Dass der Monat Juni in der Wagner-Familie voller Geburtstage steckt, ist mir zum ersten Mal aufgefallen, als ich angefangen habe, meinen immerwährenden Wagner-Kalender aufzubauen. Die erste Generation nach Richard und Cosima bietet mit Siegfried Wagner und Winifred Williams gleich zwei maßgebliche Juni-Geburtstagskinder auf, unter den insgesamt Urenkeln sind es immerhin vier, die in diesem Monat Grund zum Feiern haben. Der Jubilar des Tages ist Siegfried, der einzige Sohn von Cosima und Richard Wagner, der heute vor 150 Jahren in Tribschen geboren wurde.
Schon immer war die Geburt eines Kronprinzen, des Thronfolgers, ein besonderes Ereignis – auch und gerade bei den Royals von Bayreuth, in denen zwar von mütterlicher Seite her durchaus etwas blaues Blut steckt, die aber auch ohne einschlägige Abstammung ihr eigenes Königreich gesucht und gefunden haben. Wie Richard Wagner seinen Stammhalter begrüßte, kann man detailliert und in seiner Handschrift in den Tagebüchern seiner noch nicht angetrauten, nach wie vor mit Hans von Bülow verheirateten Frau Cosima nachlesen, denn er übernahm, als die Geburt unmittelbar bevorstand, die Eintragungen in dem Quartheft, das Cosima zuerst pauschal ihren Kindern und dann Siegfried im Besonderen zueignete. Hier einige Auszüge:
Die Amme kam zurück, R. entfernte sich wieder in das Nebenzimmer; dort blieb er Ohrenzeuge des Entbindungsvorganges u. hörte den Jammer der gebärenden Mutter an. Da er Vreneli hinzukommen hört und auch einige Worte der Amme vernimmt, wie sie bestürzt ausruft: Ach, Herr Gott im Himmel! glaubt R., etwas Furchtbares sei mir geschehen, eilt auf die Treppe, um es von der davonstürzenden Vreneli zu erfahren: diese aber lacht ihm freudig entgegen: „Ein Sohn ist da!“ Ihre Bestürzung hatte nur der Überraschung gegolten, weil so wenig noch vorbereitet war. Jetzt ging R. in den Salon zurück: von der ohnmächtigen Mutter vernahm er wenig mehr, dagegen unterschied er nun deutlich das kräftige Schreien des Knaben. Er starrte in erhabener Bedeutung vor sich hin; da überraschte ihn ein unglaublich schöner Feuerglanz, der an der Orange-Tapete zunächst der Schlafzimmertüre mit nie gesehener Farbenglut sich entzündete und auf die blaue Schatulle mit meinem Portrait sich zurückspiegelte, so dass dieses, von Glas überdeckt und mit einem kleinen Goldrahmen eingefasst, in überirdischer Pracht sich verklärte. Die Sonne war soeben über den Rigi hervorgetreten und hatte ihre ersten Strahlen hereingeworfen: der glorreichste Sonnentag leuchtete. R. zerfloss in Tränen; da dringt auch mir das Frühgeläute der Sonntagsglocken von Luzern über den See herüber. Er sah nach der Uhr und bemerkte, dass sein Sohn um 4 Uhr des Morgens geboren worden war. – Gegen 6 Uhr konnte R. bei mir vorgelassen werden; er teilte mir seine feierliche Ergriffenheit mit. Ich war heiter und froh gestimmt: das Geschenk, welches uns das Schicksal durch die Geburt eines Sohnes machte, erschien mir sogleich von unermesslich tröstlichem Werte. Ein Sohn R.’s ist der Erbe und einstige Vertreter des Vaters seiner Kinder; er wird der Schützer und Geleiter seiner Schwestern sein. Wir waren sehr glücklich. Der Knabe ist groß u. stark: sie sagten, er wiege 2 Pf und schwerer als andre neugeborne Knaben. Wir besprachen seinen Namen: Siegfried Richard. R. trieb es, seine Freude dem Hause zu bezeugen: er ließ an die Hausleute ansehnliche Geschenke verteilen.
