Wagner-Experte Udo Bermbach hat akribisch untersucht, wie sich die politischen Veränderungen in der jungen Bundesrepublik allmählich auch in den Programmheften von Neubayreuth niederschlugen.
Musikantiquare können ein Lied davon singen, dass die Programmhefte der Bayreuther Festspiele in ihrem Bestand meistens wie neu sind. Warum? Weil wohl nur wenige Wagnerianer die fünf bis siebenteiligen Festspielsommerkonvolute auch gelesen haben. Zumindest einer hat die von der Festspielleitung herausgegebenen Publikationen aus den Jahren 1951 bis 1976 jetzt genauer unter die Lupe genommen: Udo Bermbach, seines Zeichens emeritierter Politologe, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit Richard Wagner beschäftigt, als dramaturgischer Berater für Jürgen Flimms „Ring“-Inszenierung am Grünen Hügel wirkte und eine Vielzahl von Wagner-Büchern veröffentlicht hat, die mit zu den Standardwerken zählen. Zuletzt hat er immer wieder Themen beackert, die noch kein Wagnerforscher seiner Generation so ausführlich behandelt hat: „Wagners Schwiegersohn und Hitlers Vordenker“ Houston Steward Chamberlain, dem er eine Monographie widmete, Wagners Weg zur Lebensreformbewegung und jetzt die Festspiel-Programme der Ära von Neubayreuth.
Der Titel „Die Entnazifizierung Richard Wagners. Die Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1951–1976“ ist provozierend gemeint, aber irreführend. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg musste nicht der 1883 verstorbene Wagner, sondern das Gros seiner Nachkommen und mit ihnen das nationalsozialistisch verseuchte Festival entnazifiziert werden. Was wie fast überall sehr zurückhaltend und spät angegangen wurde und übrigens noch nicht erledigt ist, warten doch noch immer von Familienmitgliedern zurückgehaltene Dokumente aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darauf, wissenschaftlich gesichtet und kommentiert zu werden. Selbst bei den Programmheften hat es, wie Bermbach nachweist, ganz schön gedauert, bis die Ära von Hitler-Freundin Winifred Wagner endlich wirklich vorbei war.
Während bei der Festspiel-Wiedereröffnung 1951 Wieland Wagners „Parsifal“-Inszenierung schon den Weg in die abstrahierende „Entrümpelung“ aufzeigte, durften wendige Programmheftautoren der NS-Zeit wie Hans Grunsky, Zdenko von Kraft und Curt von Westernhagen erstmal weiterschreiben. Das überrascht nur vorderhand, denn es entsprach letztlich dem, was auch in allen anderen Bereichen der jungen Bundesrepublik passierte. Erst ab Ende der 50er-Jahre begann sich das auf der Bühne durch Wieland bereits etablierte modernere Wagnerbild auch in den Begleitheften zu spiegeln. Anstelle des Germanenkults traten jetzt die Antikenrezeption und C. G. Jungs Archetypen. Dass sich das kulturelle und intellektuelle Klima allmählich wandelte, wurde nun deutlicher auch in den Programmheften ablesbar.
Mit Beiträgen von Theodor W. Adorno, Ernst Bloch und vor allem Hans Mayer und rückte Neubayreuth auch nach Wielands Tod immer mehr, immer deutlicher ab von den unter Wagnerianern gern gepflegten rechtskonservativen Positionen – eine Entwicklung, die mit der damals heftig umstrittenen, inzwischen längst legendären „Ring“-Inszenierung Patrice Chéreaus zum Festspielzentenarium 1976 kulminierte. Linker als damals war Bayreuth vermutlich nie! Und das liest sich richtig spannend. Sofern man bis dahin brav durchgehalten hat. Denn Udo Bermbach hätte zuweilen, wie übrigens so manch anderer Programmheftautor auch, einen guten Lektor gebraucht.
Udo Bermbach: „Die Entnazifizierung Richard Wagners. Die Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1951–1976“, J. B. Metzler/Springer, Berlin 2020, 300 S., 39,99 Euro. In der Neuen Zürcher Zeitung gibt es einen ausführlichen Artikel Bermbachs zum Thema sowie aktuell eine Buchrezension von Marianne Zelger-Vogt.
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