Ein sinnlicher Totalausfall

Der Opern- und Ex­tra­chor des Main­fran­ken­thea­ters lässt es an sinn­li­cher Wir­kung nicht feh­len: Sze­ne aus der „Carmen“-Neuinszenierung am Main­fran­ken­thea­ter Würz­burg. Foto: Nico Manger

Ei­nes kann und darf man In­ten­dant Her­mann Schrei­ber las­sen: Er schafft es, dem Pu­bli­kum ele­gant, un­ter­halt­sam und por­ti­ons­wei­se bei­zu­brin­gen, was für eine Opern­pre­mie­re schlicht­weg eine Ka­ta­stro­phe ist, näm­lich der Aus­fall und/​oder die In­dis­po­si­ti­on von gleich drei der vier Haupt­so­lis­ten. Die neue „Carmen“-Produktion am Main­fran­ken­thea­ter war bei ih­rer ers­ten Vor­stel­lung am 24. Ja­nu­ar aber nicht nur des­halb mehr ein Ku­rio­sum als ein Kunst­ge­nuss. Auch sze­nisch läuft bei wei­tem nicht al­les rund.

Die gu­ten Nach­rich­ten zu­erst: Für Bryan Boy­ce, den in­dis­po­nier­ten Es­ca­mil­lo, sprang Adam Kim schon bei der Ge­ne­ral­pro­be ein und prä­sen­tier­te sich bis auf klei­ne Tie­fen­schwä­chen als ma­cho­haft-mit­rei­ßen­der To­re­ro. Des­sen Kon­kur­rent um Car­mens Gunst, Don José, trat gleich dop­pelt in Er­schei­nung. Der ver­schnupf­te Bru­no Ri­bei­ro spiel­te die gut ein­stu­dier­te Rol­le nur, wäh­rend am Büh­nen­rand Ri­car­do Ta­mu­ra die Par­tie über­nahm – sän­ge­risch sehr überzeugend.

Dass nach der Pau­se noch die Bit­te um Nach­sicht für die Sän­ge­rin der Ti­tel­rol­le an­stand, klingt bei ei­ner Er­käl­tungs­wel­le am Thea­ter plau­si­bel. Aber Gast­so­lis­tin Lau­ra Brio­li war nicht nur stimm­lich hör­bar be­ein­träch­tigt, son­dern schau­spie­le­risch als Car­men ein un­sinn­li­cher To­tal­aus­fall – was das Würz­bur­ger Pu­bli­kum in­so­fern spie­gel­te, als es bis zur Pau­se kei­nen Sze­nen­ap­plaus für die Mez­zo­so­pra­nis­tin gab. Jede ein­zel­ne Chor­dame auf der Büh­ne be­weg­te sich si­che­rer und hat­te mehr Aus­strah­lung als aus­ge­rech­net die Haupt­so­lis­tin, wäh­rend die haus­ei­ge­ne (und ga­ran­tiert über­zeu­gen­de­re) Zweit­be­set­zung Son­ja Kop­pel­hu­ber bei der Pre­mie­re nur als Mer­cé­dès bril­lie­ren durfte.

Von den Haupt­fi­gu­ren er­hob sich nur eine sou­ve­rän über fast alle Miss­lich­kei­ten: Sil­ke Evers als Mi­caë­la, die in ih­rem him­mel­blau­en, trans­pa­ren­ten Ka­pu­zen­män­tel­chen mäd­chen- und mär­chen­haft wirk­te und traum­haft sang. Da­ne­ben über­zeug­te ein­mal mehr Anja Gut­ge­sell als spiel­freu­dig-auf­trump­fen­de Fras­qui­ta. Auch die wei­te­ren So­lis­ten, an­ge­führt von Da­ni­el Fi­ol­ka als Dancai­ro und Jo­shua White­ner als Re­mend­ado, wa­ren sän­ger­dar­stel­le­risch prä­gnant. Her­bert Brand als um­sich­tig-red­se­li­ger Leut­nant Zu­ni­ga sorg­te mit ge­ziel­ten Bro­cken auf Deutsch da­für, dass das Pu­bli­kum auch ohne Fran­zö­sisch­kennt­nis­se und ohne stän­di­gen Blick auf die Über­ti­tel mit­be­kam, was ablief.