Weitere längere Eintragungen durch Wagners Hand folgen, vermutlich nach dem Diktat Cosimas. Am Mittwoch, den 9. Juni 1869, schreibt er unter anderem aus dem dritten „Siegfried“-Akt in Noten und Text Brünnhildes eigens lang gedehntes Finale „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ auf. Erst am Sonntag, den 13. Juni, hatte sich Cosima so weit erholt, dass sie sich wieder in ihrer Handschrift zu Wort meldete: „O Heil dem Tag, der uns umleuchtet, heil der Sonne, die uns bescheint! – – – Wie will ich Ärmste die Gefühle niederschreiben, mit welchen ich dieses Buch wieder in die Hand nehme? … Als die Frau mir sagte: ‚Ich gratuliere, es ist ein Knäblein‘ – musste ich weinen und lachen und beten. – Erhalte ihn mir, Gottheit, die mir ihn gab, er sei die Stütze seiner Schwestern, der Erbe seines angebeteten Vaters.“ Und weiter:
Nun mein Glück so süß greifbar mir vor Augen liegt, erscheint es mir immer heftiger, körperloser, ich sehe es schweben, sich erheben hoch über alle Nöte und kann nur der Weltseele danken, die uns durch solches Zeichen verkündete, dass sie uns freundlich ist. Prachtvoll leuchtet der Tag, ich schlief die Nacht nicht, befinde mich aber wohl. Ich überlegte einen an Hans zu schreibenden Brief, worin ich ihm mein früheres, mein jetziges und mein künftiges Verhältnis zu ihm (wenn er darauf eingehen will!) darlegen will. Gott gebe mir das Richtige, um ihm ein wenig zu helfen. R. arbeitet, ich höre es mit Wonne; wie er zu mir heraufkommt, teilt er mir mit, wie wunderbar es sich fügt, dass sein Jubel-Thema („sie ist mir alles“) sich zu dem Motiv „Heil der Mutter, die mich gebar“ als Begleitung vortrefflich anschmiegt, so dass dieser Jubel im Orchester ununterbrochen in, wo Siegfried selbst darin einstimmt, erklingt.“
Sie schließt ihren Jubelsang wie folgt: „Bei wunderbarstem Sonnenuntergang, beim Fenster liegend, schreibe ich diese Zeilen. Könnte ich einen Hymnus an die Gottheit singen! R. singt ihn für mich, der meinige ist meine Liebe zu ihm. Mein Siegfried, Krone meines Lebens, zeige du, wie ich deinen Vater geliebt! – Den Tee mit R. getrunken. Um 9 zu Bett. R. liest mir aus D. Quixote vor.“
Der ursprüngliche Plan, den neugeborenen Sohn zuhause in der Tribschener Villa vom evangelischen Pfarrer taufen zu lassen, wurde ebenso schnell wieder fallen gelassen wie andere mögliche Alternativen, denn juristisch gesehen hätte das Kind Siegfried von Bülow heißen müssen: „Verzögerung dünkt rätlich“, notiert Ehebrecher Wagner am 11. Juni ins Tagebuch seiner ihm noch nicht angetrauten Frau. Tatsächlich sollte es noch mehr als ein Jahr dauern, bis Helferich Siegfried Richard Wagner am 4. September getauft werden konnte, kurz nach der endlich erfolgten Heirat seiner Eltern am 25. August 1870. Und noch später, zum 33. Geburtstag seiner Mutter, erklang am 25. Dezember 1870 erstmals im Treppenhaus jenes Musikstück, die „Tribscher Idylle“, die später als Siegfried-Idyll berühmt werden sollte und Friedrich Nietzsche selbst dann noch als „heiter und tief, wie ein Nachmittag im Oktober“ schätzte, als er sich von Wagner abgewandt hatte.
Die weiteren Juni-Geburtstagskinder seien hier zumindest noch erwähnt: Gestern, am 5. Juni 2019, feierte Amélie Hohmann, das älteste der fünf Kinder von Siegfried-Tochter Verena und Bodo Lafferentz, ihr 75. Wiegenfest – jene Urenkelin, die vermutlich in einem weißen Aktenschrank in München noch allerhand aus dem Nachlass ihrer Großmutter Winifred Wagner verwahrt, das für die Öffentlichkeit und die Wagnerforschung von Interesse sein könnte. Die Letztgenannte wurde als Winifred Marjorie Williams am 23. Juni 1897 im britischen Hastings geboren. Terminlich dazwischen liegen aus der Urenkelgeneration die Wieland-Töchter Nike Wagner (9. Juni 1945) und Iris Wagner (12. Juni 1942) sowie Verena-Sohn Wieland Lafferentz (11. Juni 1949), der Cosima-Enkel Manfredi Gravina (14. Juni 1883) und Wolfgang Wagners zweite Frau Gudrun Armann (15. Juni 1944). Nicht zu vergessen der vermutliche Vater des Wagnerclan-Stammvaters: Friedrich Wilhelm Wagner, der erste Mann von Wagners Mutter Johanna Rosine Paetz, kam am 18. Juni 1770 in Leipzig auf die Welt und starb ein halbes Jahr, nachdem sein Sohn Richard geboren ward.
Ähnliche Beiträge
- Wagners Tribschen 15. April 2020
- Richard Wagners Seitensprünge 28. Januar 2019
- Unehelich ist nicht gleich unehelich 10. Februar 2019
- Zum Tod von Verena Lafferentz, der letzten Enkelin Richard Wagners 26. April 2019
- Soldchen, das erste Kind der Liebe 10. April 2020