Wer über „Wandel und Wechsel“ in Bayreuth nachdenkt, zitiert damit nicht nur Göttervater Wotan aus Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Sondern landet beinahe zwangsläufig bei Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1886–1957), der seinen literarischen Weltruhm der Familiensaga „Der Leopard“ (Il gattopardo) verdankt, deren zentraler Satz lautet: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.“ Wie es scheint, ist das nicht nur das Motto des Romanhelden Tancredi, sondern auch der Ära von Neuneubayreuth. Beziehungsweise von Katharina Wagner.
Die Nachfolge von Wagner-Enkel Wolfgang (1919–2010), der das 1973 in die Richard-Wagner-Stiftung eingegangene Familien-Unternehmen unglaubliche 57 Jahre geleitet hatte, lief von vornherein und mit Einverständnis von Bundes-, Landes- und Lokalpolitik auf sie hinaus. Planvoll wurde 2007 die damalige Jung-Regisseurin von den Eltern für ihr Hügel-Debüt mit den „Meistersingern“ engagiert und inszenierte sich selbst dabei als Mediendarling, planvoll setzte der schon greise Festspielchef noch seine Unterschrift unter den nächsten Bayreuth-Regieauftrag für 2015, bevor – nicht ganz so geplant – seine zwei Töchter aus zwei Ehen ihn 2008 als Festspielintendant beerbten. Dazwischen liegen sieben Jahre Veränderung sowohl in Hinblick auf die Festspiele insgesamt als auch auf Katharina Wagner als Regisseurin und als jetzige Solo-Chefin.
Zwar ist es schon zehn Jahre her, als mit Christoph Schlingensiefs „Parsifal“-Inszenierung erstmals die Berliner Volksbühnen-Ästhetik ins Festspielhaus einzog und viele Wagnerianer schockierte. Aber das Bayreuth-Debüt der Wagner-Urenkelin 2007 polarisierte letztlich noch mehr. Wie konnte ein waschechter Wagnernachkomme ausgerechnet die als Festoper von je her beliebten „Meistersingern“ so wüst auf den Kopf stellen? Würde, so die bange Frage 2015, Katharina weitermachen als Publikumsschreck und „Tristan und Isolde“ mit den hinlänglich bekannten Zutaten des deutschen Dekonstruktionstheaters auf die Bühne des Festspielhauses werfen?
Kritik und Publikum reagieren wohlwollend
Die gute Nachricht ist ein klares Jein, die schlechte Nachricht ebenso. Nein, die im Vorfeld von etlichen Medien bedeutungsschwanger als regieliche Meisterprüfung ausgerufene „Tristan“-Inszenierung wurde vom Publikum und vielen Kritikern erstaunlich wohlwollend aufgenommen. So als ob die ungewöhnlich lange Vorbereitungszeit – die letzte Inszenierung Katharina Wagners war 2011 „Tiefland“ in Mainz, nur noch gefolgt vom vorzeitigen Ausstieg aus dem fragwürdigen „Ring“-Projekt in Buenos Aires – auch ein entsprechend intensives Ergebnis gezeitigt hätte. Davon kann leider nicht die Rede sein.
Denn erstens scheitert die Inszenatorin über weite Strecken darin, durch entsprechende Figurenzeichnung allen Protagonisten ein schlüssiges und die Zuschauer berührendes Profil zu geben. Dass ein Bühnentier wie Evelyn Herlitzius schauspielerisch eine packende Isolde abgeben würde, war von vornherein klar, hat aber handwerklich kaum etwas mit der Personenführung zu tun, die zwar für Bewegung sorgt, aber Stillstand produziert. Was sich unschwer an dem solide singenden, aber eher bräsig wirkenden Tristan von Stephen Gould ablesen lässt. Erst recht an Georg Zeppenfeld als König Marke, den die Widersprüche zwischen dem, was er zu singen und zu spielen hat, eigentlich zerreißen müssten. Oder an der probaten Sängerdarstellerin Christa Mayer, die als Brangäne eingleisig dazu verdammt ist, eine ruhelos herumwuselnde, ständig am Rockband nestelnde Subalterne zu sein. Und an Iain Paterson, der als Kurwenal im Kampf mit den unerbittlichen Gefängnisbühnenbildern nur ein müder Abklatsch seiner Kollegen aus dem vorigen Bayreuther „Tristan“ von Christoph Marthaler ist.
