Die Künstlerin rosalie, die am 12. Juni 2017 im Alter von nur 64 Jahren starb, hat nach dem Tod von Festspielleiter Wolfgang Wagner einen Text erfasst, den uns Thomas Jürgens, ihr langjähriger Lebensgefährte und Mitarbeiter, uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
Nachdenkend über den Tod von Wolfgang Wagner schien mir zunächst alles überschattet von bestürzter Betroffenheit und tiefer Trauer. Wie denn darüber sprechen, wovon einzig Schweigen angemessenen Ausdruck verleihen mag? Sogleich aber stellen sich Bilder der Erinnerung vor dem geistigen Auge des Eingedenkens ein.
Diese so geheimnisumrankte erste Begegnung nach meiner Hamburger „Idomeneo“-Premiere Mitte Januar 1990 mit Wagners Worten nach der Vorstellung: „Ich möchte Sie unbedingt nach Bayreuth einladen!“ – Der eigentliche Grund für die Einladung blieb zunächst vollkommen kryptisch. Die Zusammenkunft im Festspielhaus dann aber war weitaus mehr als nur ein gelegentliches Treffen. Im Konferenzraum die lange, karge Tafel, reichlich gedeckt. Auf dem Konferenztisch freilich, wie beiläufig, die Hauptsache, als Bleistiftvertrag wie mit Kreide auf Glas geschrieben:
Vorvertrag „Der Ring des Nibelungen“. Das also war der eigentliche Grund – das traf – mich – im Innersten. Für alle Zeiten.
Sogleich entsteht darüber eine Vielzahl von Erinnerungsbildern im Gedächtnis, Bilder der Zusammenarbeit und Verbundenheit, die weit über die konkrete Arbeit am „Ring“ hinausreichen.
Er war es, der uns damals, 1994, als die Oper Nürnberg mit dem „Prometheus“-Projekt in akuten Finanznöten zu ersticken drohte, mit großzügiger Geste eine 300 Meter lange Seidenbahn schenkte, die sich schließlich im Zentrum des Abends wie das unendliche „Goldene Vlies“, wie flüssiges Gold vom Bühnenhimmel herabfloss. Sein schlichter Kommentar: „Wir Theater müssen einander helfen, wenn’s brennt!“
Ein anderer seiner Sätze klingt mir nach, im inneren Ohr, worin er mir fast beiläufig gestand, dass ihm anlässlich schlechter Laune einzig ein Besuch bei meinen Flossis am Bayreuther Bahnhof Remedium, also „Gegengift“ sei.
Aber schon dies scheint mir fast, wie vom imaginären Bildrand her gesprochen. Selbst die größte Bilderflut nämlich vermag jene Lücke nicht zu schließen, die Wolfgang Wagners Tod wie ein Loch in die Ewigkeit gerissen hat, indem er die Grenze zum Tode hin überschritten hat.
Fast schien es auch so, als hätte ich anlässlich einer der Generalproben im Festspielsommer 2007 eine der Grenzen zu seinen Lebzeiten überschritten. Er kam, wie so oft, eine Viertelstunde vor Ende der Aufführung in die eigens nur für ihn und die Musik reservierte Reihe im Parkett und nahm unmittelbar vor meinem Platz seinen Stammsitz ein. Als das Stück zu Ende war, überstieg ich (zum offensichtlichen Entsetzen seiner unmittelbaren Umgebung) die imaginäre Grenzlinie, mitten hinein in seine geschützte Kunstzone. Aber: „Ach – da ist ja meine rosalie!…“ – rief er. „…und jetzt zeige ich Ihnen, wo das neue Parkhaus steht und dann mein neues Büro.“ So überraschend agil und herzlich spontan konnte er bis zuletzt sein: Wolfgang Wagner – der gute Hüter jenes besonderen Hauses, in dem er lange Jahrzehnte waltete, stets im Sinne seine Leitmotivs: „Bemühung um das Beste!“ In diesem Sinne, so viel ist sicher, gab es, bis zuletzt, immer reichlich viel zu tun.
Man muss sich das einmal vorstellen:
Seit der Wiedereröffnung des Festspielhauses auf dem Grünen Hügel zum 75-jährigen Jubiläum seines Bestehens hat der Mit-Begründer und Langzeitintendant dessen, was man seither „Neu-Bayreuth“ nennen sollte, mehr als 1700 Festspielaufführungen erlebt und gestaltet. Ihm war das Werk Richard Wagners ein Vermächtnis für die Ewigkeit, dessen Geist und Idee zugleich stets wieder zeitgenössisch und zeitgemäß an diesem einzigartigen Ort neu interpretiert werden sollte. Die Meilensteine und Modellaufführungen sind bekannt. Darüber, dass ich selbst in den 90-er Jahren beinahe eine ganze Dekade lang am „Ring“-Zyklus kreativ mit „schmieden“ durfte, wurde mir die Werkstatt Bayreuth zur geistig-künstlerischen Heimat. Das, nicht zuletzt, war vor allem Wolfgang Wagners Verdienst.
