BR Klas­sik Con­cert in Deutsch­land noch bis Jah­res­en­de kos­ten­los ge­streamt wer­den. Dass es sich lohnt, kann man der wun­der­bar mä­an­dern­den Kri­tik von Al­brecht Sel­ge im VAN-Ma­ga­zin entnehmen.

Blick vom Or­ches­ter­gra­ben in den Zu­schau­er­raum – Foto: Bay­reu­ther Festspiele

Der „Ring“ im zwei­ten Jahr
Schon im ers­ten Auf­füh­rungs­jahr ge­hör­te ich – bis auf den aus dem Ru­der ge­lau­fe­nen Schluss – zu den noch we­ni­gen Kri­ti­kern (hier nach­zu­le­sen un­ter „Das Rhein­gold“, „Die Wal­kü­re“, „Sieg­fried“ und „Göt­ter­däm­me­rung“), die dem so­ge­nann­ten Netflix-„Ring“ viel ab­ge­win­nen konn­ten. Das Schlag­wort soll­te man al­ler­dings gleich wie­der ver­ges­sen. War zwar schön grif­fig, traf und trifft aber die Sa­che bis auf den Se­ri­en-Cha­rak­ter nicht so rich­tig. Es ist ein Generationen-„Ring“, ei­ner, bei dem sich in­zwi­schen zwangs­läu­fig der Ge­dan­ke an die „Letz­te Ge­ne­ra­ti­on“ auf­drängt, ob­wohl es die, als Va­len­tin Schwarz sei­nen „Ring“ kon­zi­pier­te, noch gar nicht gab. Nein, es geht nicht um Kli­ma­ak­ti­vis­ten, son­dern um die in der Te­tra­lo­gie reich­lich vor­han­de­nen, bis­her sze­nisch so um­fas­send viel­leicht noch nicht sicht­bar ge­wor­de­nen, in vie­ler­lei Hin­sicht miss­brauch­ten Kin­der, Ju­gend­li­chen und Er­wach­se­nen, die kei­ne Zu­kunft mehr ha­ben – ob sie nun Freia, Sieg­mund und Sieg­lin­de, Brünn­hil­de, Sieg­fried oder Ha­gen hei­ßen. Den Ring, das Gold, das „Welt­erbe“ als ein ge­kid­napp­tes Kind zu zei­gen und die­sen Grund­ge­dan­ken wei­ter durch­zu­spie­len, rich­tet das Au­gen­merk auf bis­her un­ent­deck­te Ge­ge­ben­hei­ten und Kon­stel­la­tio­nen. Viel­leicht mit Aus­nah­me des zu drei Vier­teln ge­lun­ge­nen „weib­li­chen Rings“ in Chem­nitz hat mich kei­ne „Ring“-Inszenierung der letz­ten Jahr­zehn­te so sehr be­schäf­tigt wie die jet­zi­ge In­ter­pre­ta­ti­on bei den Fest­spie­len, weil das ver­än­der­te Be­zie­hungs­ge­flecht un­er­war­te­te und neue Fa­cet­ten der Fi­gu­ren mit sich bringt. Sel­ten so viel ge­lernt! Na­tür­lich ist das kein An­satz, bei dem man sich ei­nen Wo­tan noch in ir­gend­ei­ner Wei­se schön­schnit­zen kann. Der Ran­go­bers­te in Wag­ners Te­tra­lo­gie – und das ge­fällt we­der manch al­tem (oder jün­ge­ren) Mann noch manch al­ter (oder jün­ge­ren) Frau – ist nun mal kein Gott, son­dern ein schreck­lich schei­tern­der Macht­mensch, der tat­säch­lich über die Lei­chen der ei­ge­nen Kin­der geht. Ich stel­le das nur fest, weil schon die scho­nungs­lo­se Bloß­stel­lung Wo­tans zu ei­nem ge­wis­sen Teil die Ab­leh­nung er­klärt, die vor fast fünf­zig Jah­ren Pa­tri­ce Ché­reau ent­ge­gen­schrill­te und die jetzt die sehr weit ge­hen­de, mu­ti­ge In­ter­pre­ta­ti­on von Va­len­tin Schwarz für et­was ab­be­kom­men hat, das Ri­chard Wag­ner im Stück un­miss­ver­ständ­lich an­ge­legt hat.

