Heute vor 150 Jahren war in Bayreuth allerhand los. Bei einer Versammlung der Patronatsvereine präsentierte Friedrich Nietzsche seinen „Mahnruf an die Deutschen“, den die Delegierten als zu scharf formuliert ablehnten.
Nein, in Wahnfried gab’s noch kein Halloween: Gebräuche, die von Iren stammten, hätten bestenfalls insgeheim bei der katholisch geprägten Cosima verfangen, nicht jedoch beim evangelischen Richard, der wiederum insgeheim sich lieber auf seine eigene Kunstreligion kaprizierte. Schau’n wir mal, was am 31. Oktober vor 150 Jahren so los war in Bayreuth und ob auch was zum Gruseln dabei ist.
Als erstes schrieb Wagner frühmorgens noch schnell einen kleinen Brief an Theodor Muncker, den damaligen Bayreuther Bürgermeister und Festspielverwaltungsrat. An diesem Tag sollte in Bayreuth eine Delegierten-Versammlung der Wagnervereine, inklusive des allgemeinen Deutschen Musik-Vereins und des akademischen Wagner-Vereins, stattfinden. (Sowas gibt es übrigens auch heute noch: Von 2. bis 6. November 2023 tagen die im Richard-Wagner-Verband International organisierten Wagnerverbände in Brüssel, von denen derzeit weltweit über 120 gezählt werden). Immerhin existierten anno 1873 bereits die Wagner-Vereine zu Bayreuth, Berlin, Köln, Darmstadt, Dresden, Graz, Hamburg, Leipzig, Mainz, Mannheim, München, Nürnberg, Prag, Regensburg, Weimar und Wien sowie zu Brüssel, London, New-York, Pest und Peterburg. Doch zurück zum Brief:
Theuerster Herr Bürgermeister!
Hier sind Probe-Exemplare eines Manifestes, welches Prof. Nietzsche abgefasst hat, und welches ich zur vorläufigen Kenntnissnahme an die angekommenen oder noch ankommenden Delegierten p.p. ausgetheilt wünschte. Wer kann diess am Besten besorgen? Ueberhaupt, wie erfahre ich am Besten, wer angekommen ist? (Ich habe dabei nämlich auch die Abendtafel im Betreff der Anzahl der Couverte zu beachten.) Ich weiss bis jetzt nur von: Nietzsche, Heckel, Balligand und Hrn. du Moulin. – Leider ist mir die Dienerlosigkeit sehr hinderlich. Verzeihen Sie und bleiben Sie gütig gewogen
Ihrem ergebensten Richard Wagner. Bayreuth 31 Oct. 73
Unsere kleine Versammelung halten wir wohl, statt im Rathause, bei Feustel?
Das Verblüffende an derlei kleinen Briefbotschaften ist doch, was alles drinsteckt. Den Text von besagtem Manifest aus der Feder Nietzsches finden Sie hier. Der Mahnruf zur Unterstützung der Wagner-Festspiele wurde bei der Versammlung verlesen, aber schließlich als zu radikal abgelehnt. Wie Angela Steinsiek in Band 25 der kommentierten Briefgesamtausgabe dazu schreibt, hat der Historiker Robert Davidsohn, der Bruder des Begründers und Herausgebers des Berliner Börsen-Couriers und Mitglied des Berliner Wagner-Vereins, George Davidsohn, zu der Sitzung in seinen „Erinnerungen an Cosima Wagner“ Folgendes festgehalten:
Die Verlesung des, wie es scheint, in recht scharfen Ausdrücken abgefaßten Entwurfes begegnete verlegenen Gesichtern, doch wagte zunächst keiner der Anwesenden Einspruch zu erheben, bis mein Bruder erklärte: sofern Wagner, sofern etwa neben ihm Professor Nietzsche mit einer solchen Klage und Mahnung vor die Nation zu treten beabsichtige, ließe sich nichts dagegen einwenden, er aber fühle sich durchaus nicht berechtigt, in ähnlicher Art zum deutschen Volk zu sprechen und vielleicht hätten auch andere der Anwesenden die gleiche Empfindung.
Cosima Wagner hatte schon beim Eintreffen des Nietzsche-Textes am 28. Oktober die Frage notiert, „wer wird ihn aber unterzeichnen wollen?“ Am 31. Oktober schreibt sie in ihr Tagebuch:
Den sehr schönen „Mahnruf“ mit Pr. Nietzsche durchgegangen – ist es klug, diesen zu erlassen, doch was helfe uns Klugheit? Uns hilft nur Glauben und Wahrheit. Sie behaupten hier (der Dekan u. andre), das Circular R.’s habe entmutigend gewirkt; und ich bin so froh, daß es erlassen sei, es sagt die Wahrheit! – Reformationstag und schlimmes Wetter, „das Glück war nie mit den Hohenstaufen“, bemerkt R., gar wenige sind gekommen, Gott weiß, ob irgendetwas Förderliches zu Stande kommt, allein was tun? … Abends kleines Bankett in der „Sonne“ mit Delegierten und Verwaltungsrat. Die Sitzung hat das Aufgeben des Mahnrufes beschlossen; die Vereine fühlen sich nicht berechtigt zu der kühnen Sprache, und wer außer ihnen würde das unterzeichnen? Die Vorschläge von dem vortrefflichen Heckel werden alle adoptiert. Herr Wesendonck empört förmlich durch gesendete Ratschläge und Forderungen (Kostenvoranschlag etc.), die ein Mißtrauensvotum gegen den Verwaltungsrat enthalten, während dieser Erstaunliches geleistet mit den wenigen Geldern. Heiter läuft der Abend ab.
Friedrich Nietzsche reagierte übrigens konstruktiv auf die Ablehnung seines Textes. Er schlug vor, den anwesenden Dresdener Literaturhistoriker Adolf Stern zu beauftragen, einen weniger provozierenden Aufruf zu erstellen. Dieser blieb allerdings ebenso wirkungslos wie der wenig später mit Subskriptionslisten für Patronatsscheine an viertausend Buch- und Musikalienhändler verschickte Aufruf des Mannheimer Wagner-Vereins (der wiederum von dem „vortrefflichen“ Emil Heckel gegründet und geleitet wurde. Auf den nicht anwesenden, aber „empörenden“ Herrn Wesendonck sei hier gar nicht erst eingegangen.) Als Nietzsche am 2. November wieder aus Bayreuth abreiste, bekam er von Wagner die gerade im Verlag von Ernst Wilhelm Fritzsch erschienenen neun Bände seiner „Gesammelten Schriften und Dichtungen“ mit folgender Widmung geschenkt:
Was ich, mit Noth gesammelt,
neun Bänden eingerammelt,
was darin spricht und stammelt,
was geht, steht oder bammelt, –
Schwert, Stock und Pritzsche,
Kurz, was im Verlag von Fritzsche
schrei’, lärm’ oder quietzsche,
das schenk ich meinem Nietzsche, –
wär’s ihm zu was nütze!
Bayreuth. Allerseelentag 1873
Richard Wagner
Mal sehen, was die Delegiertenversammlung 2023 so bringt …
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