Regiemodenschau im Retrochic

Frank van Hove als Hans Sachs im Schluss­bild der Er­fur­ter Meis­ter­sin­ger-In­sze­nie­rung Foto: Lutz Edelhoff

Die gute Nach­richt zu­erst: Als die Er­fur­ter Meis­ter­sin­ger-Neu­in­sze­nie­rung ge­plant und er­ar­bei­tet wur­de, war noch of­fen, ob die Ko­pro­duk­ti­on mit dem Deut­schen Na­tio­nal­thea­ter Wei­mar nicht der An­fang vom Ende für ei­nes der bei­den Häu­ser sein könn­te. Die neu­er­li­chen mi­nis­te­ria­len Spar- und Zu­sam­men­le­gungs­träu­me sind ge­platzt, seit Mit­te Juni ist ver­trag­lich fest­ge­macht, dass Er­furt und Wei­mar in der Thü­rin­ger Thea­ter­land­schaft ei­gen­stän­dig blei­ben dür­fen und bei künf­ti­gen Ko­ope­ra­tio­nen eine zu­sätz­li­che klei­ne staat­li­che Fi­nanz­sprit­ze bekommen.

Die Zu­sam­men­ar­beit von zwei be­nach­bar­ten Häu­sern liegt ge­ra­de bei den Meis­ter­sin­gern auf der Hand. Beim ge­ge­be­nen über­durch­schnitt­li­chen Be­darf an So­lis­ten und Chor­sän­gern zahlt sich die Ver­stär­kung aus dem Part­ner­haus aus und er­leich­tert zu­dem die sze­ni­sche Ein­stu­die­rung. Die or­ches­tra­le In­ter­pre­ta­ti­on hin­ge­gen blieb im ge­ge­be­nen Fall haus­in­tern und un­ter der Lei­tung des je­wei­li­gen Ge­ne­ral­mu­sik­di­rek­tors, das heißt in der Er­fur­ter Auf­füh­rungs­se­rie spiel­te das Phil­har­mo­ni­sche Or­ches­ter mit Ver­stär­kung durch die Thü­rin­gen Phil­har­mo­nie Go­tha un­ter sei­ner erst jüngst ver­län­ger­ten Che­fin Jo­a­na Mall­witz, in Wei­mar wird die dor­ti­ge Staats­ka­pel­le un­ter Ki­rill Ka­ra­bits musizieren.

Die we­ni­ger gute Nach­richt ist, dass das Re­gie­team un­ter an­de­rem auch den kon­kret be­fürch­te­ten kul­tu­rel­len Kahl­schlag in Thü­rin­gen un­be­dingt mit ein­bau­en woll­te. Was trotz und we­gen des be­kannt­lich gern po­li­tisch stra­pa­zier­ten Meis­ter­sin­ger-Zi­tats „Hier gilt’s der Kunst“ nicht über­zeu­gend ge­lang, aber sym­pto­ma­tisch ist für die In­sze­nie­rung, die al­ler­hand Un­sinn be­haup­tet und nichts da­von zu be­glau­bi­gen weiß. Was Vera Nemi­ro­va und ihre re­gie­lich mit­ar­bei­ten­de (und an­dern­orts des­halb ge­fürch­te­te) Mut­ter Son­ja Nemi­ro­va, Büh­nen­bild­ner Tom Musch und Kos­tüm­bild­ne­rin Ma­rie-Thé­rè­se Jos­sen ela­bo­riert ha­ben, ist lei­der nur eine von vie­len über­flüs­si­gen Va­ri­an­ten des heu­ti­gen Möch­te­gern-Re­gie­thea­ters, das ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te und das Werk ak­tua­li­siert, ver­frem­det und auf den Kopf stellt. Die Re­gis­seu­rin ist wohl­ge­merkt hand­werk­lich ver­siert, nur ist das, was sie aus den So­lis­ten und Cho­ris­ten dar­stel­le­risch her­aus­holt, nur pseu­do-kri­tisch und geht am Kern des Werks vorbei.