To­masz Ko­niecz­ny als Wo­tan im 3. Akt „Wal­kü­re“ – Foto: En­ri­co Nawrath/​Bayreuther Festspiele

Dass der Re­gis­seur die Werk­statt-Mög­lich­keit der Fest­spie­le nut­zen wür­de, war klar. Selbst­ver­ständ­lich ist die Be­leuch­tung jetzt aus­ge­feil­ter, und die Büh­nen­tech­nik schnurrt stu­pend fast laut­los, in al­len vier Tei­len. Im Ver­gleich zum Vor­jahr hat Schwarz an je­nen zen­tra­len Stel­len nach­ge­schärft, die von der Ges­te, der Kör­per­spra­che her viel­leicht noch nicht deut­lich ge­nug wa­ren. Den Clou zum Schluss der „Wal­kü­re“ zum Bei­spiel, dass Wo­tan sei­nen Ehe­ring ab­streift, konn­ten dies­mal ver­mut­lich alle se­hen, die hin­schau­ten. Auch die di­ver­sen Traum­sze­na­ri­en und der Ein­satz der et­was an­de­ren Re­qui­si­ten sind prä­gnan­ter. Speer und Schwert im her­kömm­li­chen Sinn gibt es nach wie vor nicht, aber die Leucht­py­ra­mi­de (mit­samt Pis­to­le), der fun­keln­de Schlag­ring und die Mas­ken wan­dern jetzt sicht­li­cher durch die Aben­de. Ich kann ver­ste­hen, dass die ur­sprüng­li­che Ent­schei­dung, die gän­gi­gen Re­qui­si­ten ein­fach kom­plett weg­zu­las­sen, nicht ganz über den Hau­fen ge­wor­fen wer­den soll­te, aber war­um sol­len Spee­re und Schwer­ter nur in tod­schi­cken Wohn­land­schaf­ten und nicht auch in prol­li­gen Bruch­bu­den zu fin­den sein? Apro­pos: Der äs­the­ti­sche Bruch im 2. Akt „Göt­ter­däm­me­rung“ hat sich im Zuge der Nach­bes­se­run­gen auch er­le­digt, und der im Vor­jahr noch von klein­tei­li­gen, nur ver­wir­ren­den Ak­tio­nen ge­präg­te Schluss­akt ist jetzt viel kla­rer. Vor al­lem aber ha­ben sich die so­lis­ti­schen Um­be­set­zun­gen po­si­tiv aus­ge­wirkt. Dar­stel­le­risch war Iré­ne Theo­rin eine durch­aus in­ter­es­san­te Brünn­hil­de, was aber ihre gro­ßen sän­ge­ri­schen De­fi­zi­te lei­der nicht un­hör­bar mach­te. Ca­the­ri­ne Fos­ter hin­ge­gen hat eine über­aus in­tak­te, fast noch ju­gend­lich wir­ken­de Stim­me mit viel Po­ten­zi­al für die gro­ßen Töne. Wie selbst­ver­ständ­lich meis­tert sie den des­il­lu­sio­nie­ren­den, jetzt aber in sich lo­gi­schen Schluss im aus­ge­trock­ne­ten Was­ser­be­cken mit dem to­ten Sieg­fried, Gra­nes Kopf und dem schließ­lich er­häng­ten Göt­ter­va­ter. Wie so­was geht? Mit hoch­pro­fes­sio­nel­ler Hin­ga­be und Freu­de am Spiel. Auch un­ter den an­de­ren So­lis­ten – un­be­dingt ein Ge­winn ist Mika Ka­res als Ha­gen – macht im „Ring“ nie­mand mehr Dienst nach Vor­schrift, im Ge­gen­teil. Alle sind er­füllt von ih­rer sän­ger­schau­spie­le­ri­schen Auf­ga­be, be­son­ders na­tür­lich To­masz Ko­niecz­ny, nach dem zwölf Jah­re äl­te­ren Mi­cha­el Vol­le der­zeit für mich der über­zeu­gends­te Wotan/​Wanderer. Ko­niecz­ny ist erst 51 Jah­re alt, das heißt, man tut gut dar­an, sich an sei­nen spe­zi­el­len Stimm­cha­rak­ter zu ge­wöh­nen und die man­gel­haf­te Wort­ver­ständ­lich­keit an­ge­sichts sei­ner dar­stel­le­ri­schen Ver­ve zu ver­nach­läs­si­gen. Er wird uns noch lan­ge Freu­de ma­chen! Alle an­de­ren im nächs­ten und letz­ten Auf­füh­rungs­jahr si­cher auch. Über­haupt war das sän­ge­ri­sche Ni­veau ins­ge­samt so gut wie schon lan­ge nicht mehr.