Bayreuth als Heimat
Was immer in den langen Phasen der künstlerischen Vorbereitungen und Proben, während der Zeiten der Aufführungen auch passierte, er war immer mitten darin, kam – falls es sein musste – zur rechten Zeit dazwischen. Das konnte übrigens auch zuweilen in Augenblicken passieren, wo es uns Künstlern gerade nicht so recht in den Kram passte, weil man dem Prinzipal eine kleine Krise ersparen wollte. Allein er war schlicht allgegenwärtig. Und ich kann es nicht anders sagen: Wolfgang Wagner war als Festspielleiter einfach ein Traum.
Immer ansprechbar – immer und überall präsent –, immer den Dialog suchend. Stets da auftauchend, wo es brannte. Stets versehen mit seinem untrüglichen Gespür für das Wahrhaftige, sogleich mitten im Problem und authentisch, wie es im „Parsifal“ heißt, „am Amt“.
Im Festspielhaus
Immer wieder, wenn ich nach Bayreuth anreiste, ließ er es sich nicht nehmen, mich persönlich mit dem Auto am Bahnhof abzuholen. Um mich, nach getaner Kunstarbeit, mit Proviant und Lektüre versorgt, schließlich abermals zum Zug zu bringen. Um angenehme Rückreise besorgt. Wie der wahre Hüter des Hauses.
Mit meiner kleinen Tochter Mai Rose durfte ich schließlich sogar ins Festspielhaus einziehen. Die Herrengarderobe ließ er für uns umbauen, um dort zu wohnen und am „Ring“ arbeiten zu können. Für das innovative Gesamtkunstwerk.
Das Festspielhaus also auch als ein anderer Ort für Zufälle:
Mit meiner damals vierjährigen Tochter über den Hof gehend war es oft so, dass man ihn traf – Wolfgang Wagner allüberall. Und ganz spontan sagte er: „Komm, Mai Rose – wir gehen ein Eis essen!“ – Oder: „Komm mit, du darfst mit den Hunden von Katharina spielen“ – Sam und Molly…
Und – was bei dieser Gelegenheit ebenfalls nicht vergessen werden darf: Immer fanden wir Künstler Blumen vor, zum Empfang für die kommende Festspielzeit.
Im Festspielhaus wohnend bin ich oft nächtens auf die Bühne hinuntergestiegen – erwartungsvoll in den Schnürboden blickend: Allein, ganz allein: „Richard hilf!“
Bei den Bauproben im eiskalten Winter standen wir tagelang mit Heizstrahlern und Skianzug im unbeheizten Bühnenhaus. Wolfgang Wagner, die ganze Mannschaft und das Team.
Abends dann ein schönes Beisammensein, mit fränkischer Küche. Konzentriert und entspannt. Wobei kreativ sachlich zugleich alle Wagner-, will sagen: Weltfragen besprochen wurden. Im einfach menschlichen Austausch.
Was dazwischen nicht vergessen sein sollte:
Des Öfteren war Wolfgang Wagner sowohl inhaltlich wie ästhetisch ganz anderer Meinung als untereins. Trotzdem konnte man immer völlig frei alle Ideen ins Offene besprechen.
Immer galt: Es gilt hier eben der Kunst…
Was mir diesbezüglich nachhaltig in Erinnerung geblieben ist, als bezeichnendes Beispiel:
Mit Siegfrieds Bär war Wolfgang Wagner ganz und gar nicht einverstanden. Sogleich wurde vehemente Sitzung anberaumt. Am langen Konferenztisch. Der besagte Bärenkopf mitten auf dem Tisch. Ohne musikalische Aura stand er ziemlich allein in der heimatlichen Fremde. Manchmal ist es wirklich schwierig mit solch besonderen Plüschtieren. Ich ging ziemlich geknickt in mein Atelier über der Schreinerei… – plötzlich ein Anruf – Wolfgang Wagner: „Kommen Sie rüber, rosalie, wir trinken einen Schnaps auf den Bären…“
Was folgte, war herzlichstes Lachen. Und ein Versöhnungstrunk.
Was mir, nachdenkend über Wolfgang Wagner, ganz besonders auffällt: Immer und überall begleitete er alle bedeutungsschweren Inhalte mit leichtester Heiterkeit und höherem Humor, was nicht so selbstverständlich ist, angesichts der oft metaphysischen Schwere der Werke.
