Heutzutage, wo jeder Dirigent, der etwas auf sich hält, seine Nase besonders tief in die jeweilige Originalpartitur steckt und gegebenenfalls sowohl die Urfassung als auch die Version von letzter Hand studiert hat, bevor er den ersten Ton erklingen lässt, kann man gar nicht mehr verstehen, dass man früher ganz anders und gewiss nicht werktreu vorging. Bearbeitungen von älteren Werken waren an der Tagesordnung – und so kommt es nicht von ungefähr, dass derlei auch Richard Wagner (1813–1883) verfasst hat.
Vor allem während seiner Kapellmeisterjahre überarbeitete er unter anderem Opern anderer Komponisten. Am intensivsten befasste er sich mit „Iphigénie en Aulide“ (Iphigenia in Aulis) von Christoph Willibald Gluck (1714–1787), die im 19. und bis ins späte 20. Jahrhundert fast nur in seiner Version aufgeführt und zuweilen sogar als vierzehnte vollendete Oper Wagners bezeichnet wurde. Grund genug für den Richard-Wagner-Verband Bamberg, sich zum gerade ausgeklungenen Gluck-Jubiläumsjahr genauer darüber zu informieren.
Frank Piontek aus Bayreuth, der sich zwar seit Jahrzehnten mit dem „Meister“ beschäftigt, aber unter anderem auf dem Literaturportal Bayern ein inspirierender Jean-Paul-Blogger war, erwies sich mit seinem Vortrag „Ein guter Meister…“ im Hotel Bamberger Hof beim Auftakt der RWV-Veranstaltungsreihe 2015 als großer Kenner und eloquenter Redner, der mit feiner Ironie auch vermeintlich trockene Kost aufzupeppen weiß. Und mit passenden Musikbeispielen nicht geizte.
Dass Wagner durch E.T.A. Hoffmann auf Gluck aufmerksam wurde, versteht sich fast schon von selbst. Die durch die Lektüre geweckten hohen Erwartungen löste der erste Besuch einer Gluck-Oper in Wien bis auf eine große Szene freilich nicht ein: „Der Eindruck alles übrigen blieb feierlich spannend auf eine Wirkung, zu welcher es nie kam“, erinnerte sich Wagner später. Was ihn nicht daran hinderte, sich in seinen Schweizer Exiljahren auch musiktheoretisch mit Gluck zu befassen.
Dem jungen Wagner gefiel an Gluck vor allem der musikdramatische Impetus, und in seiner Schrift „Über die Ouvertüre“ sollte er 1840 genau jene aus „Iphigenia in Aulis“ über den grünen Klee loben, für die er vierzehn Jahre später eigens noch einen Konzertschluss komponieren sollte, nachdem er 1847 in Dresden bereits seine komplette Bearbeitung dieser Oper selbst aufgeführt hatte: „In mächtigen Zügen zeichnet hier der Meister den Hauptgedanken des Dramas mit einer fast ersichtlichen Deutlichkeit.“
Womit klar ist, dass Wagner Gluck als eine Art Vorläufer für sich selbst einordnete. Was wiederum heißt, dass er sich bei seiner Bearbeitung als erstes die Übersetzung des Librettos vornahm. Musikalisch brachte er schon durch das erweiterte Instrumentarium neue Klangfarben ein, er „übermalte“ Glucks Arbeit, veränderte teilweise die Harmonien und kürzte das Werk um Figuren und Stücke. „Der bearbeitete Gluck“, so Piontek, „bot ihm sozusagen die Schützenhilfe, um sein Konzept einer durchkomponierten Oper voranzutreiben.“
Kurz gesagt: „Wagners Gluck ist eine äußerst vielfältige Figur. Sie ist den vielfältigen, theoretischen wie theaterpraktischen, ästhetischen wie ausbildungstechnischen Interessen des Musikdramatikers untertan.“ Dass die intensive Beschäftigung mit Gluck auch im Schaffen Wagners seine Spuren hinterlassen würde, liegt auf der Hand. Dank entsprechender Musikbeispiele konnten die Zuhörer das unter anderem besonders nachdrücklich aus dem amerikanischen Festmarsch von 1876 heraushören, in den Wagner ein Hauptmotiv aus der „Iphigenien“-Ouvertüre eingebaut hat. Natürlich ohne das Vorbild groß in die Welt zu posaunen.
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