Das fast was­ser­lo­se Sprung­be­cken im 3. Akt „Göt­ter­däm­me­rung“ mit Ca­the­ri­ne Fos­ter als Brünn­hil­de – Foto: En­ri­co Nawrath/​Bayreuther Festspiele

Ge­nug. Wer noch mehr le­sen will, dem emp­feh­le ich ger­ne die kri­ti­schen Fest­spiel-Ein­drü­cke nach dem ers­ten Auf­füh­rungs­zy­klus von Al­brecht Sel­ge im VAN-Ma­ga­zin so­wie die vier Re­zen­sio­nen von Frank Piontek zum zwei­ten „Ring“-Zyklus aus dem Bay­reu­ther Kul­tur­brief –  „Das Rhein­gold“, „Die Wal­kü­re“, „Sieg­fried“ und „Göt­ter­däm­me­rung“. Und weil nicht we­ni­ge Jour­na­lis­ten, die im ers­ten Zy­klus wa­ren, in ih­rer Bi­lanz zum Fest­spie­len­de ge­schrie­ben ha­ben, dass der „Ring“ er­neut durch­ge­fal­len sei, darf ich hier mit Nach­druck ver­si­chern: Am Ende der drit­ten „Ring“-Aufführung 2023 trüb­te erst mal kein ein­zi­ges Buh die ge­ge­be­ne Stil­le, sprich: die Er­grif­fen­heit des Pu­bli­kums. Erst spä­ter, im auf­kom­men­den Ju­bel, wa­ren es nach der „Göt­ter­däm­me­rung“ ma­xi­mal fünf, sechs Buh­ru­fer, die ihr Miss­fal­len kund­ga­ben. Der Rest zeig­te sich be­ein­druckt von die­ser au­ßer­ge­wöhn­li­chen „Ring“-Erfahrung und fei­er­te zu Recht den sub­ti­len Di­ri­gen­ten Pie­ta­ri In­ki­nen, dem Co­ro­na bei die­ser Pro­duk­ti­on lei­der be­son­ders übel mit­ge­spielt und ihm nur ei­nen kom­plet­ten Som­mer ge­gönnt hat.

„Ring“-Dirigent nur für ei­nen Som­mer: Pie­ta­ri In­ki­nen – Foto: Kau­po Kikkas

„Tann­häu­ser“ als Abschluss
Nur noch ein ganz kur­zes Lob­lied auf den Gott sei Dank noch lan­ge nicht ein­ge­mot­te­ten „Tann­häu­ser“, der vor al­lem dank der Ma­es­tra im Or­ches­ter­gra­ben neue Qua­li­tä­ten hin­zu­ge­won­nen hat. Na­tha­lie Stutz­mann ist für mich in die­sem Fest­spiel­som­mer die zwei­te gro­ße Ent­de­ckung. Noch in­ten­si­ver als ihr Kol­le­ge He­ras-Ca­sa­do kommt sie vom Ge­sang her – und das hört man der Auf­füh­rung an. Gleich zwei neue Fest­spiel-Di­ri­gen­ten, die auf An­hieb nicht nur gut, son­dern her­vor­ra­gend mit den schwie­ri­gen akus­ti­schen Ver­hält­nis­sen klar kom­men. Was will man mehr?
Noch ein ver­spä­te­ter Nach­trag: Bei der letz­ten „Tannhäuser“-Aufführung zum Fest­spie­len­de fühl­te sich nach dem 2. Akt ein ein­zel­ner Be­su­cher be­mü­ßigt, laut zu bu­hen. Die Ant­wort dar­auf war be­ein­dru­ckend ein­stim­mig. Das scheint’s kom­plet­te üb­ri­ge Pu­bli­kum brach in Bra­vo­ru­fe, noch mehr Bei­fall und be­geis­ter­tes Ge­tram­pel aus, kurz: das Haus tob­te in po­si­ti­vem Sin­ne. War­um Buh­ru­fe nach den Pre­mie­ren in der Re­gel we­ni­ger wer­den, hat na­tür­lich auch da­mit zu tun, dass dann die ei­gent­li­chen Adres­sa­ten – Re­gis­seu­re und Re­gis­seu­rin­nen – feh­len. Aber wo­mög­lich fehlt man­chem Blö­ker auch die Mo­ti­va­ti­on, weil spä­te­re Auf­füh­run­gen nicht auf­ge­zeich­net wer­den und nicht nach­hör­bar do­ku­men­tiert sind. Gibt es Buhruf-Sammler?

