Unsere Reisegruppe war aus gutem Grund begeistert: Die Fahrt nach Chemnitz am 29. September lohnte sich schon wegen Daniel Kirchs sensationellem ersten Auftritt als Siegfried. Und er stand mit seiner Leistung nicht einsam im auch optisch eindrucksvollen „Siegfried“-Wald. Denn sängerdarstellerisch ihm ebenbürtig zeigten sich seine in ihren Partien schon versierten Kollegen Arnold Bezuyen als Mime und Ralf Lukas als Wanderer. Bis auf Christiane Kohl, die hoffentlich bei ihrem Rollendebüt als Brünnhilde nur Lampenfieber hatte, waren bei der Premiere auch die weniger geforderten Solisten in Höchstform: Guibee Yang als quicklebendig zwitschernder Waldvogel (den der Wanderer schließlich – Schreck lass nach! – einfach um die Ecke bringt), Simone Schröder als eindringlich warnende und unter ihrer Dornenkrone blutende Erda, Avtandil Kaspeli als sonorer Fafner mit Goldmaske und Björn Waag als vielbeschäftigter Alberich (der immer wieder, wie schon in Jürgen Flimms Bayreuther Inszenierung aus dem Jahr 2000, mit seinem kleinen Sohn Hagen um die Ecke kommt und gleich zu Beginn des 2. Akts mal eben eine Statistin vergewaltigt).
Womit schon angedeutet ist, dass sich regielich allerhand Unerwartetes tut. Sabine Hartmannshenn lässt den Abend sogar brutal beginnen, indem sie, noch bevor die Musik beginnt, im aus scheint’s endlos hohen Pfeilern bestehenden, sehr stimmungsvoll beleuchteten und durch eine Vielzahl von in Anoraks gekleideten Statisten zeitweise reichlich bevölkerten Wald (Bühne: Lukas Kretschmer, Licht: Mathias Klemm) eine Szene vorführt, die Siegfrieds Ziehvater Mime als rabiaten Geburtshelfer zeigt: Der Nibelungenzwerg schneidet der in Wehen liegenden und jammernden Sieglinde das Baby aus dem Bauch.
Kinder scheinen überhaupt ein, wenn nicht der rote Faden im sogenannten „weiblichen Ring“ in Chemnitz zu sein – genauer gesagt: missbrauchte Kinder. Sie kamen auch im Vorabend und beim ersten Tag schon vor. Im „Rheingold“ zeigt Verena Stoiber erstens die Nibelungen nicht nur als zumindest halbwegs erwachsene weibliche Zwangsprostituierte, sondern auch als Kinder, die von Alberich als Arbeitssklaven gehalten werden, indem sie Sneakers im Akkord verpacken. Und zweitens wird angedeutet, dass die noch fast kindliche Göttin Freia womöglich in der eigenen Familie mehr männliche Nähe erfahren hat, als für ein Mädchen gut sein kann. Monique Wagemakers lässt in der „Walküre“ ebenfalls Kinder Revue passieren, ob sie nun Siegmund, Sieglinde, Brünnhilde oder Siegfried heißen.
So verstörend die „Siegfried“-Auftaktszene wirkt, sie wirft bezeichnende Schlaglichter auf Mime und vor allem auf die Titelfigur. Besser als sonst versteht man, dass Siegfried in dieser von Gewalt und prekären Endzeitgestalten (Kostüme: Susana Mendoza) geprägten Umwelt keine Grenzen kennen kann und zum Schlagetot werden muss. Deutlicher als sonst offenbart dieser Junge aber auch, dass er dennoch etwas von seinen leiblichen Eltern im Blut hat: Er zeigt Gefühle und auffallend viel Empathie – für den riesigen Bären, den er schon tot auf die Bühne zieht, für den von ihm getöteten Fafner, dessen ebenfalls mit Goldmasken getarntes Gefolge sich daraufhin Siegfried anschließt. Und schließlich sogar für seinen schrecklich falschen Ziehvater Mime, dem er, nachdem er ihn abgestochen hat, wenigstens die Augen schließt.
Wenn Siegfried sich im 2. Akt nach seiner Herkunft fragt, singt Daniel Kirch das so zart und traurig, dass es unmittelbar ans Herz geht. Überhaupt erinnert seine Stimme in ihrem lyrischen Grundton an die von René Kollo. Kirch hat aber auch das Heldische nicht nur bei den Schmiedeliedern, sondern auch noch am Schluss überzeugend parat, scheint im gegebenen dreiteiligen Kraftakt an keiner Stelle zu sparen. Er übertrifft Kollo sogar, denn erstens ist er nicht nur textsicher, singt sehr wortverständlich, denkt und fühlt, was er singt. Und zweitens ist er in seiner Spielfreude kaum zu bremsen: ein Jung-Siegfried, wie er auf den Bühnen der Welt glaubhaft leider nur selten zur Verfügung steht. Dass er trotzdem keine sechzehn mehr ist und in dieser Inszenierung wie seine männlichen Kollegen viel nacktes Brust- und Bauchfleisch zu Markte trägt, spielt dabei erstaunlicherweise keine Rolle mehr. Er wirkt auf eine mitreißende Art authentisch, absolut glaubhaft. Was auch für das Gros der weiteren Solisten gilt. Als Charaktertenor steht Arnold Bezuyen im Zenit seiner Kunst, der Bassbariton Ralf Lukas als Wanderer ebenso.
Dass das Schwert beim Schmieden erst aus Eis ist und wenig später feurig lodert, merken nur sehr aufmerksame Besucher, die weit vorne sitzen oder ein gutes Opernglas haben. Will sagen: nicht alle szenischen Einfälle – und es gibt im Vergleich mit der „Walküre“ erfreulicherweise deren viele – sind augen- und sinnfällig. Warum Siegfried Wotans markantes Leuchtröhrenschwert mit dem bloßen Arm zerbricht, zählt du den offenen Fragen. Umso schöner der Einfall, dass es im 3. Akt, assistiert von den jetzt mit Fackeln ausgerüsteten und von Bühnenbildner Lukas Kretschmer schlüssig choreografierten Statisten, nochmals so etwas wie Wotans Abschied von Brünnhilde gibt, bevor Siegfried auf der wirklich seligen Öde, nämlich auf der mutig gewagten leeren Bühne, das Fürchten lernen darf.
Anders als bei der zu langsam, zu vermeintlich sängerfreundlich und zu vorsichtig dirigierten „Walküre“ hat Felix Bender, der nur noch eine Vorstellung leiten wird, bevor er an den neuen Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo abgibt, bei „Siegfried“ fast alles richtig gemacht. Die Robert-Schumann-Philharmonie zeigte sich spielfreudig und so versiert, dass einem vor der kommenden „Götterdämmerung“ ab 1. Dezember nur inhaltlich bange sein muss.
Besuchte Premiere am 29. September, weitere Vorstellungen am 20. Oktober, 10. November 2018 sowie am 19. Januar, 20. April und 8. Juni 2019; ab 10.11. ist als Alberich wieder Jukka Rasilainen zu erleben und Magnus Piontek als Fafner.
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