Die Regie behauptet nur und sagt nichts
Zweitens setzt Katharina Wagner nach wie vor, jetzt aber nur mehr halbherzig ein die Gegebenheiten der Oper umstülpendes Konzept um, das nur behauptet und nichts beglaubigt. Zwar hat schon Thomas Mann konstatiert, dass es den Liebestrank gar nicht bräuchte, nur müsste das szenisch plausibel untermauert werden (was übrigens auch dem regiehandwerklich über Zweifel erhabenen Peter Konwitschny in seiner Münchner „Tristan“-Inszenierung nicht gelungen ist). Es reicht eben nicht, dass Tristan und Isolde im Treppen-Labyrinth à la Piranesi und M.C. Escher des 1. Akts magnetisch aufeinander zurasen, den Brautschleier zerreißen und den Trank verschütten, in der Folterkammer des 2. Akts unter Suchscheinwerfern ihr provisorisches Liebesnest mit Leuchtsternen behängen und später Selbstmord in einem Theaterblut spendenden, multifunktionalen Fahrradständer begehen wollen.
Wozu dann noch der 3. Akt? Damit Lars von Triers Konzept der „bereichernden Dunkelheit“ ansatzweise doch noch auf der Festspielhausbühne realisiert werden kann? Damit Tristan in seinem Fieber- oder Sterbewahn in magischen Dreiecken immer wieder Isolden sieht, die mal steif winkt wie eine Solar-Queen, mal den Kopf verliert, mal blutet, mal den Braut-, dann den Witwenschleier trägt und sich ins Nichts auflöst, wenn er sie umarmen will? Damit Katharina Wagner, weil das so ebenfalls noch nicht zu sehen war, mir nichts, dir nichts aus Marke einen Bösewicht in Senfgelb und mit Schnappmesser machen kann, der mit der Figur, wie sie im Libretto steht und komponiert ist, rein gar nichts mehr am Hut hat?
Natürlich hat die Wagner-Urenkelin von klein auf jede Menge gute, wirksame, ja geniale Theaterbilder gesehen und verinnerlicht, derer sie sich auf ihre Weise bedient. Daraus und aus ein paar neuen Ideen mischt sie ihre „Inszenierung“, die, wenn man genauer hinsieht, kaum einen regiehandwerklichen Fehler auslässt und den künstlerischen Willen, das künstlerische Können vermissen lässt, daraus ein schlüssiges Ganzes zu machen. Sie hat letztlich keine eigene Handschrift. Konzeptuell waren nur ihre ersten fünf, noch von dem Dramaturgen Robert Sollich geformten Regiearbeiten zumindest diskussionswürdig. Mit ihren jetzt sehr unterschiedlich begabten Ausstattern, Dramaturgen und Assistenten erreicht sie – unter großem bühnentechnischen und finanziellem Aufwand – bestenfalls gehobenes Stadttheaterniveau.
Das Publikum sieht über diese Mittelmäßigkeit gern hinweg, weil die musikalische Umsetzung teilweise noch jenen Ausnahmerang erreicht, den man von der Mutter aller Festspiele erwartet. Nicht zu vergessen die besondere Aura des Festspielhauses, in dessen Auditorium viele schon deshalb jubeln, weil sie es geschafft haben, überhaupt dort zu sein (was allerdings heutzutage gar nicht mehr schwierig ist, denn Karten sind keine Mangelware mehr). Und natürlich gibt es auch in Katharina Wagners „Tristan“-Inszenierung immer wieder Passagen – meist sind es die eher ruhigen, statischen, um nicht zu sagen langweiligen –, die es dem kundigen Zuschauer ermöglichen, den Dekonstruktionshammer zu verdrängen und auf der gegebenen Oberfläche in andere, eigene „Tristan“-Welten einzutauchen, was, selbstredend unter anderen Vorzeichen, schon bei den Regiearbeiten ihres Vaters prima funktioniert hat. Zumal sie sich diesmal einer zeitlos-abstrakten Ausstattungsästhetik bedient, die zwar in sich nicht schlüssig ist und funktionell zuweilen geradezu beleidigend hakt, dafür aber sängerfreundlich gebaut und eine Folie für schöne Momentaufnahmen ist (Bühne: Frank Philipp Schlößmann, Matthias Lippert; Kostüme: Thomas Kaiser, Licht: Reinhard Traub).