Re­gis­seu­rin Sa­bi­ne Ster­ken, die auch die hier spar­sa­men Dia­lo­ge ei­gens für Würz­burg neu ein­ge­rich­tet hat, woll­te die po­pu­lä­re Oper ganz ohne Spa­ni­en­folk­lo­re prä­sen­tie­ren, ak­tu­ell und abs­tra­hie­rend. Sie woll­te zei­gen, wie Dra­ma­turg Chris­toph Blitt in sei­ner Ein­füh­rung er­läu­ter­te, was klei­ne Leu­te je­weils als ihr Glück er­träu­men – Leu­te am Ran­de der Ge­sell­schaft und in Grenz­si­tua­tio­nen, ob nun ganz real oder im über­tra­ge­nen Sinn. Das ist vom An­satz her dan­kens­wert, gut ge­meint und klingt plausibel.

Her­aus­ge­kom­men ist aber lei­der eine hand­werk­lich nur stel­len­wei­se so­li­de, pseu­do-fe­mi­nis­tisch an­ge­hauch­te In­ter­pre­ta­ti­on. Statt der üb­li­chen Kli­schees ti­schen Ster­ken und ihr Aus­stat­ter Mar­tin Rup­p­recht oft nur an­de­re Kli­schees auf und he­ben di­dak­tisch die Zei­ge­fin­ger. Trotz der ge­le­gent­lich kreu­zen­den Grei­sin in Schwarz dür­fen die Chor­damen sich hier ir­gend­wie frei­er füh­len, wäh­rend die männ­li­chen Cho­ris­ten, ob Sol­da­ten oder Schmugg­ler, eher wie be­stellt und nicht ab­ge­holt her­um­ste­hen und sich in den selt­sa­men Traum­se­quen­zen gar flach­le­gen müssen.

War­um die Bau­ten auf der spär­lich ge­nutz­ten Dreh­büh­ne mit dem di­cken ro­ten Grenz­strich klei­ner wer­den, ist ge­nau­so we­nig er­hel­lend wie Plas­tik­fla­schen als Glas­bau­stei­ne. Und ge­ra­de­zu auf­dring­lich wird Schrift als In­sze­nie­rungs­be­stand­teil be­nutzt. Das kann zwar spie­le­risch leicht ge­lin­gen, wie es Fras­qui­ta und Mer­ce­des vor­füh­ren. Aber wo hat die Re­gis­seu­rin ih­ren selbst­kri­ti­schen Blick ge­las­sen, wenn sie ihre Mi­cae­la dazu ver­don­nert, sin­gend ans Pu­bli­kum ge­wandt gleich­zei­tig mit ver­dreh­ter Hand et­was auf die rück­wär­ti­ge Wand zu kritzeln?

Schwamm drü­ber. Schließ­lich könn­te die­se „Car­men“ trotz ih­rer Re­gie­schwä­chen ein Er­eig­nis sein, wenn die oh­ne­hin auch da­für vor­ge­se­he­ne ful­mi­nan­te Son­ja Kop­pel­hu­ber die Ti­tel­par­tie über­nimmt und die ein­stu­dier­ten männ­li­chen Prot­ago­nis­ten wie­der bei Stim­me sind. Die Fahrt nach Würz­burg lohnt auch des­halb, weil aus dem Or­ches­ter­gra­ben Er­staun­li­ches kommt. Ge­ne­ral­mu­sik­di­rek­tor En­ri­co Cales­so, dem zu­zu­se­hen oh­ne­hin ein Ver­gnü­gen ist, prä­sen­tiert mit sei­nen In­stru­men­ta­lis­ten den ab­ge­nu­del­ten fran­zö­si­schen Opern­hit so klar und frisch, dass man zu ver­ste­hen be­ginnt, war­um der Ex-Wag­ne­ria­ner Fried­rich Nietz­sche in Bi­zets „Car­men“ sein Heil suchte.

Be­such­te Vor­stel­lung am 24. Ja­nu­ar (Pre­mie­re), wei­te­re Auf­füh­run­gen im Main­fran­ken­thea­ter je­weils um 19.30 Uhr am 10., 22. und 25. Fe­bru­ar, 4., 12., 15. und 20. März, 4. und 17. April so­wie am 3. Mai; Nach­mit­tags­vor­stel­lun­gen am 1. März und am 24. Mai je­weils um 15 Uhr. Kar­ten gibt es te­le­fo­nisch un­ter 0931/3908-124 so­wie on­line auf der Home­page des Main­fran­ken­thea­ters.