Dergestalt mochte er vielleicht den geheimeren Geist des alten Meisters zu beschwören, den Wolfgang Wagner bei vielen Gelegenheiten schlicht und einfach seinen „Großvater“ zu nennen pflegte. In diesen Situationen schien so etwas wie ein englisches Lächeln über sein Gesicht zu huschen. Fast so, als hätte der Enkel eine direkte Telefonleitung ins Himmelreich, um dem Großvater durch des Knaben Wunderhorn zu lauschen. Danach hieß es dann, frei nach Paul Klee: „Engel bringt das Gewünschte.“
Was Wolfgang Wagner nämlich stets wichtig war, lässt sich zusammenfassen in seine Forderung: „Höchste Phantasie in der Erfindung und in der Umsetzung“. Seine Reaktion etwa – auf das Waldweben im zweiten Akt des „Siegfried“: „Endlich Farbe im Bühnenmittelgrund…!“ Vor dem „schweigend ermöglichenden Hintergrund…“, wie der Großvater formuliert hatte…
Und wie auch sein – quasi „tönendes Schweigen“ – aus dem Hintergrund plötzlich beredt werden konnte, immer auf die Horizonte der besonderen ästhetischen Potentiale und Möglichkeiten bedacht:
Wenn ich an „Das Rheingold“ denke… die Wassereimer als Lichtgefäße… der Regenbogen als Brücke aus Licht ins Walhall… –
All diese intuitiven Prozesse des Entstehens hat Wolfgang Wagner in ihrer Umsetzung immer mit intensivem Engagement begleitet. Voller Offenheit und kritischer Neugier. Dabei quasi immer auf den Ursprung bedacht. Auf Wirkung aus Ursache. Also Kunst. Auch bei allen internen Widersprüchen, auch Dingen, die ihm persönlich gegen den Strich gingen, die freilich stets nach allen Seiten extensiv diskutiert und hinterfragt wurden.
Wenn ich zum Beispiel an die Rheintöchter denke… in Radlerhosen:
Was ihm 1994 zu sexy erschien…
Oder die Höhle von Mime, die ihm mit den Einkaufswägen allzu wild und fauvistisch war…
Allein, wir Künstler wussten immer:
Da steht jemand tausendprozentig hinter uns, nach innen und nach außen hin – als Künstlern unter Künstlern, mitsamt allen Sorgen des Hausvaters, der die Sorgen des Großvaters über den Fluss tragen muss. Immer wieder mitten auf den immergrünen Hügel.
Was unbedingt noch gesagt werden muss –
Nicht zuletzt:
Diese beispiellose Atmosphäre im Festspielhaus betreffend:
Das künstlerische Experiment, die Annahme der ästhetischen Herausforderung für Innovation von innen her sind ihm zur stets dringlichen Notwendigkeit nach außen hin geworden – im Sinne von Richard Wagners Wort: „Kinder, macht Neues!“
So ist ihm die Devise des Großvaters selbst zum Ziel geworden.
Der Enkel hat Richard Wagners Werk zur Erbschaft unserer Zeit gemacht, somit vergegenwärtigt in jenem Licht, das weiter in die Zukunft weist.
In diesem Sinne fühle ich mich ihm und diesem Ort für immer verbunden.
Nachtrag:
Ich möchte, nunmehr im Zeichen seines Todes, Wolfgang Wagner nachrufend danken: für sein untrügliches Gespür im Sinne einer Kunst der Möglichkeiten hinter all den Wirklichkeiten und die damit zusammenhängende wunderbare Zeit, die wir mit ihm unwiederbringlich erleben konnten.
Bayreuth hat mich in all meinem Denken und Schaffen äußerst nachhaltig geprägt.
Wolfgang Wagner hat es geschafft, alle Künstler, die Werkstätten, die Technik, das ganze Haus, ja das ganze Publikum Jahr für Jahr neu, um sich zu versammeln. Im Geiste Richard Wagners zu einer höheren Gemeinsamkeit zusammenzuschweißen.
Wolfgang Wagner erwartete, wenn die musikalischen Zelte alljährlich zum Grünen Hügel aufgeschlagen wurden, stets neue produktive Herausforderungen und vor allem: für sich und uns und jedermann – ein Fest. Vielleicht hat Wolfgang Wagner das Werk seines Bayreuther Großvaters im Sinne einer „Götterdämmerung“-Stelle für sich bewahrt: „Sei treu“. Genau darin haben sich die Aktualität von Großvater und Enkel zugleich bewahrheitet. Weshalb zuletzt der Gedanke eines anderen Zeitgenossen Richard Wagners hierher gehört: „Damit ein Ereignis Größe habe, muss zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben.“ Friedrich Nietzsches gar nicht unzeitgemäße Betrachtung ist nun wohl auch zu Wolfgang Wagners Vermächtnis geworden.
rosalie
Stuttgart – im März 2010
Im Festspielsommer 2020 wird das Richard-Wagner-Museum eine rosalie-Ausstellung zeigen. Große Vorfreude darf schon jetzt sein!
https://rwv-bamberg.de/2017/06/zur-erinnerung-an-rosalie/
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