Nur ein Hauch von Metaphysischem
Die wohl schönste und längste Momentaufnahme liefert der 2. Akt, wenn Tristan und Isolde Hand in Hand, mit dem Rücken zum Publikum, die herniedersinkende Liebesnacht besingen und sich gespiegelt in einer Videoprojektion langsam und voneinander getrennt entfernen. Hier verbinden sich Szene und Musik am stärksten, leider nur hier streift die Produktion das Metaphysische – ein Kern dieses Wagnerwerks, was die Inszenatorin laut Interview mit dem Bayerischen Rundfunk allerdings nicht sonderlich interessiert.
Zum Ende hin ist natürlich nochmals alles anders. Wenn Isolde am Totenbett Tristans in grellem Licht ihr verklärtes „unbewusst –, höchste Lust!“ verhaucht hat, muss der Dirigent die letzten Takte schwer ausdehnen, damit der angeblich mafiöse Machtmensch Marke Isolde an sich reißen und wie ein Beutetier abschleppen kann ins künftige Eheleben. Was lernen wir daraus? Bestenfalls, dass ein anderer Blickwinkel keine neuen Erkenntnisse bringt, wenn er am Wesentlichen vorbeigeht.
Warum die brutale Schlusslösung nicht ausgebuht wurde – hasenherzig stellte sich die Regisseurin bei der Premiere nur im Team und nur Sekunden dem Publikum –, liegt unter anderem am brillanten Festspielorchester und dem souverän, frisch und analytischer als früher ans Werk gehenden Dirigenten Christian Thielemann. Die lange „Tristan“-Pause hat dem Wagner- und Bayreuth-Spezialisten hörbar gut getan. Was er aus den Instrumentalisten an Feinheiten herausholt, wie er mit ihnen die Partitur mal überraschend schnell auslegt, dann wieder einen fast zeitlos scheinenden Schwebezustand erreicht, ist großartig.
Ein großer Sänger-Dirigent ist er aber nicht. Zwar absorbiert er deren Aufmerksamkeit – keine Blickverbindung zwischen den Figuren auf der Bühne hält, weil alle Solisten immer wieder nach unten zu Thielemann in den Orchestergraben schauen –, aber wer so viele Ungenauigkeiten in Intonation, Rhythmik und Dynamik durchgehen lässt, hat als frischgebackener Musikdirektor etwas falsch gemacht. Sängerisch herausragend war bei der besuchten zweiten Vorstellung nur Georg Zeppenfelds König Marke, gut bis befriedigend die weiteren Solisten – stimmlich etwas außer Konkurrenz die inmitten anstrengender Elektra-Engagements ohne viel Probenzeit eingesprungene Evelyn Herlitzius, die aber als einzige eine überzeugende, rollengerecht sich entäußernde Figur gestaltet.
Die neue Chefin als „starke Frau“
Auch die Wiederaufnahmepremieren im Festspielhaus wurden überwiegend bejubelt. Was bei der heuer letztmalig gegebenen, intelligenten, hinreißend zwischen Erhabenheit, bösem Hintersinn und Lächerlichem changierenden und solistisch hervorragend besetzten „Lohengrin“-Inszenierung von Hans Neuenfels kein Wunder ist. Eher schon bei Jan Philipp Glogers „Holländer“-Version, die zwar wie alle Festspielaufführungen offiziell ausverkauft war, aber schon in der Premiere vor nicht vollbesetzten Zuschauerreihen ablief. Wer interessiert sich schon, wie selbst der lokale Kritiker schrieb, für blasse Repertoire-Vorstellungen?
