Warum hat eigentlich noch kein Wissenschaftler intensiv untersucht, wer warum wann bei den Bayreuther Festspielen buht bzw. jubelt? Natürlich wäre das ein schwieriges Unterfangen – arbeits- und zeitaufwändig, personalintensiv und kostspielig. Aber zu gerne wüsste man aufgrund von seriösen, möglichst mehrjährigen repräsentativen Umfragen, ob das Publikum bei der Eröffnung signifikant anders ist als bei den Wiederaufnahmen und Repertoirevorstellungen. Und wie bedeutsam die Meinungsunsicherheit der Zuschauer bei einer Neuinszenierung ist.
Die Buhrufer nach der „Lohengrin“-Premiere jedenfalls konnte man an zwei Händen abzählen, während im Vergleich zu den Vorjahren die Intensität der Ablehnung von Teams, die dem spezifisch „deutschen Regietheater“ zuzurechnen sind, anschließend deutlich zugenommen hat. Schon nach der „Parsifal“-Wiederaufnahme wurde viel gebuht, erst recht nach „Tristan und Isolde“ am 27. Juli 2018.
Als Regisseurin Katharina Wagner sich zeigte – sie kommt übrigens nie alleine vor den Vorhang, sondern stellt sich dem Publikum nur relativ kurz und ein einziges Mal zusammen mit ihrem Team und weiteren Mitwirkenden, so dass es manchmal dauert, bis jeder merkt, wer da alles steht –, war der Zuschauerprotest überraschend massiv. Wobei man nur raten kann, ob das nur ihrer Regiearbeit galt oder nicht auch der Festspielleiterin, als die sie seit nunmehr schon zehn Jahren fungiert.
Um beim kleineren Übel anzufangen: Ihre „Tristan“-Inszenierung von 2015 hat zwar einige Umbesetzungen und Modifikationen erfahren. Aber das ändert nichts daran, dass diese Mischung aus nur modischer Dekonstruktion und dem Versuch, auch konservativen Zuschauern etwas bieten zu wollen, überwiegend in Beliebigkeit, Biederkeit und Bedeutungsleere versinkt.
Katharina Wagner ist ein Regie-Eichhörnchen, das Ideen – wo immer sie auch herkommen und wie sinnvoll sie auch sein mögen – sammelt, in ihren Kochtopf wirft und verrührt. Wogegen im Prinzip nichts zu sagen wäre, das machen andere Regisseure auch. Das Problem ist, dass derlei konzeptuelle Einfälle, ob dramaturgisch sinnvoll gebündelt oder disparat aneinandergereiht, nur etwas taugen, wenn sie nicht oberflächlich bleiben, sondern von den Solisten verstanden, angenommen und inkarniert, das heißt mit Kopf und Körper, Seele und Stimme ausgedrückt werden.
Genau da liegt beim „Tristan“ und bei der Wagner-Urenkelin der Hase im Pfeffer. Wenn man zum Beispiel beim szenisch markant sein wollenden Zerreißen des Brautschleiers und später beim Zerreißen des Umhangs einer der Isolden-Erscheinungen genauer hinschaut, sieht man erstens, dass die Protagonisten vor allem die präparierten Stellen suchen, die sich problemlos reißen lassen. Und zweitens, dass es der Regisseurin nicht gelungen ist, die Solisten von der Richtigkeit und Wichtigkeit dieser Aktion zu überzeugen.
Stephen Gould und Petra Lang machen es nicht, weil sie von Katharina Wagner mit entsprechender Energie aufgeladen wurden, sondern weil sie es machen sollen. Das ist, selbst wenn die Hauptsolisten gesanglich extrem Schwieriges zu bewältigen haben, einfach zu wenig. Wenn das Titelpaar den Liebestrank mit großer Geste wegschüttet, bekommt das eben nicht die Tiefe, die in einschlägigen Gedanken Thomas Manns steckt, sondern ist wie der später folgende gemeinsame Selbstmordversuch und andere, vermeintlich „unkonventionelle“ Regie-Ideen durch nichts beglaubigte Effekthascherei.
Gleiches gilt für bildnerische Findungen (Bühne: Frank Philipp Schlössmann und Thomas Lippert, Kostüme: Thomas Kaiser) wie das Weg- und Zuklappen von Treppen im Labyrinth des 1. Akts und der diversen Klammern, Spangen und Stangen im wenig sinnfälligen Gefängnis des 2. Akts. Immerhin gibt es zuweilen „schöne“ Bilder und darin die Möglichkeit, sich von den vorgegebenen Regieeinfällen wegzudenken.
Die Solisten können in einem solchen Rahmen immer noch viel, aber natürlich nicht ihr Bestes geben. Das Publikum feierte Tristan Stephen Gould und Isolde Petra Lang ausgiebig. Beide sind mit ein paar darstellerischen bzw. stimmlichen Defiziten solide Wagnersänger, die der wunderbare Bassist René Pape als König Marke spielerisch in den Schatten stellt und mit dem noch tiefer als sonst sitzenden gelben Hut vielleicht sein Unbehagen an der absurden Figurenzeichnung seiner Rolle ausdrückt.
Durchgängig Glanzpunkte setzten für mich an diesem Abend nur Christian Thielemann und das großartige Festspielorchester. Für so viele Feinheiten und zeitlos scheinenden Schwebezustand, für so viel rasante Steigerungen und Leidenschaft bei gleichzeitig kluger Übersicht und großer Linie muss man schlichtweg dankbar sein.
Besuchte Premierenvorstellung vom 27. Juli 2018, Erstveröffentlichung im Feuilleton des Fränkischen Tags am 30. Juli. Weitere Vorstellungen am 13., 16., 20., 24. und 28. August.
Ähnliche Beiträge
- Endlich staatstragend? 30. Juli 2015
- Blau bis in die Haarspitzen 27. Juli 2018
- Spendenaufruf für zwei Bamberger Bühnen 22. April 2020
- Bleihufe statt Leidenschaft 1. August 2018
- Endlich wieder ein Saalplan nach Sichtlinien 5. März 2022