Das um­ju­bel­te Fest­spiel­or­ches­ter nach der letz­ten „Tannhäuser“-Vorstellung – Foto: Mo­ni­ka Beer

Aus­blick
Fast hät­te ich die Fest­spiel­pres­se­kon­fe­renz ver­ges­sen! Die Zoom-Ver­an­stal­tung vor der Fest­spiel­eröff­nung hat­te doch ei­ni­ges zu bie­ten, ge­ra­de in Hin­blick auf 2026. Die Fak­ten zu 2024 und 25 kann man kurz hier nach­le­sen. Für das 150. Fest­spiel­ju­bi­lä­um kün­dig­te Ka­tha­ri­na Wag­ner alle zehn Wer­ke des Bay­reuth-Re­per­toires so­wie erst­mals „Ri­en­zi“ im Fest­spiel­haus an. Na­tür­lich ist das Früh­werk eine klei­ne Sen­sa­ti­on (be­kannt­lich hielt Wag­ner selbst sei­ne „Feen“, das „Lie­bes­ver­bot“ und „Ri­en­zi“ nicht für fest­spiel­taug­lich, weil noch nicht wag­ne­risch ge­nug), mich aber elek­tri­sier­te dann noch mehr der nächs­te „Ring“. Als im Lau­fe der Pres­se­kon­fe­renz nach mög­li­chen Gast­or­ches­tern ge­fragt wur­de und die Fest­spiel­lei­te­rin ant­wor­te­te, „Wir sind of­fen in der Rich­tung, auch für his­to­ri­sche Auf­füh­rungs­pra­xis“, klin­gel­te es bei mir: Könn­te es nicht sein, dass 150 Jah­re nach der Fest­spiel­eröff­nung erst­mals wie­der ver­sucht wird, mit ei­nem In­stru­men­ta­ri­um zu spie­len, wie es zu Wag­ners Leb­zei­ten üb­lich war? Und wäre das nicht wun­der­bar für die Sän­ge­rin­nen und Sän­ger, die bei ei­nem wie da­mals auf 435 Hertz fest­ge­leg­ten Kam­mer­ton von vorn­her­ein bes­se­re Kar­ten hät­ten für mehr stimm­li­chen Aus­druck und in­ter­pre­ta­to­ri­sche Dif­fe­ren­zie­run­gen? Back to the Roots? Na­tür­lich ist da auch Wunsch­den­ken da­bei, aber im­mer­hin hat Ma­nu­el Brug, der, was Bay­reuth be­trifft, zu den be­son­ders gut in­for­mier­ten Jour­na­lis­ten ge­hört, am 28. Juli on­line in der „Welt“ von ei­nem his­to­risch auf­ge­la­de­nen neu­en „Ring“ ge­schrie­ben. Und weil ich ger­ne um die Ecke den­ke, hört mei­ne wil­de Spe­ku­la­ti­on noch nicht ganz auf: Wie soll eine nur ge­ring ver­län­ger­ba­re Fest­spiel­zeit mit elf ver­schie­de­nen Pro­duk­tio­nen schon rein pro­ben­tech­nisch mach­bar sein, wenn da­bei so­wohl der vier­tei­li­ge „Ring“ und der in je­der Hin­sicht an­spruchs­vol­le „Ri­en­zi“ neu sein soll­ten? Ich tip­pe mal, dass der his­to­risch-in­for­mier­te Jubiläums-„Ring“ kon­zer­tant ge­ge­ben wer­den könn­te, in höchs­tens zwei Zy­klen. Dann blie­ben den an­de­ren Wer­ken – „Ri­en­zi“, „Die Meis­ter­sin­ger von Nürn­berg“, „Tris­tan und Isol­de“, „Par­si­fal“, „Der flie­gen­de Hol­län­der“, „Tann­häu­ser“ und „Lo­hen­grin“ – von der Zahl der Auf­füh­run­gen her den­noch ge­nü­gend Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten. Und die So­lis­ten könn­ten das auch bes­ser schaf­fen. Das wäre ein Ju­bi­lä­ums­pro­gramm mit dem er­wart­ba­ren Ne­ben­ef­fekt, dass Bay­reuth spä­tes­tens dann ver­mut­lich wie­der rest­los aus­ver­kauft sein dürf­te. Noch Fragen?

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