Vor al­lem Beck­mes­ser will sie ge­wis­ser­ma­ßen re­ha­bi­li­tie­ren. Er soll also, ähn­lich wie 2007 in der ver­fehl­ten Bay­reu­ther In­sze­nie­rung Ka­tha­ri­na Wag­ners, als der ein­zig wah­re künst­le­ri­sche Avant­gar­dist rü­ber­kom­men, was so na­tür­lich nicht im Li­bret­to steht und das Be­zie­hungs­ge­flecht zwi­schen den Haupt­fi­gu­ren der Hand­lung emp­find­lich stört. Der spä­te­re Glam-Ro­cker Beck­mes­ser wird mehr­fach di­ri­gie­rend ge­zeigt – am schöns­ten im Vor­spiel zum 3. Akt, wo er im men­schen­lee­ren Pro­ben­saal auf der Büh­ne ein ima­gi­nä­res Or­ches­ter lei­tet. Ein stim­mungs­vol­les Bild. Nur, was sagt es uns? Sei­nen ers­ten Auf­tritt hat er als Chor­di­ri­gent im Kir­chen­bild zu Be­ginn des 1. Akts, der hier in ei­nem Ki­no­saal der Nach­kriegs­zeit spielt. Schon hier hat die In­sze­nie­rung »ver­sun­gen und ver­tan«: Wenn etwa ein Vier­tel der zah­len­den Zu­schau­er gar nicht se­hen kann, was da auf der Lein­wand in der rech­ten Ecke flim­mert, darf man den Sinn die­ser dop­pelt päd­ago­gisch ge­mein­ten Sze­ne ernst­haft hin­ter­fra­gen. In der leicht ost­al­gi­schen Aus­stat­tung im Re­tro­chic der 50er- bis 70er-Jah­re reiht die Re­gis­seu­rin ihre Ein­fäl­le an­ein­an­der, ohne ei­nen tie­fe­ren Zu­sam­men­hang her­zu­stel­len. Die ein­zi­ge Kon­stan­te sind die über­ra­schen­den Poin­ten zum Akt­schluss, die al­ler­dings kaum ei­ner wei­ter­den­ken will und kann. Nemi­ro­va greift ger­ne und in­ten­siv in die Kli­schee- und Kla­mot­ten­kis­te, so dass man sich im­mer wie­der fra­gen muss, war­um Wag­ner für all die­se we­nig ein­neh­men­den Fi­gu­ren so schö­ne Mu­sik ge­schrie­ben hat.

Was ler­nen wir über die Meis­ter, wenn sie mit In­stru­men­ten und im Sport­dress zu ei­ner er­fun­de­nen Or­ches­ter­pro­be kom­men, aber nicht mu­si­zie­ren, son­dern mit ih­ren Mu­ckis spie­len? War­um müs­sen Eva und Mag­da­le­ne stre­cken­wei­se wir­ken, als sei­en sie ei­nem bo­den­los schlech­ten Sex­film der 60er ent­sprun­gen, nach dem Mot­to »Hin­term Sofa wird ge­jo­delt«? Was sind das für Frau­en und Män­ner, die ok­to­ber­fest­mä­ßig auf­ge­bre­zelt dem Pu­bli­kum von den Sei­ten­auf­gän­gen im Au­di­to­ri­um her ih­ren Wach-auf-Chor so di­rekt in die Oh­ren sin­gen, dass kein Or­ches­ter­ton mehr zu hö­ren ist und auch der auf der Büh­ne al­lein ge­las­se­ne Hans Sachs sich ge­pei­nigt die Oh­ren zu­hal­ten muss? Soll das die Auf­ar­bei­tung der Re­zep­ti­ons­ge­schich­te sein?

Ach, scha­de um all die wun­der­ba­ren Mo­men­te in die­sem Meis­ter­werk, die die Re­gie um ein paar we­nig sa­gen­de Gags ver­schenkt und zu­wei­len so­gar be­schä­digt. Die Mu­sik blüh­te In Er­furt un­ter der ein­fühl­sam und ent­schie­den un­pa­the­tisch di­ri­gie­ren­den Jo­an­na Mall­witz vor al­lem dann auf, wenn sich auf der Büh­ne we­ni­ger tat. Hier, in der mu­si­ka­li­schen In­ter­pre­ta­ti­on, lag viel Po­ten­zi­al, wäh­rend das Re­gie­thea­ter mit sei­nen mo­di­schen In­gre­di­en­zi­en platt auf der Stel­le tritt. Frank van Hove ist ein klug dis­po­nie­ren­der, ein­neh­men­der, sehr wort­ver­ständ­li­cher Sachs, dem bei der Pre­mie­re nur zwei wei­te­re So­lis­ten das Was­ser rei­chen konn­ten: Ilia Pa­pan­dre­ou als so­pran­leuch­ten­de Eva und Alik Ab­du­kayu­mov als stimm­mäch­ti­ger Kothner.

Be­such­te Pre­mie­re in Er­furt am 29. Mai 2016, wei­te­re Auf­füh­run­gen in Wei­mar am 5. und 13. No­vem­ber, 4. und 25. De­zem­ber so­wie am 7. Ja­nu­ar 2017, Kar­ten­te­le­fon un­ter 03643/755-334, www​.na​tio​nal​thea​ter​-wei​mar​.de

Erst­ver­öf­fent­li­chung in: Das Or­ches­ter, Heft 9/2016