Der Bariton Michael Volle ist als Hans Sachs am Gipfel seiner Kunst als Sängerdarsteller angekommen und brilliert in Barry Koskys genialer „Meistersinger“-Inszenierung, die auch in ihrer dritten Saison restlos begeistert.
Selbst das Wetter spielte mit. Am Samstag zur Wiederaufnahme-Premiere von Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ waren die Temperaturen am Grünen Hügel nicht mehr ganz so schweißtreibend. Dafür ging es auf der Bühne und im Orchestergraben heiß her – zum Großteil erwartungsgemäß. Langer Jubel und nur ein einsames Buh nach der ohne Pausen fast viereinhalbstündigen Aufführung.
Unter Insidern genießt Meister Niklaus Vogel eine gewisse Berühmtheit, weil der bei der Singschul im 1. Akt von seinem Lehrbub entschuldigt werden muss. Der Sänger des in dieser Inszenierung nur akustisch präsenten Nachtwächters im 2. Akt war nicht plötzlich erkrankt, fehlte aber trotzdem: Der Einruf des Solisten zum Auftritt kam aufgrund eines technischen Problems nicht in der Garderobe an.
Bei den Akteuren auf der Bühne und im Graben sorgte das sicher schlagartig für zusätzliches Adrenalin. Aber auch ohne den Zehn-Uhr-Ruf des Nachtwächters hatte Michael Volle als Hans Sachs nicht nur seine schlagend einfache wie mobile Schusterwerkstatt im Griff. Der Bariton, der als Sixtus Beckmesser 2007 in Bayreuth debütierte und 2012 in Zürich erstmals in die Partie des Schusterpoeten Sachs wechselte, befindet sich damit zweifellos am Zenit seiner Karriere.
Michael Volle hat die charakterlich komplexe und stimmlich höchst anspruchsvolle Rolle inzwischen so sehr verinnerlicht, dass jeder Ton, jede Phrase, jeder musikalische Bogen, jede raumfüllende Bewegung, jede kleine Geste und jedes Wimpernzucken vollkommen natürlich, richtig, authentisch klingt beziehungsweise wirkt. Da wird sogar ein ganz großer Schuh draus: Für mich ist Volle ein Jahrhundert-Sachs.
Nicht umsonst hat er in einem Interview von der „unglaublichen Schönheit der Musik, die einem Wagner mit dieser Oper geschenkt hat“ und davon gesprochen, dass für ihn „keine Partie den Sachs schlagen kann.“ Volle trifft in der ohnehin genial gelungenen Festspielinszenierung zudem auf kongeniale Partner: an erster Stelle und auf Augenhöhe in jeder Hinsicht, auch was die unglaubliche Wortverständlichkeit betrifft, Johannes Martin Kränzle als Beckmesser.
Die Szenen der beiden sind ein Wunder an musiktheatralischem Komödiantentum und schmerzlicher Wahrhaftigkeit. Mit etwas Abstand folgen Günther Groissböck als Pogner, Daniel Behle als David, Wiebke Lehmkuhl als Magdalene und Klaus Florian Vogt als Stolzing, der am Samstag stimmlich beeinträchtigt ins Rennen um die Goldschmied-Tochter Eva ging. Die aktuelle Extrembelastung von vier Festspielauftritten in zwei Hauptpartien innerhalb von nur sechs Tagen dürfte dem Tenor bestimmt nicht gut tun.
Camilla Nylund als inzwischen dritte Protagonistin der hier als Doppelfigur angelegten Eva überzeugte mehr als tags zuvor mit ihrer „Lohengrin“-Elsa. Aber auch hier erweist sich ihre Stimme namentlich im Quintett des 3. Akts als zu klein. Bis auf diese Rolle sind alle Figuren mit den Solisten aus dem Premierenjahr besetzt, was Bände für die Qualität der Inszenierung spricht: Die haben alle einfach Lust, mit dabei zu sein!
Dass der vielbeschäftigte Barrie Kosky an seiner Funken sprühenden und doch so viel Tiefgang bietenden „Meistersinger“-Interpretation weiter gearbeitet hat, ist vor allem im Festwiesenakt zu spüren. Die Szenen des wiederum grandiosen Chors (Leitung: Eberhard Friedrich) sind choreografisch und durch Frank Evins Licht schärfer konturiert. Auch in den kleineren Änderungen zuvor wird deutlich, dass Kosky die Möglichkeit der „Werkstatt Bayreuth“ gerne aufgreift.
Warum diese Inszenierung als bahnbrechend und für Bayreuth als bitter notwendig einzustufen ist, liegt an einem konzeptuellen Kunstgriff. Die „Meistersinger“-Handlung wird erzählt, indem Kosky und seine Ausstatter (Bühne: Rebecca Ringst, Kostüme: Klaus Bruns) das Stück mit der Biografie des Komponisten, mit der Festspiel- und Rezeptionsgeschichte verbinden. Sie spannen einen politischen Bogen, denken Wagners Antisemitismus und sein Nürnberg-Bild weiter, zeigen die gegebene Gewalt gegen Beckmesser als Pogrom und enden bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen.
Der historische Gerichtssaal ist der Rahmen für die fröhliche Wahnfried-Welt des 1. Akts, in der die Beckmesser-Doppelfigur gedemütigt wird und deren Mobiliar als Konkursmasse im 2. Akt landet, wo die Gewalt schließlich beschämend greifbar wird. Im 3. Akt wird nicht nur Hans Sachs, der natürlich niemand anders als Richard Wagner ist, verklagt. Sondern es wird auch verhandelt, was „deutsch und echt“ ist.
Das szenische Feuerwerk zündet auch deshalb, weil der musikalische Partner unten im Graben sich ebenbürtig einbringt. Dirigent Philippe Jordan und das Festspielorchester begleiten das Geschehen nicht nur empathisch, sondern spielen im kammermusikalischen Parlando wie im machtvollen Auftrumpfen einen hörbar modernen Wagner, den sie ins 20. Jahrhundert und in die Gegenwart katapultieren. Einfach großartig!
Besuchte Wiederaufnahme-Premiere am 27. Juli 2019, Erstdruck im Feuilleton des Fränkischen Tags
Ähnliche Beiträge
- Was die „Meistersinger“ mit Scham zu tun haben 8. September 2017
- Ein szenischer Geniestreich 30. Juli 2018
- Kein guter Tag für Beckmesser 1. August 2021
- Mehrfach kostenlose „Meistersinger“ 15. Juli 2017
- Bayreuther „Meistersinger“ sind die Aufführung des Jahres 28. September 2018