Bayreuths Buhmann Nummer 1 darf mit seinen inzwischen vier „Siegfried“-Krokodilen nach wie vor Frank Castorf sein, selbst wenn der Protest gegen seine zynische „Ring“-Sicht nur noch ein Protestlein ist. Dass der leider scheidende, phänomenale „Ring“-Dirigent Kirill Petrenko nochmals Begeisterungsstürme auslösen würde, war klar. Umso beschämender, dass er nach seiner letzten „Götterdämmerung“ keinen Abschiedsvorhang mit dem Orchester auf der Bühne bekam. Wie unsouverän, unkünstlerisch und kleingeistig müssen die Festspielleitung und ihr Musikdirektor sein, dass sie dem von Kritik und Publikum einhellig gefeierten, stets bescheiden den Applaus ans Orchester weitergebenden Meister Petrenko verwehrt haben, was in Bayreuth jahrzehntelang ein guter und vom Publikum erwarteter Brauch war.
Vor und nach dem Premierenreigen verbreiteten etliche Medien übrigens fast wie bestellt ein wenig realistisches, dafür umso mehr idealisierendes Bild von Katharina Wagner als „starker Frau“. Es sieht also so aus, als könnte die 37-Jährige gelassen in die Zukunft blicken. Ihr Name steht nach außen hin jetzt für eine Regie, die gewissermaßen als staatstragend ankommt. Was den guten Willen all jener Bayreuth-Besucher illustriert, die in ihr – dank entsprechender Gene – eine bedeutende Wagnerregisseurin sehen, die sie mitnichten ist. Im Grunde funktioniert Bayreuth jetzt wie der Hofstaat des nackten Kaisers, der dessen nicht vorhandene Kleidung bejubelt. Fehlte nur noch, dass sie sich entgegen anderslautender Aussagen am Ende doch noch selbst beauftragt, 2020 den nächsten „Ring“ zu inszenieren.
Kein Ende der Machtkämpfe in Sicht
Katharina Wagners Name steht natürlich auch für die Neuerungen, Umstrukturierungen und Veränderungen der letzten sieben Jahre bei den Festspielen. Mit Kinder-Oper, Public-Viewing, Kino- und Fernsehübertragungen und Online-Kartenverkauf hat sie für Schlagzeilen gesorgt – und erst recht mit Pleiten, Pech, Pannen und Peinlichkeiten aller Art. Es fällt auf, dass sie sich inzwischen allen öffentlichen und repräsentativen Auftritten entzieht, was unkritische Medien immer noch mit ihren veralteten Model-Fotos kaschieren. Zur Pressekonferenz erschienen weder sie noch ihre Halbschwester noch der neue Musikdirektor, selbst zur Ehrung langjähriger Mitwirkender durch die Stadt Bayreuth kam sie nicht, obwohl sie selbst auch ausgezeichnet werden sollte. Interviews gibt sie sowieso nur noch handverlesenen Journalisten, zum Saisonabschluss gab sie der Lokalzeitung gnädig nur schriftlich Antworten, denen selbstverständlich zu entnehmen war, dass alles bestens sei. So viel zur neuen Offenheit und Transparenz.
Wie auch immer: Der vormals patriarchalisch geführte Familienbetrieb wurde in ihrer ersten Amtszeit, die sie bis Festspielende noch mit ihrer Halbschwester Eva Wagner-Pasquier teilte, in sichtlich nur schwer zu lenkende Staatsfestspiele umgebaut, bei denen als Gesellschafter der Festspiel-GmbH in erster Linie Politiker, Beamte und Vereinshonoratioren das Sagen haben. Aber selbst wenn die neue Chefin am Grünen Hügel in ihren Entscheidungen nur noch selten frei ist, ging und geht es letztlich immer auch darum, den eigenen Besitzstand, die eigene Macht zu sichern – wie beim eingangs erwähnten „Gattopardo“ und bei Wotan in Wagners unvergleichlichem „Ring“, dessen Botschaft auch für Wagner-Urenkelinnen lehrreich sein dürfte, ob sie nun Amélie, Dagny, Daphne, Eva, Katharina, Nike, Verena oder Winifred heißen.
Premiere am 25. Juli 2015, besuchte zweite Vorstellung am 2. August.
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