Die Sopranistin Amalie Materna, die vor 175 Jahren am 10. Juli 1844 in St. Georgen bei Graz geboren wurde, gab bei den ersten Festspielen 1876 die Wotanstocher und 1882 die Kundry der „Parsifal“-Uraufführung.
„Schwer wiegt mir der Waffen Wucht“ singt Brünnhilde betrübt am Ende der 2. Szene im 2. Akt „Walküre“. Ob Amalie Materna, die erste Bayreuther Titelheldin, am 14. August 1876 dabei an ihr Bühnendebüt zurückgedacht hat, ist leider nicht überliefert. Aber es lohnt sich daran zu erinnern, dass die große Wagner-Heroine ihre Laufbahn als Soubrette in einer Operette von Franz von Suppé startete – je nach Quelle entweder in „Flotter Bursche“ oder, noch schöner, in „Leichte Kavallerie“.
Es war, was überraschend klingen mag, eben diese Operettenvergangenheit, die sie in den Ohren Richard Wagners für Bayreuth prädestinierte. Julius Hey, ab 1875 gesangstechnischer Berater in Bayreuth, schreibt in seinem Buch „Richard Wagner als Vortragsmeister“: „Das wird manchem als die allerbedenklichste Vorbereitung für Wagners dramatischen Vortragsstil bedünken; gleichwohl – horrible dictu – gereichte sie unserer Künstlerin zum Heil, denn sie lenkte dadurch des Meisters Interesse und Wohlgefallen auf sich, als sie in Wien vor ihm Probe sang. Angenehm überrascht von ihrem gut verständlichen Textgesang, übertrug er ihr unbedenklich die vornehmste Rolle im Ring: die Brünnhilde.“
Und weiter: „Die erste und unabweislichste Forderung an eine Operettensängerin besteht bekanntlich in der größten Deutlichkeit, der schärfsten Ausprägung des meist lebhaften, somit besonders erschwerten Textgesanges. Die Gewöhnung eines scharf akzentuierten Textgesanges, dessen Aufgabe darin besteht, den Sinn der gesungenen Worte und Sätze dem Zuschauer zum vollsten Verständnis zu bringen: das kann bei einer günstig veranlagten Naturstimme unter Umständen eine anwachsende Klangfülle, sogar eine Befestigung der Registerbehandlung bewirken, vorausgesetzt, dass das Stimmorgan eine zwanglose Behandlung erfährt und nicht durch unvernünftiges Forcieren frühzeitig Schmelz und Wohllaut einbüßt.“
Materna brachte offensichtlich die besten Voraussetzungen mit, auch wenn an ihrem allzu scharfen und spitzen „I“ und ihrer mangelnden Modulationsfähigkeit noch viel gearbeitet werden musste, bis Wagner vollauf zufrieden sein konnte. „Wir waren begreiflicherweise“, erinnerte sie sich 1912 in einem Zeitungsbericht, „noch zu sehr in Gewohnheit und Tradition befangen, als dass unsere Einfühlung und unser Vordringen in das Neuland so ganz glatt und ohne jede Mühsal vor sich gegangen wäre.“
Amalie Materna wurde am 10. Juli 1844 in St. Georgen in der Steiermark geboren, zeigte schon als Kind musikalische Begabung und wurde in Graz ausgebildet, wo sie 1865 debütierte. Mit ihrem Mann, dem Schauspieler und Operettensänger Karl Friedrich, wechselte sie als Operettensoubrette nach Wien, wo sie nach weiteren Studien 1869 als erste dramatische Sopranistin an die Hofoper engagiert wurde. Dort feierte sie schnell große Erfolge – darunter als Titelheldin der Uraufführung von Karl Goldmarks „Königin von Saba“ 1875 und in den großen Wagnerrollen.
Nach ihrem Bayreuth-Debüt mit Brünnhilde 1876 nahm Wagner sie im Jahr darauf mit auf seine zweite England-Tournee, 1882 war sie die Kundry der „Parsifal“-Uraufführung und trat in Wagnerkonzerten erstmals auch in Amerika auf. Engagements an der New Yorker Met und bei der Damrosch Opera Company folgten. Ihren Bühnenabschied nahm sie 1894 in Wien, fast ein Vierteljahrhundert später, am 18. Januar 1918 starb sie in Wien, wo sie in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof ihre letzte Ruhestätte fand.
Fünf Jahre zuvor trat die gefragte, zu diesem Zeitpunkt fast 70-jährige Gesangspädagogin nochmals in Wien auf, als Kundry in einem Konzert zum 100. Geburtstag Wagners am 22. Mai 1913. Letzterer erinnerte sich ihrer bis zuletzt. Vier Wochen vor seinem Tod in Venedig schrieb Wagner an Materna: „Haben Sie Dank für ihre große und grandiose Natur, die wie ein erfülltes Bedürfnis in mein Leben getreten ist, - Gott, wenn ich der letzten Kundry-Abende gedenke: Adieu: Liebe, Gute, Beste“. Noch am 6. Februar 1883 notierte Cosima Wagner in ihrem Tagebuch: „Abends wird die Besetzung des Parsifal besprochen und die Freude, welche R. an der Kundry von Materna hatte.“
Fast ein halbes Jahr zuvor hatte Cosima aktuell von den letzten „Parsifal“-Aufführungen 1882 geschrieben und zitierte dabei Siegfrieds Hauslehrer Heinrich von Stein, der als besondere Qualität dieser Vorstellungen hervorhob, „wie viel die Sänger gelernt hätten. Die Materna habe ihn völlig in Erstaunen gesetzt, und er erzählt, wie sie ihm gesagt hätten: Es sei etwas ganz anderes, wenn er da bei ihnen in den Kulissen stünde!“
Eine ähnliche Erfahrung war übrigens auch Gwyneth Jones, der Brünnhilde des Jahrhundert-„Rings“ 1976, und den weiteren Solisten dieser legendären Festspielinszenierung beschieden. Denn Regisseur Patrice Chéreau reiste nicht etwa nach der Premiere der „Götterdämmerung“ ab, sondern war auch in den folgenden Zyklen und zumindest den nächsten zwei Festspielsommern mit einer Ausnahme bei jedem „Ring“ hinter den Kulissen präsent und sorgte auch damit für darstellerische Leistungen, die allen, die sie miterleben durften, unvergessen sind. 1976 gab es übrigens im 3. Akt „Walküre“ zum bisher letzten Mal echte Pferde auf der Bühne des Festspielhauses. Im Jahr darauf konnte Regisseur Patrice Chéreau dank des neuen und ingeniösen Walkürenfelsens von Richard Peduzzi auf die lebendigen, aber medikamentös ruhig gestellten Pferde verzichten.
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