„Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann: große, anstrengende und überwältigende Musiktheaterkunst im Nürnberger Opernhaus.
Sie ist ein Schlüsselwerk der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nicht nur der extremen aufführungspraktischen Anforderungen wegen ein Monstrum: Bernd Alois Zimmermanns vor über fünfzig Jahren uraufgeführte Oper „Die Soldaten“ ist vor allem ein Angriff auf das menschliche Gehör und Erfassungsvermögen, ist ein Angriff auf Herz und Hirn. Am Samstag hatte die Neuinszenierung von Peter Konwitschny unter der musikalischen Leitung von Marcus Bosch am Opernhaus Nürnberg Premiere, die Vorstellung am 20. März wird pünktlich zum 100. Geburtstag des Komponisten ab 19.30 Uhr live auf BR Klassik übertragen.
Dass diese Oper, wie das Journal des Staatstheaters Nürnberg behauptet, eine „beglückende“ Herausforderung für die Akteure eines Opernhauses wie auch für ihr Publikum sein soll, ist natürlich Marketing-Sprech. Beglückt geht vermutlich kein Zuschauer nach Hause, selbst wenn ihm am Ende die szenisch vorgeschriebene Atompilzwolke erspart bleibt. Und auch für Solisten und Musiker sind „Die Soldaten“ ganz bestimmt kein Zuckerschlecken, sondern extrem harte Kost. Das Werk galt aus guten Gründen zunächst als unaufführbar.
Was schon allein an der Anzahl der beteiligten Schlagzeuginstrumente ablesbar ist. In Nürnberg sind 25 Schlagzeuger an insgesamt 75 Instrumenten im Einsatz, von denen das Gros vom Orchestersaal aus live übertragen wird. Drei weitere mobile Schlagzeuggruppen sind direkt auf der Bühne – darunter unser Stipendiat von 2015, der Bamberger Nachwuchskünstler Felix Uttenreuther – und lassen am Ende des ersten Akts ein Gewitter losbrechen, das sich gewaschen hat und auf Ohren trifft, die durch den Urknall des Vorspiels und die sängerischen Intervallsprünge schon halbwegs freigepustet sind.
Generalmusikdirektor Marcus Bosch, assistiert von mehreren Ko-Dirigenten, führt mit militärischer Akkuratesse durch die hochkomplexe Zwölftonmusik und hat den Riesenapparat so gut im Griff, dass die fast zwanzig Solisten auf der Bühne sich sicher fühlen können – allen voran die dänische Sopranistin Susanne Elmark, die sängerdarstellerisch phänomenale Marie. Auch mit den weiteren Hauptsolisten, teils Gäste, teils Ensemblemitglieder, legt das Haus viel Ehre ein: Jochen Kupfer als Stolzius, Tilmann Rönnebeck als Wesener, Uwe Stickert als Desportes, Antonio Yang als Feldprediger und Solgerd Isalv als Charlotte ragen aus der ohnehin erstklassigen Besetzung noch heraus.
Ein Besetzungscoup ist dem scheidenden Intendanten Peter Theiler auch mit dem Regieteam gelungen. Peter Konwitschny und sein farbklarer Ausstatter Helmut Brade stellen die fünfzehn Szenen der Handlung, deren Text auf der gleichnamigen Komödie von Jakob Michael Reinhold Lenz fußt, und die neun Instrumentalteile des vieraktigen Werks mit den einfachen Mitteln der Brecht-Bühne auf die Füße und ins Hier und Heute. Die Geschichte des gefallenen Bürgermädchens spielt in einer durch und durch verrohten Gesellschaft. Anstelle einer historisierenden Soldateska gibt es Männer in Business-Anzügen, die ihr Chill-Out mal Fußball spielend, mal in einem coolen Club betreiben, wo sie uncool und machomäßig ausrasten.
Der Regisseur macht gleichwohl nicht den Fehler, alle Gewalt auf der Welt nur den Männern zuzuschreiben. Dass Frauen nicht nur unter, sondern auch hinter ihnen stehen, macht die genial inszenierte Bettszene des zweiten Akts erfahrbar: In heutigen MeToo-Zeiten ist es zwar selbstverständlich, Väter zu thematisieren, die ihren Kindern zu nahe treten. Aber auch Mütter können auf ganz unterschiedliche Weisen ihre Söhne und Töchter missbrauchen. Diese Simultanszene zeigt unmissverständlich, dass alle Verlierer, alle Opfer sind – „Soldatinnen“ inbegriffen.
Nach der Pause und zum letzten Akt wird das Publikum selber auf die bis auf das Schlagwerk leere schwarze Bühne geschickt. In dem jetzt ungewohnt riesenhaften Raum stehend verändern sich die Perspektive und die Klangwahrnehmung nochmals – und intensiv. Die Einheit von Zeit, Raum und Handlung ist endgültig aufgehoben und lässt erahnen, was der Komponist mit der „Kugelgestalt der Zeit“ gemeint haben könnte. Schon nach der Münchner „Soldaten“-Produktion 2014 habe ich den nicht seltenen Zwölftonmusiktheaterangsthasen einen Besuch nahegelegt. Diese große, anstrengende und überwältigende Musiktheaterkunst gibt es jetzt, szenisch noch überzeugender und musikalisch hochrangig, auch in Nürnberg zu erleben.
Besuchte Premiere am 17. März, weitere Vorstellungen am 20. und 25. März sowie am 8., 14. und 23. April. Karten-Telefon 0180-1344276. Live-Übertragung auf BR Klassik am 20. März um 19.30 Uhr. Das Staatstheater Nürnberg widmet den „Soldaten“ außerdem am 14. und 15. April unter dem Titel „Wahrnehmungstheater“ ein hochrangig besetztes zweitägiges Symposium unter der Leitung von Staatstheaterdramaturg Kai Weßler und der Leiterin der Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe, Prof. Dr. Dörte Schmidt.
Erstdruck im Feuilleton des Fränkischen Tags vom 20. März 2018
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